ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hedwig Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie. Die Bezirksregierungen Münster und Minden/Detmold von 1930 bis 1960 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 60), Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn/München etc. 2008, IX + 765 S., geb., 64,00 €.

Obwohl das Wissen über Verwaltung während der NS-Herrschaft vor allem dank zahlreicher Regionalstudien seit den 1990er Jahren deutlich angewachsen ist, gibt es noch weiße Flecken auf diesem Gebiet. Einen davon füllt die seit 2008 vorliegende Dissertation von Hedwig Schrulle nun in zahlreichen Grau- und vor allem Braunschattierungen aus, indem sie systematisch zwei westfälische Bezirksregierungen untersucht. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf den Beitrag, den die Verwaltung dazu leistete, dass sich die NS-Diktatur in der Gesellschaft verhältnismäßig rasch festsetzen und ihre Herrschaft im Grunde bis zum Zusammenbruch praktisch unangefochten behaupten konnte. Es geht der Autorin also um ein tieferes Verständnis des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Damit folgt Hedwig Schrulles Arbeit einem Trend, der die jüngere Regional- und Lokalforschung über den Nationalsozialismus in den letzten Jahren nachdrücklich inspiriert hat. Außerdem rückt sie die bürokratischen Funktionsmechanismen in den Fokus ihrer Analyse, konkretisiert die Systemfrage mithin auch auf ihren engeren Gegenstand hin. Daher richtet sie den Blick auf Handlungsspielräume der Vollzugsinstanzen und auf Einflussfaktoren in den Entscheidungsprozessen. Schließlich gilt das besondere Augenmerk der Autorin den Systemumbrüchen von 1933 und 1945. So analysiert sie den Beitrag, den die Bezirksregierungen unmittelbar nach den politischen Umstürzen dazu leisteten, dass sich die neue Ordnung und das neue Normensystem in der Gesellschaft etablierten.

Der Analyse liegt ein modernes Verständnis von Verwaltung zugrunde. Hedwig Schrulle setzt sich von der oftmals zu starr verwendeten Typologie aus der Herrschaftssoziologie Max Webers ab und betont stattdessen Koordinierungsbedarf sowie Anpassungsleistung der Vollzugsebene. Entsprechend stark macht sie den Begriff der sozialen Praxis und die Interaktion zwischen Verwaltung und Umwelt. Als Theoriefundament dient die Implementationsforschung, aus der die Autorin jedoch keine Kategorien, Modelle oder Methoden für die konkrete Analyse heranzieht.

Die Untersuchungsfelder bieten mehrheitlich Vertrautes, aber auch innovative Zugriffe. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Personalpolitik. Hedwig Schrulle widmet sich dem Korps der Regierungspräsidenten und beschreibt den Wandel, den dessen Zusammensetzung durch das NS-Regime erfuhr. Anschließend analysiert sie mit Hilfe des Polykratie-Begriffs den systematischen Ort der Bezirksregierungen im institutionellen Gefüge des NS-Staats. Die folgenden Kapitel durchleuchten das Verwaltungshandeln der Bezirksregierungen auf drei Handlungsfeldern: der Baupolizei, der Schulaufsicht und der Medizinalverwaltung. Während die technische Baupolizei noch weitgehend unerforscht ist, kann Hedwig Schrulle sich bei der Gesundheits- und Schulpolitik auf ein vergleichsweise breites Korpus an Untersuchungen stützen, wenngleich nicht für die Ebene der Bezirksregierungen. Der zeitliche Bogen dieser Kapitel spannt sich jeweils vom Ende der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Regimes. Darin kommt der eigentliche Fokus der Arbeit zum Ausdruck, denn obwohl sie sich zeitlich über drei Jahrzehnte erstreckt, bilden die zwölf Jahre der NS-Herrschaft ihren Fluchtpunkt. Von daher führt der Titel der Arbeit ein wenig in die Irre; Weimar ist Vorgeschichte, und das Kapitel über Entnazifizierung und demokratischen Neuanfang handelt von der Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Verwaltungseliten in die NS-Diktatur. Von den drei Handlungsfeldern nimmt die Autorin nur einen Strang auf, nämlich die Schulverwaltung, um Brüche und Kontinuitäten im Verwaltungshandeln über den Systemumbruch hinweg zu analysieren.

Insgesamt ist der Aufbau der Arbeit sehr stimmig. Allerdings führt der breite Raum, den die Analyse des Spitzenpersonals der Bezirksregierungen einnimmt, zu einer etwas engeren Perspektive auf Verwaltung als sie die Einleitung entfaltet. Das Verwaltungshandeln geht nämlich über weite Strecken darin auf, was die Regierungspräsidenten tun und lassen; vom Binnenleben der Behörden erfährt der Leser nur wenig. Dadurch kommt durch die Hintertüre mehr Max Weber in das Buch hinein als vermutlich beabsichtigt. Davon ausgenommen ist ein ausgesprochen spannendes Kapitel über die Konkurrenz unterschiedlicher Solidargemeinschaften in den Bezirksregierungen nach dem Krieg (S. 498ff.): Die Gruppe der ehemaligen NS-Beamten stand der Kohorte von Neu- und nicht selten Quereinsteigern gegenüber, die ihren Posten ihrer unbelasteten politischen Vita verdankten. Misstrauen, Gruppeninteressen und persönliche Animositäten führten dazu, dass die Entnazifizierung instrumentalisiert wurde. Mit dieser Tiefenschärfe gewinnen die Ergebnisse des Entnazifizierungskapitels, das im Wesentlichen die Befunde aus der übrigen Verwaltungsgeschichte bestätigt, ganz wesentlich an Plastizität.

In den Quellen spiegelt sich das leichte Übergewicht der Personalpolitik wider. Insgesamt schöpft Hedwig Schrulle aus einer ergiebigen Materialgrundlage, und die Autorin hat es nicht an Fleiß fehlen lassen, wie auch das umfassende Literaturverzeichnis belegt. Sie stützt sich auf die Personalakten der Regierungspräsidenten und -vizepräsidenten, die Sachakten der beiden Bezirksregierungen zu den drei Handlungsfeldern, die bis auf wenige Lücken gut erhalten sind, sie bezieht die Überlieferungen der höheren Verwaltungsebenen und der Reichsministerien ebenso ein wie die Akten des Deutschen Gemeindetags und schließlich diverse Entnazifizierungsbestände. So breit die Quellenbasis der staatlichen Provenienzen ist, so schmal ist die Überlieferung der Parteistellen auf allen Ebenen für den Untersuchungsgegenstand. Von den relevanten Gauleitungen bis hin zu den Zentralämtern der Parteigliederungen haben sich nur unzusammenhängende Reste erhalten. Gerade die Interaktion zwischen Verwaltung und Umwelt kann die Autorin daher nur gefiltert durch die Wahrnehmung der Behörde rekonstruieren. Dies schlägt sich zuweilen im Urteil nieder. So folgt Hedwig Schrulle der Sichtweise der Bezirksregierungen, indem sie sie als Verliererin im polykratischen Kompetenzgerangel beschreibt und konstatiert eine „fortschreitende materielle Aushöhlung der staatlichen Verwaltung durch die wachsende Zahl von Sonderbehörden“ (S. 247, ähnlich S. 517). Diese Analyse ist nicht falsch, doch wenig nuanciert, zumal die Autorin selbst an zahlreichen Beispielen demonstriert, dass auch die Bezirksregierungen durch Zweckbündnisse mit Parteistellen einen wichtigen Platz im fluiden Institutionengefüge des NS-Staats behaupten konnten.

Mit ihren Fragestellungen bedient sich die Autorin vertrauter Werkzeuge, um ein noch verhältnismäßig jungfräuliches Terrain zu beackern. Ihre Ergebnisse bieten dementsprechend großen Neuigkeitswert im Detail, bestätigen zugleich auf den abstrakteren Ebenen ihres Erkenntnisinteresses Einsichten, die zahlreiche andere Arbeiten zur Verwaltungsgeschichte im Nationalsozialismus bereits vorgelegt haben. So konstatiert sie ein enormes institutionelles und personelles Beharrungsvermögen über die Systemwechsel von 1933 und 1945 hinweg; diese Einsicht gehört zu den Topoi der Verwaltungsgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Hinsichtlich des personellen Wechsels bestätigen ihre Befunde grosso modo das, was man über die höheren Beamten in allen Verwaltungszweigen während der NS-Diktatur schon wusste. Das Korps der Regierungspräsidenten wurde zwischen 1933 und 1945 sozial, hinsichtlich der Altersstruktur und der Qualifikation deutlich heterogener, die Spitzenbeamten waren vielfach in NSDAP, SS und andere Parteigliederungen eingebunden. Insgesamt zeichnete sie eine starke Loyalität gegenüber dem Nationalsozialismus aus, die sich jedoch weniger auf die Zentralinstanzen als auf die regionalen Parteiinstanzen, an erster Stelle die Gauleiter, richtete. Die Gruppe der Regierungsvizepräsidenten war hingegen homogener, denn sie wurden als Fachleute, nicht als politische Beamte rekrutiert.

Für die mittlere Verwaltungsebene bestätigt Hedwig Schrulles Arbeit, was in der Lokal- und Regionalforschung breiter Konsens ist: Auch aus den Bezirksregierungen heraus gab es zahlreiche Initiativen, die den Verfolgungsdruck des Regimes erhöhten und nationalsozialistische Zielvorgaben noch vor entsprechenden Gesetzen durch administrative Routinen umsetzten. Ein großes Plus der Analyse besteht im Vergleich, denn Hedwig Schrulle kann an vielen Stellen zeigen, dass die Bezirksregierungen Handlungsspielräume für ganz unterschiedliche Problemlösungen besaßen, bis hin zu konträren Auslegungen von ministeriellen Vorgaben. So verdienstvoll diese Abstraktionen sind, zuweilen übergeneralisiert die Autorin ihre Fallbeispiele und ordnet sie in analytische Kategorien ein, die nicht immer passen. So bezieht sie das Verwaltungshandeln häufig auf den vermeintlichen Grundsatzkonflikt zwischen Partei und Staat und findet ebenso häufig Abwehrkämpfe gegen polykratische Kompetenzanmaßungen.

Trotz der immer wieder aufbrechenden Reibereien zwischen Bezirksregierungen und NS-Institutionen herrschte in der Regel Einigkeit über die zu verfolgenden Ziele. Hedwig Schrulle lässt keinen Zweifel an der grundsätzlichen Systemloyalität der Regierungsbeamten, die sich als „Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung“ (S. 372) verstanden. Sie hebt die Kooperationsbereitschaft zwischen Bezirksregierungen und Parteistellen hervor und spricht von „Synergieeffekten“ (S. 605). Die Konfliktlinien verliefen quer zu dem vermeintlich prägenden Gegensatz von Partei und Staat. Es gab außerdem, wie die Autorin überzeugend darlegt, Gewinner der Polykratie, denn manche Bezirksregierungen konnten ihre Entscheidungskompetenzen sogar ausweiten.

Im Verwaltungsvollzug konstatiert die Autorin einen „sehr variablen Umgang mit gültigen Rechtsnormen“ (S. 229): Mit weitem Auslegungsraum handelten die Beamten, wenn die „Volksgemeinschaft“ zu Lasten individueller Freiheitsrechte durchgesetzt werden sollte; dagegen folgten sie strikt dem Buchstaben des Gesetzes, wenn die Behörde ihre Kompetenzen gegen Einmischungsversuche verteidigte.

Problematisch ist, dass Hedwig Schrulle Verwaltungshandeln mit Motivationen erklärt, die sie aus der sozialen Schichtzugehörigkeit und habituellen Prägung ableitet. So attestiert sie dem Regierungspräsidenten Mindens, Adolf von Oeynhausen, ein „patriarchalisch-etatistisches Staatsverständnis, das seine Wurzeln in seiner preußisch-aristokratischen Herkunft hatte“ (S. 176). An anderer Stelle führt die Autorin die Bereitschaft der Beamten, an der Verfolgung der Juden mitzuarbeiten, auf den „breiten gesellschaftlichen Antisemitismus im bürgerlich-konservativen Lager“ (S. 347) zurück. Diese Argumentation fällt auf unreflektierte und vor allem in den geschilderten Einzelfällen nicht weiter belegte Vorannahmen zurück. Zudem gerät dabei aus dem Blick, dass für Verwaltungshandeln systemimmanente Beweggründe weitaus wichtiger sind als die persönlichen Überzeugungen der Beamten. In diesem Zusammenhang ist die Bewertung von Argumentationen der Beamten als „formaljuristisch“ (S. 412) nicht immer überzeugend - das Wesen der Verwaltung besteht ja gerade in formalisierten Rechtsakten. Oft kann sich hinter dem Verweis auf die Gesetzeslage eine politische Motivation verbergen, dies muss aber nicht zwangsläufig so sein, und es führt zu Zirkelschlüssen, wenn man von vornherein derartigen Argumenten nur taktische Qualität zumisst.

Weil die Autorin den Hintergrund von Konflikten, die Auswirkungen auf die Bezirksregierungen hatten, ziemlich breit schildert, verliert die Arbeit an Stringenz. Passagen, in denen sie Streit auf höheren Verwaltungsebenen ausbreitet, sind häufig eher Ballast als erhellend. Insgesamt ist die Dissertation mit gut 600 Seiten Text und einem Anhang, der dank zahlreicher Kurzbiografien nochmals 150 Seiten umfasst, zu lang. Eine konzisere, fokussiertere Darstellung hätte dem Gegenstand gut getan.

Ein wenig Schatten, doch überwiegend Licht bietet Hedwig Schrulles materialreiche Darstellung. Sie fügt der Verwaltungsgeschichte des NS-Regimes ein neues Mosaiksteinchen hinzu und wird von künftigen Arbeiten zu rezipieren sein.

Bernhard Gotto, München


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