ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik (Pforzheimer Gespräche zur Sozial-, Wirtschafts- und Stadtgeschichte, Bd. 4), Verlag Regionalkultur, Heidelberg/Ubstadt-Weiher etc. 2009, 248 S., brosch., 28,00 €.

Politische Kulturgeschichte hat gegenwärtig Konjunktur, und auch zur Weimarer Republik sind in den letzten Jahren eine Reihe einschlägiger Studien erschienen. Der vorzustellende Sammelband bietet weitere, zum Teil lesenswerte Beiträge, wirkt allerdings konzeptionell etwas beliebig. Einerseits verspricht das knappe Vorwort eine an sich sinnvolle Konzentration auf „den Bereich der Kultur im engeren Sinne, also jenes Spektrum zwischen Hoch- und Massenkultur, das von Oper, Theater und Konzert über Film, Rundfunk und Kabarett bis hin zu Sportveranstaltungen reicht“ (S. 7). Andererseits passt gleich die Hälfte der Beiträge nicht zu dieser bereits recht großzügigen Definition: Sven Reichardts kompetente, aber schon anderweitig publizierte Mikrogeschichte eines Charlottenburger SA-Sturms; Martin Krauß' Untersuchung technokratisch-autoritärer Leitbilder bei den deutschen Ingenieuren, die ebenso bekannt sind wie die von Peter Tauber behandelte Prominenz der Volksgemeinschaftsidee in der Turn- und Sportbewegung; Andreas Pretzels für sich genommen gelungene Analyse der Homosexuellenbewegung, die eine breite Aktivität entfaltete, doch seit Ende der 1920er Jahre zunehmend autoritären Gegenwind erfuhr; und Carsten Kretschmanns Diskussion der politischen Generationsgeschichte, die insofern über den bisherigen Forschungsstand hinaus führt, als sie konstruktivistischer vorgeht und die Selbststilisierung von rechter Front- und Kriegsjugend- zu einer eng verbundenen „Doppelgeneration“ (S. 12) betont.

Lohnend sind einige Beiträge, die genauere Einsichten zum engeren Thema des Bandes liefern. Drei davon konzentrieren sich auf den zeitgenössischen Film: Philipp Stiasny entwickelt eine brillante Interpretation antibolschewistischer Filme der frühen 1920er Jahre, hervorzuheben ist „Die entfesselte Menschheit“ über den Berliner Spartakistenaufstand. Als Vorläufer heutiger Actionstreifen beeinflussten sie indirekt weit bekanntere Filme, etwa von Fritz Lang. Gerade aufgrund dieser vielseitigen Anschlussfähigkeit stand ihre antibolschewistische Wirksamkeit in Frage, weil die Darstellung von Massenszenen potenziell aufwieglerisch erschien. Daher wurden die Filme von der Zensur beschnitten und für Kinder und Jugendliche ganz verboten. Daniel Kulle stellt das Melodrama „§ 173 Blutschande“ vor, das am Beispiel eines nicht blutsverwandten Paares die weite Definition des Straftatbestands „Inzest“ anprangerte, und erläutert daran das kinoreformerisch motivierte, eher zurückhaltende Agieren der Weimar Zensur. Und Kai Nowak zeigt, wie sich die rechtsextremen Proteste gegen die Aufführung von „Im Westen nichts Neues“ in eine ganze Kette von - nicht immer erfolgreichen - Versuchen aus unterschiedlichen politischen Richtungen fügten, die Aufführung bestimmter Filme zu skandalisieren.

Die übrigen Themen an der Grenze zwischen Politik und „Kultur im engeren Sinne“ (S. 7) sind Kultur- und Radiopolitik sowieso das politische Kabarett. Letzteres wird von Hans-Peter Becht in etwas deskriptiver Weise behandelt. Doch bezieht er im Unterschied zu anderen einschlägigen Beiträgen auch Städte außerhalb von Berlin ein und legt dar, dass auch Kabarettvorstellungen mit politischen Bezügen primär Unterhaltungsangebote darstellten. Kristina Kratz-Kessemeier wirft neues Licht auf die preußische Kulturpolitik, die mit viel republikanischem Selbstbewusstsein antrat und ihr humanistisches Bildungsideal durch Ausstellungen sowie durch Kunstwerke im öffentlichen Raum oder in staatlichen Gebäuden vermittelte. Sie scheiterte zwar an der Polarisierung der frühen 1930er Jahre, wirkte aber nach 1945 in Westdeutschland fort. Und Konrad Dussel argumentiert, dass die politische Propaganda durch den Rundfunk selbst während der „Machtergreifung“, im Vorfeld der Wahlen vom 5. März 1933, ihre Grenzen hatte und die Tagespresse sowie bereits bestehende rechtsradikale Überzeugungen als wichtiger angesehen werden müssen.

Ein Gesamtbild ergibt sich aus diesen unterschiedlich angelegten und disparaten Beiträgen nicht. Was jedoch ins Auge sticht und auch aus anderen einschlägigen Forschungen hervorgeht, sind die Schwierigkeiten der politischen Beeinflussung durch Kultur in der hochgradig komplexen und dynamischen Weimarer Gesellschaft. Dass pazifistische Filme dem zeitgenössischen Rechtsextremismus Steilvorlagen lieferten, während von antibolschewistischen Streifen probolschewistische Effekte befürchtet wurden, dass politisches Kabarett primär Unterhaltungsbedürfnisse erfüllte und noch nicht einmal die Regierungskontrolle von Medien und Institutionen Wirkung garantierte, relativiert die Gestaltungsansprüche, die bei den zeitgenössischen kulturellen Eliten verbreitet waren. Diese Ansprüche scheinen in Deutschland besonders hoch gewesen zu sein; zumindest legen dies einige vergleichende Bemerkungen in Klaus von Beymes ansonsten viel Bekanntes enthaltende Skizze des Verhältnisses der künstlerischen Avantgarden zur Politik nahe. Unter anderem aus dieser Spannung zwischen Gestaltungsambitionen und tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten erklärt sich die verbreitete Frustration über den demokratischen und pluralistischen Charakter der Weimarer Gesellschaft, die autoritäre Neigungen bestärkte und maßgeblich zum Ende der Republik beitrug.

Moritz Föllmer, Leeds


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