ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hermann-Peter Eberlein, Bruno Bauer. Vom Marx-Freund zum Antisemiten, Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, 255 S., brosch., 16,80 €.

Bruno Bauer ist keine zentrale Gestalt der deutschen Geistesgeschichte, aber doch eine außergewöhnliche. Er war einer jener Männer, deren Denken die Revolution von 1848/49 ankündigte, die von der Kritik der Bibel zur Kritik der Gesellschaft fortschritten, die grundstürzende Neuinterpretationen der Religion, des Individuums und der Geschichte vorlegten. Bauers Leben spiegelt das Drama der Säkularisierung, das „Sterben Gottes“ und die Emanzipation des Menschen.

1809 geboren in Thüringen, studierte Bauer seit 1829 Theologie an der jungen Berliner Universität. Schon als Student bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Philipp Konrad Marheineke fiel sein Geist auf, 1839 wurde er Privatdozent in Bonn. Bauer betrieb virtuoser als die meisten Bibelexegese im Geiste Hegels, interpretierte die Evangelien als Ausdruck des religiösen Bewusstseins und religiöser Ideen, nicht jedoch als historisch begründet oder verbürgt. Der Jesus der Evangelien wird so zur literarischen Figur - eine unerhörte Sicht, die David Strauß mit seiner Schrift „Das Leben Jesu“ 1835 begründet hatte.

Hatten Bauers Gedanken und Schriften in Berlin schon zu Konflikten mit Orthodoxen und Theologen Schleiermacherscher Prägung geführt, war seine ‚Hegelei‘ in Bonn vollends fremd; das Maß voll machte seine Schrift „Kritik der evangelischen Synoptiker“, die er die Stirn besaß, dem neuen preußischen Kultusminister zu überreichen.

Das Ende von Bauers akademischer Karriere besiegelten politische Veränderungen: der Thronwechsel von 1840, mehr noch der Wechsel an der Spitze des preußischen Kultusministeriums im gleichen Jahr vom liberaleren Minister Karl vom Stein zum Altenstein zum reaktionären Bürokraten Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn, der, dem neuen König Friedrich Wilhelm IV. ergeben, daran ging, die „Drachensaat des Hegelianismus“ von den Universitäten zu tilgen, und den Romantiker Friedrich Wilhelm Joseph Schelling nach Berlin berief, vor allem aber die obrigkeitliche Buckelei von Bauers Bonner Kollegen und ihre negativen Gutachten. 1841 wurde Bauer auf Dauer die Lehrbefugnis entzogen; seine Schrift „Das entdeckte Christentum“, die deutlich atheistische Züge aufwies, wurde 1843 Opfer der Zensur, die gesamte Auflage vernichtet - bis auf wenige Exemplare und Abschriften, die Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurden, so dass eine rekonstruierte Fassung des Buchs 1927 erscheinen konnte. Die Geschichte der Überlieferung ist ein Kriminalfall für sich.

Von theologischer Seite interessiert man sich heute für Bauers Bibelexegese, von politisch-ideengeschichtlicher Warte aus für Bauer als Teil der Entwicklung von Hegel zu Karl Marx. Dem gesteigerten Interesse am Junghegelianismus in den 1970er Jahren folgte, nach zwischenzeitlicher Flaute und nachdem etwas vorzeitig Marx' Tod und Jesu' Auferstehung verkündet worden waren, in den letzten zehn Jahren eine kleine Bauer-Konjunktur mit durchaus internationalen Zügen: Vor allem die Arbeiten von Massimiliano Tomba und Douglas Moggach1 sowie die von Konrad Feilchenfeldt und Lars Lambrecht in einer eigenen Reihe herausgegebenen Bände sind Indizien hierfür. Das Interesse der Forschung gilt gemeinhin Bauers politischem und religiös-historischem Denken im Vormärz; die zweite Lebenshälfte nach der Revolution von 1848/49 findet hingegen kaum Beachtung - kein Wunder, offenbaren sich doch gerade hier die antiemanzipatorischen Abgründe des junghegelianischen Heros.

Der protestantische Theologe Hermann-Peter Eberlein, Jahrgang 1957 und Pfarrer in Wuppertal, hat zu Bauers 200. Geburtstag eine das gesamte Leben Bauers umspannende Biografie vorgelegt, die bereits im Titel verspricht, nun auch den Antisemiten kritisch in den Blick zu nehmen. Bislang stammte der umfangreichste und beeindruckendste Versuch einer Gesamtdeutung von Bauers Leben und Werk von Ernst Barnikol. Barnikol, der ein Leben lang - über 40 Jahre - zu Bauer geforscht hat, verstarb 1968 vor Abschluss seiner Arbeiten; die nachgelassenen Papiere wurden 1972 von Peter Reimer und Hans-Martin Sass ediert.2 Lange schon ist dieser Band vergriffen.

Dass Eberlein philosophische und theologische Expertise mitbringt, ist ein schöner Vorteil, was die Interpretation der anspruchsvollen religionshistorischen Texte und Evangelienkritik Bauers anbelangt. Eberlein, der bislang mit Arbeiten zu Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck hervorgetreten ist, scheint dabei ein Faible für die „entlaufenen Theologen“ des 19. Jahrhunderts zu besitzen.

Chronologisch geht er den Kontinuitäten und Brüchen weniger im Leben Bauers als vielmehr im Werk nach. Da sich kein eigentlicher Nachlass erhalten hat - Splitter lagern in Kopie im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn - bilden die Quellen für das Buch Bauers Schriften. Die Lebensbeschreibung gerät so in erster Linie zu einer Biografie der Werke, was Eberlein auch bewusst ist, er jedoch erst auf Seite 130 bekennt.

Über Kindheit, Jugend und Studium von Bauer weiß Eberlein nichts Neues zu berichten. An die Stelle tritt ein Zeitpanorama (S. 7-23) - was lesenswert ist, denn Eberlein ist auch historisch beschlagen und kann so die Entwicklung von Bauers Denken geistesgeschichtlich einbetten.

Mit fühlbarer, jedoch kritisch gebremster Sympathie für den Protagonisten zeichnet Eberlein die Stationen von Bauers Leben nach und stellt dessen Werke vor. Seine Vorliebe für Nietzsche schlägt dabei an allerlei passenden, aber auch weniger passenden Stellen durch (etwa S. 66, 77, 83, 202, 209, 218, 225f.). Kurzporträts von Arnold Ruge, Georg Herwegh, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Gottfried Kinkel und David Strauß ergänzen das Buch, tragen jedoch, so interessant sie für sich sind, nicht gleichmäßig viel zur Biografie Bauers bei.

Flüssig und unterhaltsam geschrieben, übersichtlich und informativ reizt Eberleins Buch zur weiteren Beschäftigung mit diesem eigenwilligen Denker. Bauer selbst, der 1841 keinen Widerspruch gegen seine Entlassung erhob, sah sich durchaus befreit zu einem Leben als freier Schriftsteller (S. 52ff. und 68ff.), das seiner unduldsamen Intelligenz den nötigen Raum zur Entfaltung bot, das zugleich aber ein entsagungsvolles Intellektuellenleben war, das er unverheiratet und arm fristete. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Landwirt in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln) und als literarischer Söldner. Nach der Revolution von 1848/49, für die er sich nur halbherzig engagiert hatte, verdingte er sich bei zahlreichen Organen vornehmlich konservativer Provenienz, zu denen ihm seine Schrift „Rußland und das Germanenthum“ von 1853 die Tür öffnete. Seine Heimat wurden die sozialkonservative Wochenzeitschrift „Berliner Revue“ und das von Hermann Wagener herausgegebene Staats- und Gesellschaftslexikon (1859-1867), dessen Redakteur er wurde, später waren es Bethel Henry Strousbergs „Post“ und Ernst Schmeitzners „internationale Monatsschrift“.

In den Reihen der preußischen Sozialkonservativen, jenes Flügels der konservativen Partei, der unter Führung von Hermann Wagener Konzepte zur Lösung der Sozialen Frage erarbeitete, hat Bruno Bauer nach Anbruch der „Neuen Ära“ geholfen, dem politischen Antisemitismus als Strategie zum Machterhalt seine moderne ideologische Ausprägung zu verleihen.3 Bauers Judenfeindschaft, von denen seine Religionskritik nie frei war, wie schon die Schrift zur „Judenfrage“ von 1843 deutlich macht, wuchs nach seiner konservativer Wende und Konversion zum „kulturellen Christen“ im ‚Mistbeet‘ der sozialkonservativen Publizistik zu einer giftig blühenden, wuchernden Pflanze. Dies genauer zu beschreiben, unterlässt Eberlein leider, trotz des Untertitels, den sein Buch trägt. Dass Eberlein Edmund Silberners Studie über den Antisemitismus der französischen Linken (Pierre-Joseph Proudhon, Charles Fourier, Pierre Henri Leroux, Alphonse Toussenel und andere) unberücksichtigt lässt, die über die Tradition der antikapitalistischen Judenfeindschaft informiert, sowie Oliver Cnyrims Studie zu Wageners Staats- und Gesellschaftslexikon und den instruktiven Aufsatz von Nikolaus Lobkowicz über Bauers Antisemitismus4, führt ihn zu zahlreichen Fehleinschätzungen (S. 187ff.).

Ist es auch Eberleins Verdienst, im Titel Bauers Antisemitismus endlich gebührend hervorgehoben zu haben, so bleibt er dessen Rezeptionsgeschichte weitgehend schuldig (allein S. 217f. und 224f. bieten hier Neuigkeiten). Bauers Antisemitismus als ein Nebenprodukt seiner „tollgewordenen Logik“ und als Konsequenz eines totalitären Freiheitsbegriffs zu interpretieren, wie es Eberlein unternimmt (S. 217 und 227f.), unterschlägt den Zusammenhang mit den politischen Zielen seiner Auftraggeber. Auf eine umfassende Bauer-Biografie, die auch die zweite Lebenshälfte und vor allem Bauers Wirkung genauer in den Blick nimmt, müssen wir noch warten.

So faszinierend Bruno Bauers Denken und seine intellektuelle Freiheitsliebe sind - blickt man auf Bauers verhängnisvollen Anteil an der Herausbildung des modernen Antisemitismus, so fällt es schwer, nicht in das Urteil Theodor Fontanes einzustimmen, der 1898 in seinen Erinnerungen Bruno und seinem Bruder Edgar hinterher schrieb: „Die Bauers waren sehr klug, aber wenig angenehm und hatten einen wirklichen und ehrlichen Respekt nur vorm ‚Arnheim‘ [Geldschrank] und dann und wann vor Rußland. Es ist ein Segen und großer Kulturfortschritt, daß diese ganze Menschenklasse weg ist.“5

Henning Albrecht, Hamburg

Fußnoten:


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