ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Steven G. Medema, The Hesitant Hand. Taming Self-Interest in the History of Economic Ideas, Princeton University Press, Princeton, NJ/Oxford 2009, XIII + 230 S., geb., 24,95 £.

Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat zunehmende Kritik an den etablierten Wirtschaftswissenschaften und ihren Grundannahmen hervorgebracht. Im Zentrum dieser Kritik steht das Ideal der Effizienz freier Märkte, das auf dem Menschenbild des rationalen Eigennutzmaximierers (homo oeconomicus) aufbaut. Diesem Paradigma folgend wurden seit den 1980er Jahren Märkte liberalisiert, Staatsunternehmen und öffentliche Dienste privatisiert und weite Teile der Sozialpolitik nach individualistischen Anreizmustern gestaltet. Die derzeitige Krise stellt all dies in Frage und lässt zugleich eine Orientierungslücke erkennen. Denn es ist nicht klar, was die Rolle des homo oeconomicus ersetzen könnte.

Steven G. Medema, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Colorado, hat ein Buch veröffentlicht, das einen vielversprechenden Zugang zu diesem Thema eröffnen könnte. Der sinnige Titel - ins Deutsche übersetzt etwa „Die zögerliche Hand. Die Zähmung des Eigeninteresses in der Geschichte ökonomischer Theorien“ - verfolgt einen historischen Zugang zu dem heute (noch) einflussreichsten Konzept ökonomisch handelnder Menschen - dem homo oeconomicus - und damit eine Art Rekonstruktion der gegenwärtigen Wirtschaftswissenschaften, die Hinweise auf Alternativen aufzeigen könnte. Zentraler Gegenstand des Buchs ist das Zusammenspiel von individuellem Eigennutz, Markt und Staat in den Konzepten einflussreicher, vorwiegend angelsächsischer Ökonomen vom 18. bis zum späten 20. Jahrhundert.

Das Buch ist allerdings nicht anlässlich der gegenwärtigen Krise geschrieben worden, sondern greift zurück auf Aufsätze, die Medema (teils auch mit anderen) bereits zwischen 1996 und 2007 veröffentlicht hat. Das muss der Behandlung des Themas nicht abträglich sein, führt in diesem Fall jedoch mitunter zu Redundanzen, zum Beispiel wenn zentrale Theoreme im Abstand von nur wenigen Seiten mehrfach erklärt werden (wie zum Beispiel das Coase-Theorem).

Das Buch beginnt mit Adam Smith (1723-1790), dem (je nach Sichtweise) Erfinder oder Entdecker der „unsichtbaren Hand des Markts“, die dafür sorge, dass aus der ungehinderten Verfolgung individuellen Eigennutzes der Marktteilnehmer der größtmögliche kollektive Nutzen entstehe. Dass Akteure in wirtschaftlichen Angelegenheiten zuallererst eigenen Interessen nachgehen und dass dies dennoch zum Vorteile anderer dienen kann, haben schon andere vor Smith gesehen. Doch dessen Leistung gegenüber seinen antiken und physiokratischen Vorgängern besteht nach Medema darin, dass er die individuellen und die kollektiven beziehungsweise staatlichen Interessen weder notwendigerweise in einem Gegensatz noch automatisch im Gleichklang, sondern in einer möglichen, jedoch schwierigen Synthese zum Vorteil kollektiven Wohlstands sah - wenn nur die richtigen politischen Rahmenbedingungen gesetzt würden: „What Smith was after was the appropriate set of policies that, working in tandem with the self-interest that he believed governed behavior in the economic realm, would facilitate the growth of national wealth“ (S. 25).

Medema beschreibt, wie der Utilitarismus des 19. Jahrhunderts daraus eine Richtschnur politischen Handelns zu entwickeln suchte, nach der Politik danach zu beurteilen sei, inwiefern sie zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl beitrage. Mit dem utilitaristischen Maßstab ließen sich allerdings Staatseingriffe und Deregulierungen gleichermaßen rechtfertigen. Die Oberhand gewann jedoch zunächst (zumindest in England) eine immer tiefere Skepsis gegenüber dem Staat.

Diese Spur verfolgt Medema weiter am Werk John Stuart Mills (1806-1873), der zum einen erstmals eine systematische Theorie von „Externalitäten“ (unintendierte Nebenfolgen ökonomischen Handelns mit Folgen für andere, die jedoch nicht in der eigenen Bilanz erscheinen) vorgelegt und zum anderen als Erster klar ausgesprochen habe, dass Individuen durchaus nicht immer in der Lage seien, ihre eigenen Interessen angemessen zu beurteilen. Dennoch oder womöglich gerade deshalb blieb Mill skeptisch, dass staatliches Handeln dem entgegenwirken könne. Denn auch Staatsdiener sind Individuen, die ihr mehr oder weniger wohlverstandenes Eigeninteresse verfolgen. Von da aus führt die Spur weiter zu Henry Sidgwick (1838-1900), der glaubte, dass die wohlstandsdienlichen Kräfte egoistischen Eigeninteresses gegenüber politischen Interventionen alternativlos seien - obwohl auch er sah, dass der Egoismus nicht automatisch dem allgemeinen Interesse diene, und zwar aus zwei Gründen: 1. Gegenwärtig Lebende haben Schwierigkeiten, die Kosten einzukalkulieren, die künftige Generationen treffen - ein Gedanke, der auch heutzutage hochaktuell ist; 2. Die Anreize, kurzfristige und illegitime Vorteile in Anspruch zu nehmen, sind aus Sicht der Einzelnen enorm groß (,,Trittbrettfahrer-Syndrom“). Der wesentliche Fortschritt Sidgwicks besteht Medema zufolge jedoch darin, dass er das Reziprozitätsverhältnis externer Effekte als erster klar auf den Punkt gebracht habe: „preventing harm to one party restricts the freedom of another party“ (S. 47). Ein Gedanke übrigens, den beinahe 100 Jahre zuvor schon der Philosoph Immanuel Kant in vorbildlicher Klarheit niedergelegt hatte, was Medema jedoch nicht erwähnt. Insgesamt gelang Sidgwick eine gewisse Korrektur der wirtschaftswissenschaftlichen Staatsskepsis: Wenn Regierungen dafür sorgen würden, dass alle Marktinformationen zur Verfügung stehen, könnten die Akteure selber abwägen, ob sie sich bestimmten Risiken aussetzen möchten oder nicht. Regierungsamtliche Verbote hingegen beurteilte Sidgwick, wie seine Vorgänger, äußerst skeptisch.

Weitere entscheidende Weichenstellungen für die Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts schreibt Medema Alfred Marshall (1842-1942) und Arthur Cecil Pigou (1877-1959) zu. Beide stellten den klassischen Wohlstandsindikator in Form des Bruttoinlandsprodukts infrage. Pigou, mehr noch als sein Lehrer Marshall, widmete sich auch Verteilungsfragen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Verteilung der Resultate wirtschaftlicher Produktion, sondern auch hinsichtlich ihrer Entstehung. Die Rolle des Staats bekam damit eine weitere Nuance. So gibt es nach Pigou nicht nur Allokationsfehler (mangelhaft eingesetzte Ressourcen), sondern auch Verteilungs- und Stabilitätsversagen des Markts - prima facie-Anlässe für staatliche Eingriffe und ein Schritt in Richtung wissenschaftlicher Fundierung, nämlich der Versuch, Marktversagen messbar zu machen.

Nach einem Exkurs in die italienische Tradition der scienza delle finanze, die öffentliche Ausgaben aus dem Blickwinkel des homo oeconomicus betrachtete (Staatsdiener und Steuerzahler als homines oeconomicae), kommt Medema zu Ronald Coase (geboren 1910) und seinem Artikel über „The Problem of Social Cost“ (1960), den er für den zentralen Wendepunkt des ökonomischen Denkens über die Rolle des Eigeninteresses hält. Coase hat das von Sidgwick bereits angerissene Reziprozitätsproblem verfeinert und auf andere Wissenschaftsgebiete ausgeweitet, insbesondere auf die Rechtswissenschaften. Der Fokus von Coase ist zunächst „klassisch“ und blind gegenüber Verteilungsfragen. Eigentums- und Verwertungsrechte sowie entsprechende Verantwortlichkeiten sind danach grundsätzlich verhandelbar und haben einen jeweils quasi natürlichen Preis. Faktisch spielen aber „Transaktionskosten“ eine große Rolle: Die Verfügbarkeit von Informationen ist zu berücksichtigen und die hat auch ihren Preis; dies ist in der Tat ein bis heute prägender Ansatz, wenngleich die vorherrschende Wirtschaftspolitik in entwickelteren Gesellschaften oft noch von (kostenlos) vollständig informierten Individuen ausgeht. Doch der Ansatz von Coase hatte weitere Folgen, nämlich als Beitrag zur Etablierung der Public-Choice-Analyse, die in Ansätzen bereits in den 1940er Jahren vorlag - Politikanalyse mit ökonomischen Methoden und nach dem Modell eigeninteressierter Individuen, wonach politische Entscheidungen gemäß ihrer wirtschaftlichen Effizienz beurteilt wurden. Diese Karriere war von Coase - Medema zufolge - allerdings nicht beabsichtigt, ihre Folgen sind jedoch in allen heutigen politischen Debatten greifbar.

Das Coase-Theorem und die Public-Choice-Analyse trafen auf den Zeitgeist der 1960er und 1970er Jahre, der von einer Planbarkeits- und Optimierungseuphorie geprägt war. Aufstrebende und wirtschaftlich entwickeltere Gesellschaften hatten sich nach dem katastrophalen Zweiten Weltkrieg immer mehr zu „Erhaltungstypen“ (Max Weber) ihres jeweiligen politischen Regimes entwickelt. Das Interesse und die Berufschancen ihrer Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wandelten sich entsprechend - fundamentale soziale Veränderungen interessierten diese weniger beziehungsweise konnten weder Lohn noch Brot sichern. Vielmehr standen Effizienz- und Optimierungsfragen im Rahmen des Bestehenden im Fokus, vorrangig mit Blick auf die Systemkonkurrenz zwischen „Ost“ und „West“.

Hier liegt auch das Defizit des Buchs von Medema - es ist durchaus lesenswert, wenn man sich für wirtschaftswissenschaftliche Ideengeschichtsschreibung an sich interessiert; aber es zeigt die gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht auf, weder hinsichtlich ihres Entstehungs- noch angesichts ihres Wirkungszusammenhangs. Allein Rezeptionszusammenhänge werden behandelt. Das Fazit lautet daher: Dass das Eigeninteresse in der Geschichte ökonomischer Ideen behandelt wird, ist wörtlich zu nehmen. Erkenntnisreicher wäre es gewesen, die Ideengeschichtsschreibung systematisch in die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen einzubetten, um etwas über ihre Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge zu erfahren. Daraus allein ergibt sich zwar noch keine alternative Orientierung für die Wirtschaftswissenschaften, aber immerhin ein vollständigeres Bild der Geschichte ihrer Gegenwart.

Michael Fischer, Bonn


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