ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Margrit Pernau, Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert (Bürgertum Neue Folge, Bd. 5), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, XI + 404 S., geb., 49,90 €.

Dass es das Bürgertum nach Jahrzehnten deutscher Sozialgeschichte auch woanders gegeben haben könnte als nur in Deutschland und Westeuropa, mag man zunächst kaum glauben, zu sehr dominierte doch in der Forschung die Vorstellung, bürgerliche Lebenswelten und mithin die Moderne seien allein westliche Phänomene. Die außereuropäische Welt wurde von der Bürgertumsforschung fast gänzlich übergangen. Aber dank dieser bahnbrechenden Studie von Margrit Pernau wird es zukünftig möglich sein, den Bürgertumsbegriff viel flexibler zu verstehen und vor allem die Entwicklung differenzierter Gesellschaften im 19. Jahrhundert auch außerhalb Europas zu erkennen. Dafür gibt Margrit Pernau methodisch eine ausgezeichnete Anleitung. Die intime Kennerin der indischen Geschichte geht mit ihrem Thema sehr behutsam um, so dass es ihr gelingt, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den westlichen und indischen Gesellschaften herauszuarbeiten, ohne dass die eine der anderen überlegen oder als Vorbild erscheinen könnte. Vielmehr zeigt sich eine der vielen Stärken dieses Buchs in der vorsichtigen Ausbalancierung der für das muslimische Bürgertum in Delhi wichtigen Aspekte ihrer Lebenswelten, seien diese politischer, kultureller, religiöser oder wirtschaftlicher Natur.

Ganz vorzüglich gelingt es Margrit Pernau, das Selbstverständnis der Muslime in Indien im Spiegel ihres wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu porträtieren. Sie erfasst die Muslime als eine im Entstehen begriffene Klasse aus Wirtschaftsbürgern einerseits und Bildungsbürgern andererseits. Ein Katalysator dieses Prozesses ökonomischer und geistiger Emanzipation war der Indische Aufstand von 1857/58, auch „Great Mutiny“ genannt. Dieses Großereignis der neueren indischen Geschichte, wie ein Erinnerungsort von unschätzbarer Bedeutung für das Britische Empire, weil es dessen Herrschaft zumindest auf dem indischen Subkontinent vorübergehend nachdrücklich bedrohte, ist bis in die Gegenwart ein zentrales Thema für wissenschaftliche sowie öffentliche Debatten geblieben. Margrit Pernau integriert es geschickt in ihre Schilderung, wägt ab, ob es sich um Meuterei, Restauration oder Revolution gehandelt habe, und schenkt Delhi besondere Aufmerksamkeit. Denn hier bündelten sich die Kämpfe bis zu ihrer beispiellos brutalen Niederschlagung durch die Briten. Selbst der Kriegsberichterstatter William Howard Russell, der auf den Schlachtfeldern des Empires zu Hause war und mit seinem „My Indian Mutiny Diary“ (neu herausgegeben 1957) zum Bestsellerautor avancierte, musste zugeben, Zeuge einer plündernden Soldateska geworden zu sein, die für Großbritannien viel Schande brachte.

In den folgenden Kapiteln widmet Margrit Pernau sich einzelnen sozialen Gruppen wie Adel und Bürgertum, religiösen Identitäten, der Frage von Bildung und Verwaltung, der Rolle der Frau in Literatur und Religion sowie der Politisierung der Gemeinschaften im Spannungsfeld von Kommunalismus und Nationalismus. Sie fragt nach den für das europäische Bürgertum so wichtigen Berufsgruppen wie zum Beispiel Ärzten, Anwälten, Verlegern, Kaufleuten, Händlern und Journalisten und ob diese Gruppen eine ihnen gemeinsame Identität, etwa eine „Bürgerlichkeit“ entwickelt haben. Das gemeinschaftsbildende religiöse Milieu polarisierte wie es integrierte und schuf eine konfessionelle Pluralität, wie sie auch für Deutschland im 19. Jahrhundert festgestellt worden ist. Diese geniale Fragestellung wird wegen ihrer Problematik, dass ihr eine europäische, genauer: deutsche Perspektive zugrunde liegt, geöffnet, indem Margrit Pernau den Bürgerbegriff von verschiedenen, das heißt europäischen und indischen Seiten beleuchten kann. Ihren Quellenkenntnissen in Urdu und Persisch und ihren Detailstudien in den Archiven von Delhi, Chandigarh und London ist es zu verdanken, dass Margrit Pernau wichtige Erkenntnisse nicht nur für die indische Historiografie, sondern ebenso für die europäische Forschung gewinnt. Bei dem Buch handelt es sich um ein Meisterwerk des transkulturellen Vergleichs.

Benedikt Stuchtey, London


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