ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Richard Hölzl, Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760-1860 (Campus Historische Studien, Bd. 51), Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2010, 551 S., brosch., 49,90 €.

Am Ende des 18. Jahrhunderts drohte der mitteleuropäische Wald und damit das Reservoir des wichtigsten Rohstoffs der vorindustriellen Zeit - des Holzes - zu verschwinden. Ursache dafür war vor allem eine jahrhundertelange planlose Wald(aus)nutzung und der Unverstand einer wachsenden Bevölkerung, die immer mehr Holz und andere Waldressourcen für ihre Subsistenz benötigte. Aufgrund dessen warnten zahlreiche Zeitgenossen zunehmend vor einer ‚Holznot‘ und forderten die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Bewirtschaftung der Wälder. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, dessen Begriff bereits 1713 im Zusammenhang mit der Waldwirtschaft geprägt worden war und das besagte, dass nur so viel Holz genutzt werden könne, wie im gleichen Zeitraum nachwachse, sollte flächendeckend im Zuge einer rationalisierten Forstwirtschaft umgesetzt werden. Forstwissenschaftler und akademisch ausgebildete Förster erfüllten diesen Auftrag im Laufe des 19. Jahrhunderts und konnten damit die Wälder Mitteleuropas retten sowie ökologische, ökonomische und soziale Krisen verhindern.

Dies ist verkürzt die Erzählung, die sich bis heute in zahlreichen Darstellungen zur Geschichte der Forstwirtschaft und Forstwissenschaft in Mitteleuropa findet und für viele Förster ein unhinterfragbarer Teil ihrer Berufsidentität ist. Richard Hölzl hat es sich in seiner 2008 an der Universität Göttingen angenommenen Dissertation zur Aufgabe gemacht, diese Geschichte zu überprüfen. Er will die „Forstreform“, wie er die Durchsetzung der wissenschaftsbasierten Forstwirtschaft nennt, „in ihrer Entstehung, ihrer Umsetzung und ihrem historischen Wandel“ untersuchen und dabei insbesondere die „sinnstiftenden kulturellen Muster“ und „gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse“ herausarbeiten, die die „umfassende, ökologische Reform“ umgaben (S. 16). Dabei orientiert er sich an drei Leitfragen: Unter „welchen Bedingungen, in welchen Kontexten und mithilfe welcher Praktiken“ entstand das Modell des „modernen Waldes“? Welche Konflikte und Reaktionen traten auf, „als dieses Modell in den Wald übersetzt“ wurde und „materielle Gestalt“ annahm? Inwiefern wirkten die alltäglichen Konflikte rund um die Forstreform „auf den wissenschaftlichen und öffentlichen Reformdiskurs“ zurück (S. 26f.)? Mit der Beantwortung dieser Fragen beabsichtigt Hölzl eine „Neuinterpretation eines langfristigen und über Deutschland hinaus wirksamen Reformprozesses in der Mensch-Natur-Beziehung“ und will die Umweltgeschichte um kulturhistorische Dimensionen erweitern (S. 28, 35f.). Als Untersuchungsraum dient ihm das Kurfürstentum beziehungsweise das Königreich Bayern.

Entsprechend den drei Leitfragen ist das Buch in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil befasst sich Hölzl mit der Entstehung der „ökologischen Erzählung“ von der Zerstörung der Wälder, der aufgrund dessen drohenden Holznot und der anschließenden Lösung dieser Probleme durch die wissenschaftsbasierte Forstwirtschaft. Überzeugend argumentiert Hölzl, dass dieses Narrativ gerade in jener Zeit entstehen und in der Gesellschaft Resonanz finden konnte, weil es in aufklärerische Rationalisierungs- und Verwissenschaftlichungsdiskurse des 18. Jahrhunderts eingebettet war. Deren Vertreter konnotierten Altes oft negativ, grenzten sich als bürgerliche Reformer gegenüber den vorherrschenden Praktiken der Landnutzung ab und sahen die Zukunft als planerisch gestaltbar an. In diesem Umfeld war das Nachhaltigkeitsprinzip, das Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft verband, bestens anschlussfähig. Zusätzliche Glaubwürdigkeit erhielt die Programmatik der Forstreform dadurch, dass sie einen unmittelbaren Praxisbezug herstellte und in erster Linie von ökonomischen Gesellschaften, Universitätsprofessoren und Privatgelehrten - kurz: der gesellschaftlichen Elite - propagiert wurde. Die Adaption der Forstreform durch staatliche Behörden wurde zudem durch die in jener Zeit stärker werdende Tendenz hin zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Verwaltung befördert - was nebenbei wiederum hervorragende Karrierechancen für akademisch gebildete Förster eröffnete.

Der zweite und mit rund 250 Seiten mehr als die Hälfte des Textes einnehmende (Haupt-)Teil des Buchs ist den Folgen der Forstreform für die ländliche Bevölkerung nach 1800 sowie deren Reaktionen darauf gewidmet. Hölzl wechselt dafür die Perspektive und betrachtet nun keine bürgerlichen Diskurse mehr, die sich in Zeitschriften und Büchern niederschlugen, sondern in erster Linie Forstfrevellisten, Gerichtsprotokolle und Behördenberichte. Anhand von zwei Lokaluntersuchungen im Bayerischen Wald und im seit 1814 zu Bayern gehörenden Spessart macht er die zahlreichen größeren und kleineren Konflikte sichtbar, die im Zuge der Forstreform auf lokaler und regionaler Ebene aufbrachen.

Vordergründig ging es dabei vor allem um die Ablösung geschriebener und ungeschriebener (Gewohnheits-)Rechte, die den Zugang zum Wald und dessen vielfältige Nutzung auf lokaler Ebene regelten. Die Forstreform sah die Schaffung eines ausschließlichen Waldeigentums vor, den Primat der Holzproduktion im Hochwaldbetrieb sowie die Einführung der sogenannten Schlag- und Altersklassenwirtschaft samt Kahlhieben. All dies widersprach den zum Teil jahrhundertealten Gewohnheiten der vorindustriellen Waldnutzung, ohne die die Landwirtschaft damals nicht möglich war. Die ländliche Bevölkerung, die auf diese Art aus einem ihrer angestammten Wirtschaftsräume faktisch ausgesperrt werden sollte, entwickelte zahlreiche Widerstandspraktiken, um sich gegen ihre, wie sie es empfanden, „sukzessive Entrechtung“ (S. 492) zur Wehr zu setzen. Das Bestehen auf tatsächlichen oder behaupteten alten Rechten, das demonstrative Nichtbeachten neuer Grenzen und Eigentumsverhältnisse sowie vor allem das nunmehr vielerorts illegale Weiden von Vieh und das ebenso ungesetzliche Sammeln und Schlagen von Holz in staatlichen Wäldern führten dazu, dass die Forstreformer ihr ursprüngliches Programm nicht wie geplant durchsetzen konnten. Vielmehr entstanden Kompromisse, in deren Rahmen die wissenschaftlich fundierte Forstwirtschaft Zugeständnisse an Wirtschaftspraktiken machen musste, die auf lokalen Wissensbeständen und Gewohnheiten basierten.

Bei diesen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ging es aber, wie Hölzl überzeugend ausführt, um mehr als nur um die Sicherung des Zugangs zum Wald und der Rechte zu dessen Nutzung. Die Zeitgenossen waren immer auch in die Neuaushandlung ihrer jeweiligen Stellung im sozialen Gefüge einer sich fundamental wandelnden Gesellschaft eingebunden. Bürgerliche Forstreformer, die über vermeintlich rationales wissenschaftliches Wissen verfügten, standen beispielsweise gegen Dorfbewohner, die sich auf Alltagswissen und Gewohnheiten stützten. Bauern mussten sich mit den Ansprüchen der Angehörigen unterbäuerlicher Schichten auseinandersetzen, und die aus Untertanen zu Staatsbürgern werdende Bevölkerung war zunehmend mit Beamten des entstehenden modernen Verwaltungsstaats konfrontiert. Alle Akteure verfolgten eigene Interessen und mussten sich letztlich auf Kompromisse für eine neue gesellschaftliche Ordnung einigen.

Im dritten Teil seines Buchs geht Hölzl auf die Thematisierung der Forstreform sowie der aus ihr entstehenden Probleme in der Belletristik und der populär- und fachwissenschaftlichen Literatur nach 1800 ein. Er arbeitet Veränderungen in der Legimitation nachhaltiger Forstwirtschaft ebenso heraus wie deren sich wandelnde Ziele. Insbesondere die seit der Wende zum 19. Jahrhundert zunehmende Bedeutung der finanziellen Rentabilität der Forstwirtschaft - im Gegensatz zur zuvor ausschlaggebenden Bedarfssicherung - sowie die Betonung der Schutz- und Erholungsfunktionen des Waldes sind hierbei hervorzuheben.

Zu bemängeln bleibt dreierlei: Erstens erscheinen die drei Teile des Buchs manchmal als zu wenig miteinander verbunden. Insbesondere der zweite Teil erscheint durch die explizite Auseinandersetzung mit Michel Foucaults „Disziplinargesellschaft“ und der Konzentration auf Gerichtsakten und Frevellisten als eigenständige Untersuchung über deviantes Verhalten der ländlichen Bevölkerung im 19. Jahrhundert, die allein durch den wiederholten Hinweis auf das eigentliche Thema der Studie angepasst worden ist, nämlich dass es sich dabei um Reaktionen auf die Forstreform handelte. Mit einer stärkeren Berücksichtigung der praktischen Arbeit der Förster vor Ort und deren Auseinandersetzung mit der Dorfbevölkerung wäre der Zusammenhang wohl deutlicher geworden. Zudem hätte eine Straffung dieses Textes, der teilweise sehr ausführlich Quelleninhalte referiert, dem Lesefluss gutgetan.

Zweitens wird die angekündigte Einbeziehung des Faktors „Natur“ in die Interpretation von Konflikten nicht deutlich genug, mit der die Nutzung des Begriffs „ökologische Erzählung“ maßgeblich legitimiert wird (S. 44). Obwohl die Folgen der Forstreform für die Wälder - etwa die Anlage von Monokulturen oder die Verdrängung von Mittel- durch Hochwälder - immer wieder angesprochen oder zwischen den Zeilen erwähnt werden, hätte der Rezensent eine stärkere Berücksichtigung naturwissenschaftlich-ökologischer Literatur erwartet. Auch hier wäre die Betrachtung der alltäglichen Arbeit der Förster vor Ort hilfreich gewesen, um beispielsweise die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, die Wälder den wissenschaftlichen Vorstellungen entsprechend zu reformieren. Es erscheint demnach fraglich, ob der heuristische Wert des Begriffs „ökologische Erzählung“ sehr hoch ist.

Drittens schließlich bleibt die Wahl des Untersuchungszeitraums etwas unklar. Hölzl begründet sie damit, dass die Jahre zwischen 1760 und 1860 sowohl „die Entwicklung des Modells eines ‚modernen Waldes‘ als auch seine Implementierungsphase“ erfassen (S. 31). Der Beginn des Untersuchungszeitraums leuchtet aufgrund der um die Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend dichter werdenden Publikationstätigkeit zum Thema ein. Das Jahr 1860 hingegen scheint recht willkürlich gewählt worden zu sein, zumal Hölzl im dritten Teil des Buchs weit darüber hinausgeht. Sein Hauptkriterium ist ein um 1860 festzustellendes Nachlassen der Konflikte um die Forstreform in Bayern. Doch anhand seiner eigenen Untersuchungen wird dies nicht deutlich. Die Zahl der Forstfrevel etwa, deren Entwicklung gewissermaßen als ein Gradmesser der Durchsetzung der Forstreform dient, ging in den untersuchten Gemeinden nach einem Höhepunkt in den 1830er und 1840er Jahren signifikant zurück und stabilisierte sich bis Ende der 1880er Jahre trotz weiterhin sinkender Tendenz auf niedrigem Niveau (S. 539). Eine Zäsur um 1860 jedenfalls lässt sich daraus nicht ablesen.

Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass Hölzls Buch nicht nur eine hervorragende Geschichte des fundamentalen Wandels in der Waldnutzung an der Schwelle zum industriellen Zeitalter sowie ein empfehlenswerter Beitrag zur Geschichte des Nachhaltigkeitsprinzips ist, sondern darüber hinaus durch die kenntnisreiche Verknüpfung von umwelt-, kultur- und wissenschaftshistorischen Ansätzen einen informativen Einblick in die (Forst-)Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Koselleckschen „Sattelzeit“ bietet.

Martin Bemmann, Freiburg


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