ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sabine Mecking/Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebiets- und Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 62), Schöningh Verlag, Paderborn 2009, 323 S., geb., 44,00 €.

Auf den ersten Blick gibt es für die meisten Historiker vermutlich kein trockeneres Thema als kommunale Gebiets- und Funktionalreformen. Im Vergleich zu den technischen Großprojekten wie Atomkraftwerke oder Flughafenerweiterungen, an denen sich in den 1970er und 1980er Jahren die nun schon oftmals historisch thematisierten Massenproteste im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen entzündeten, mögen die kommunalen Gebietsreformen und die Bürgerinitiativen, die sich gegen sie formierten, unspektakulär erscheinen. Tatsächlich jedoch markierten die kommunalen Gebietsreformen der Jahre zwischen 1965 und 1978 eine der spektakulärsten räumlichen Umwälzungen in der Geschichte der Bundesrepublik, als sich die Zahl der selbstständigen Gemeinden von rund 24.000 auf nur noch ein Drittel davon verringerte. Der Sammelband vereint die Ergebnisse zahlreicher Qualifikationsschriften, die in einem zeithistorischen Forschungsverbund entstanden sind, und einer Tagung, die historische und aktuelle Perspektiven miteinander vereinen sollte.

Die Herausgeber des Bands standen vor einer mehrfachen Herausforderung. Erstens versuchen sie, ein bislang vor allem aus verwaltungs- und rechtshistorischer Sicht behandeltes Thema gegenüber genuin zeitgeschichtlichen Fragestellungen zu öffnen. Den breiteren Kontext bildet die sogenannte Planungseuphorie in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre. Mit den Gebiets- und Kommunalreformen richtet der Sammelband den Fokus auf eine lokale und regionale Ebene und betrachtet nicht allein die Konzeption, sondern die Umsetzung von Planungen, zeichnet politische Entscheidungsprozesse nach und befasst sich mit den Haltungen der lokalen Eliten sowie Reaktionen und Protesten der Bevölkerung vor Ort. Zweitens manifestiert sich in dem Sammelband der Versuch, historische und nicht-historische Studien in einem gemeinsamem Rahmen zu integrieren. Dass sie mit dem Erfolg des interdisziplinären Brückenschlags nicht ganz zufrieden waren, deuten die Herausgeber selbst vorsichtig an (S. 25).

Der Band ist in zwei Teile gegliedert, einen historischen und einen aktuellen, die nur lose miteinander verklammert sind. Der historische Teil nimmt weitaus mehr Raum ein als der aktuelle. Diese Akzentsetzung wird bereits in der Einleitung deutlich, in der Sabine Mecking und Janbernd Oebbecke einen ausführlichen Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte der kommunalen Neugliederungen geben und die Ergebnisse der historischen Einzelfallstudien des Projektverbunds pointiert zusammenfassen. Darüber hinaus ist der zweite Teil vollständig aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive geschrieben und schließt somit nur punktuell an Aspekte an, die viele der historischen Beiträge behandeln, wie Formen der Partizipation, Haltungen in der Bevölkerung oder lokale Widerstände. Hätten die Herausgeber die Beiträge von Maximilian Wallerath und Hans-Günter Henneke statt in den zweiten in den ersten Teil gestellt, wäre vermutlich nicht nur deren Verzahnung besser gelungen. Außerdem hätte es die Lektüre der historischen Fallstudien erleichtert, denn erst im Aufsatz von Wallerath wird klar, worin der Unterschied zwischen „Gebiets-“ und „Funktionalreformen“ besteht und welcher Sinn und Zweck ihnen im Allgemeinen zugeschrieben wird. Zudem erklärt erst Walleraths Beitrag (ebenso wie der gut und verständlich geschriebene Überblick von Henneke über die Gebiets- und Verwaltungsreformen in den Bundesländern in den 2000er Jahren), was überhaupt die Aufgaben von Gemeinden und Kreisen sind und welche Rolle letztere im Verhältnis von kommunaler und staatlicher Verwaltung spielen.

Nach der Einleitung beginnt der historische Teil mit zwei Aufsätzen, die den zeitgeschichtlichen Rahmen abstecken. Michael Ruck befasst sich mit der Enttabuisierung und Etablierung politischer Planung in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre. Dabei konzentriert er sich besonders auf die Wirtschaftspolitik (konzertierte Aktion, Stabilitätsgesetz, Globalsteuerung) und betont daneben die Planungskonjunktur in der Sozial- und Bildungspolitik. Der Bezug zu den kommunalen Gebietsreformen bleibt recht vage, denn die hierfür interessanteren Initiativen zur Verwaltungsreform, zur Neugliederung des Bundesgebiets sowie zur Raumordnung und Landesplanung bleiben unerwähnt. Im zweiten kontextualisierenden Aufsatz betrachtet Habbo Knoch die Veränderung bürgerschaftlichen Engagements und der politischen Kultur im Übergang in die 1970er Jahre. Die Jahre zwischen 1967 und 1973 gelten ihm als „Scharnierphase einer Formveränderung politischer Partizipation“ (S. 52), die auch auf der lokalen, kommunalen Ebene durch eine Politisierung der privaten Lebenswelt, neue Partizipations- und Aktionsformen, neue Formen der Subjektivität (der Körper, das Selbst, „Betroffenheit“) und eine kritischere Distanz zu staatlichen Strukturen gekennzeichnet war.

Der Beitrag von Sabine Mecking über die Gebietsreformen in Nordrhein-Westfalen schließt hieran sehr gut an. Sie betrachtet die Aushandlungsprozesse zwischen Staat und Bürger, die Reaktionen auf eine Reform ‚von oben‘ und die Organisation der Reformkritiker. Bis auf die landesweit agierende „Aktion Bürgerwille“, so Meckings Ergebnis, blieben alle Initiativen lokal begrenzt und formierten sich nur dort, wo die Existenz der eigenen Gemeinde bedroht war. Die Haltung von Landes- und Bundespolitikern gegenüber den Bürgerinitiativen charakterisiert Mecking als ausgesprochen ambivalent. Einerseits begrüßten Politiker aller Couleur gebetsmühlenartig das bürgerschaftliche Engagement als „Stärkung der Demokratie“. Andererseits jedoch äußerten sie vielfach Ressentiments gegenüber einem „Berufsprotestlertum“ und sahen die Kompetenz „objektiver“ und „rationaler“ Sachverständigengremien und Amtsträger durch „subjektive“ und „emotionale“ Betroffene in Frage gestellt. Für den Bundesvorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, beispielsweise musste der „kritische“ Bürger zugleich „loyaler“ Bürger sein (so Kohl 1977, S. 82).

Neben Meckings Beitrag haben wir es auch bei den übrigen historischen Aufsätzen mit Zusammenfassungen jener lokalen und regionalen Einzelfallstudien zu tun, die als wissenschaftliche Qualifikationsschriften im Projektverbund entstanden sind. Die Qualität und Zielsetzung dieser Beiträge ist einigermaßen unterschiedlich. Sprachlich bleiben die Autoren oftmals im bürokratischen Duktus ihrer Quellen verhaftet. Lange Passagen zur lokalen und regionalen Ereignisgeschichte der Reformen werden nur selten in eine breitere historische Perspektive eingebettet oder die Befunde einer abstrahierenden Analyse unterworfen, die Aussagen über den Einzelfall hinaus ermöglicht. In dieser Hinsicht sticht der Aufsatz von Christina Steinbicker positiv heraus (zur Kreisentwicklung an den Beispielen Bitburg-Prüm und Ludwigshafen). Steinbicker ist zudem die einzige, die einen Bezug der Gebietsreformen zur Raumordnung und Landesplanung herstellt und die räumliche Ausgangssituation in ihren Untersuchungsgebieten genauer betrachtet: Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsstruktur, Verkehrsinfrastruktur, landschaftliche Gegebenheiten. Doch keiner der Beiträge analysiert jene Strukturdatenerfassungen und Bestandsaufnahmen, die im Vorfeld der Reformen durchgeführt wurden. Jenseits der immer wieder bemühten Schlagworte wie „Effizienz“, „Leistungsfähigkeit“, „Verbesserung der Versorgung“ und dergleichen bleibt deshalb unklar, welche Problemwahrnehmung und Problemdefinition den Neuordnungsprojekten vor Ort zugrunde lagen. Warum galt eine Gemeinde nicht als „leistungsfähig“? Was waren die Anforderungen an eine „leistungsfähige“ Verwaltung? Warum galten größere Verwaltungseinheiten als „effizienter“? Auch hätte die Motivation für die lokalen Widerstände an vielen Stellen deutlicher herausgearbeitet werden können: Denn worin bestanden, ganz konkret, die materiellen Konsequenzen des Autonomieverlusts beziehungsweise der Fusion von Gemeinden, Städten oder Kreisen?

Der Sammelband hinterlässt letztlich einen gemischten Eindruck. Einerseits ist das Thema der Gebiets- und Verwaltungsreformen an sich kein besonders Dankbares. Als Historiker braucht man einiges an Geduld gegenüber dem bürokratisch-technischem Jargon der Quellen und weiter Teile der (verwaltungs-)wissenschaftlichen Literatur, und nicht immer fällt es leicht, die eigene Perspektive und die eigene Arbeit davon zu lösen. Andererseits deuten besonders die Einzelfallstudien an, wie viel Potenzial im Bereich lokaler Mikrostudien noch brachliegt. Der interdisziplinäre Brückenschlag schließlich bleibt stets eine Herausforderung, der dieser Sammelband vermutlich am ehesten mit klar formulierten gemeinsamen Frage- und Problemstellungen hätte begegnen können.

Ariane Leendertz, München


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