ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Joachim Samuel Eichhorn, Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966-1969) (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 79), Oldenbourg Verlag, München 2009, 367 S., geb., 49,80 €.

Die in Hamburg entstandene Dissertation ergänzt die Darstellungen, die in den vergangenen Jahren zu diesem ersten Regierungsbündnis der großen Volksparteien in der Bundesrepublik erschienen sind. Eichhorn verfolgt einen personen- und institutionsgeschichtlichen Ansatz. Es werden die wichtigsten Akteure, allen voran Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, sein Außenminister Willy Brandt sowie die Minister Karl Schiller, Franz Josef Strauß und Herbert Wehner sowie die Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt, porträtiert. Außerdem untersucht er Arbeit und Wirkung des Bundeskanzleramts, des Kabinetts, der beiden Regierungsfraktionen, des Kressbronner Kreises, der Parteigremien und des Bundesrats. Der Autor versucht zu klären, wie regiert wurde, wie man Entscheidungen durchsetzte und wo sich letztlich das Entscheidungszentrum befand. Ferner beleuchtet er die Einwirkung der Öffentlichkeit auf das Regierungsbündnis.

Das in der Forschung vorherrschende Bild von Kiesinger als einem wandelnden Vermittlungsausschuss wird letztlich auch von Eichhorn bestätigt. Zwar schildert er, dass Kiesinger ein schwieriger Vorgesetzter gewesen sei, dessen Art und Arbeitsweise das Kanzleramt in seiner Funktionsweise beeinträchtigt und trotz einiger organisatorischer Neuerungen zu einem reinen Sekretariat der Bundesregierung gemacht habe (S. 71f., 77), doch billigt er ihm zu, der richtige Mann für die Große Koalition gewesen zu sein, der mit seiner Konzilianz und seiner Fähigkeit, in schwierigen Fragen Kompromisse zu finden, die Koalition zum Erfolg geführt habe (S. 52).

Nach teilweise recht langatmiger Analyse der Tätigkeit des Kabinetts und der Regierungsfraktionen, die Altbekanntes wiederholt, widmet sich Eichhorn den wichtigsten Personen der Großen Koalition und kommt bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Kiesinger und Wehner zu der nicht überraschenden Feststellung, dass diese beiden Akteure sowohl atmosphärisch als auch für die Entscheidungsfindung zumindest zeitweise einen stabilisierenden Faktor darstellten (S. 150).

Ferner wendet sich Eichhorn gegen das vorherrschende Bild des Erfolgsduos Schiller und Strauß. Deren Bedeutung habe weniger in ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik gelegen, was er mit Schillers geringer Hausmacht in der SPD erklärt. Wichtige Gesetze wie der Ergänzungshaushalt 1967 oder das Kreditfinanzierungsgesetz habe tatsächlich Schmidt in der SPD-Fraktion durchgesetzt. Vielmehr hätten sie durch ihre positive Wahrnehmung in der Öffentlichkeit („Plisch und Plum“) zum Erfolg der Koalition beigetragen und Rezession und Haushaltskrise gemeinsam überwunden.

Eichhorn konstatiert permanente Spannungen zwischen Bundesregierung und den zunehmend selbstbewusster werdenden Koalitionsfraktionen (S. 114), schätzt jedoch insgesamt die Einflussmöglichkeiten der Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik als eher gering ein (S. 163); auch sieht er Außenpolitik als traditionelle Domäne der Exekutive an (ebd.). Die Bedeutung Barzels und Schmidts liegt für Eichhorn darin, dass sie die Fraktionen im Sinne des Regierungserfolgs zusammengehalten, als Mittler zwischen den Koalitionspartnern fungiert und somit der Regierung den parlamentarischen Rückhalt gesichert hätten. Ihre Kooperationsfähigkeit und ihr persönlicher Einsatz seien mitentscheidend für den Erfolg der Großen Koalition gewesen. Gerade in der Endphase der Koalition, als der Kressbronner Kreis wegen des Wahlkampfs nur noch selten zusammentrat, hätten Barzel und Schmidt eine führende Rolle eingenommen.

Im Mittelpunkt der Ausführungen Eichhorns steht das für ihn entscheidende Gremium der Großen Koalition, der Kressbronner Kreis. Ausführlich schildert er dessen Entstehung und Arbeit, leider jedoch häufig in einer teilweise eher unstrukturierten Aneinanderreihung von Ereignisabläufen. Hier wäre eine stärkere Analyse wünschenswert gewesen. Sehr nützlich ist allerdings die im Anhang abgedruckte Übersicht über Themen, Termine und Teilnehmer. Eichhorn weist zwar darauf hin, dass die Gespräche des Kressbronner Kreises dazu gedient hätten, atmosphärische Störungen zu beseitigen und den Rahmen für die Politik abzustecken, wendet sich jedoch gegen das Bild einer „Super-“ oder Nebenregierung, da der Kressbronner Kreis lediglich während knapp der Hälfte der Regierungszeit der Großen Koalition überhaupt arbeitsfähig gewesen sei. In dieser Zeit sei er allerdings als „Entscheidungsvorbereitungsgremium“ (S. 284f.) wesentlich für die positive Bilanz der Regierung gewesen. Reizvoll wäre in diesem Zusammenhang die Untersuchung der Frage, ob sich der Kressbronner Kreis in seiner Arbeit bedeutend von den „Küchenkabinetten“ oder inneren Machtzirkeln anderer Bundesregierungen unterscheidet oder nur deswegen eine herausgehobene Stellung einnimmt, weil sich in ihm die führenden Politiker der großen Volksparteien trafen, die damals zusammen heute nur noch schwer vorstellbare knapp 87 Prozent der Wählerstimmen hinter sich vereinten.

Zur weiteren Analyse der Regierungspraxis der Großen Koalition widmet sich Eichhorn der detaillierten Darlegung der Entstehung der Notstandsgesetzgebung, des Leber-Plans sowie der Finanzverfassungsreform und wählt die sogenannte Kambodscha-Kontroverse als außenpolitisches Beispiel. Hier drängt sich allerdings die Frage auf, ob gerade dieses Thema, das bereits deutlich unter dem Eindruck der bevorstehenden Bundestagswahl und möglicher neuer Parteien- und Regierungskonstellationen erörtert wurde, als exemplarisch für die Arbeit der Großen Koalition gelten kann. Auch wäre eine Untersuchung des letztlich gescheiterten Vorhabens der Einführung eines Mehrheitswahlrechts sinnvoll gewesen, ein Beispiel, an dem sich (ähnlich wie im Fall Kambodscha) zeigen ließe, dass der Erfolgszwang und der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit gerade an eine Große Koalition enorm groß waren, was - wie Eichhorn zu Recht feststellt - einen Bruch des Regierungsbündnisses für keine der beteiligten Parteien opportun erscheinen ließ.

In seiner auf einer breiten Quellenbasis fußenden Darstellung, die durch im Anhang abgedruckte Übersichten über den Kressbronner Kreis, die Besetzung der wichtigsten Regierungsämter auf Bundes- und Landesebene und der Parteigremien sowie durch Kurzbiografien der wesentlichen Akteure ergänzt wird, kommt Eichhorn zu dem Ergebnis, dass von einem einzelnen Entscheidungszentrum der Großen Koalition nicht gesprochen werden könne. Vielmehr stellt er eine phasenweise Verlagerung des Hauptgewichts in der Großen Koalition fest. So prägten neben dem Kressbronner Kreis zunehmend weitere kleine Kabinettsausschüsse die Politik. Ebenso gewannen Eichhorn zufolge die beiden Regierungsfraktionen an Gewicht, besonders jedoch ihre beiden Vorsitzenden sowie die Vorsitzenden der verschiedenen Arbeitskreise.

Insgesamt zeichnet auch Eichhorn das in der Literatur vorherrschende Bild der ersten Großen Koalition als eine Erfolgsgeschichte. Die Frage, ob sie mit ihrer Regierungspraxis letztlich die Blaupause für die zweite Große Koalition auf Bundesebene geliefert hat, muss allerdings späterer Forschung überlassen bleiben.

Daniela Taschler, Berlin


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