Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946-1969 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd. 41), Klartext Verlag, Essen 2009, 271 S., geb., 34,90 €.
Mit seiner Studie über die Geschichte der Sozialforschungsstelle Dortmund schließt Jens Adamski eine Forschungslücke in der Wissenschaftsgeschichte der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, insbesondere in der Geschichte der empirischen Sozialforschung. Zugleich gelingt es ihm, die Entwicklung dieser Einrichtung im Kontext verschiedener Vorgeschichten darzustellen. Das Novum der Studie liegt in der sorgfältigen Fundierung durch Archivarbeit; bisherige Analysen hatten vornehmlich auf die nicht wenigen Darstellungen von Beteiligten sowie auf die Publikationen der Forschungsstelle zurückgegriffen.
In der Einleitung skizziert Adamski kurz die Hoffnungen, die sich mit der damals modernen empirischen Sozialforschung verbanden, und stellt den bisherigen Kenntnisstand zur Sozialforschungsstelle und die damit verbundenen Etikettierungen dar. Das erste Kapitel wendet sich der Gründungsphase zu. Ausgehend von einer biografischen Skizze des Initiators Otto Neuloh wird sein Plan zum Aufbau eines Sozialwissenschaftlichen Instituts für den Ruhrbezirk vorgestellt. Neuloh gehörte der Wandervogelbewegung an und war bis 1931 Mitglied der SPD, wusste sich dann aber auch schnell den neuen Verhältnissen anzupassen, beinahe wie ein Chamäleon (S. 32). Seine Tätigkeit in der Arbeitsverwaltung erforderte die Zusammenarbeit mit verschiedenen NS-Organisationen; sie offenbarte aber auch die Probleme einer reaktiven Sozialpolitik. Er forderte die Entwicklung eines Frühwarnsystems (S. 34), das frühzeitig auf soziale Störungen (S. 35) aufmerksam machen solle. In den ersten Entwürfen wird deutlich, wie stark Neuloh die künftige Rolle des Instituts als wissenschaftliches, aber zugleich sozialtechnologisches Steuerungsinstrument vorzeichnete. Ein gesellschaftskritischer [...] Anspruch lässt sich hingegen nicht erkennen (S. 39). Leider verzichtet Adamski darauf, diese Position im (sozial-)politischen Feld jener Zeit zu verorten. Detailliert werden im Weiteren die Anfänge der Forschungsstelle und ihre Finanzstruktur dargestellt; die verschiedentlich geäußerte These, das Institut sei mit Hilfe der Rockefeller Foundation gegründet worden, wird zurückgewiesen; es wird jedoch die große Bedeutung der US-amerikanischen Zuwendungen eingeräumt. Auch in der Forschungsmethodik spielte die angewandte amerikanische Sozialforschung eine nicht geringe Rolle. Viel wichtiger sei aber ein gewisser antimarxistischer Grundkonsens zwischen einem konservativ geprägten, deutschen Wissenschaftsmilieu und der amerikanischen Besatzungsmacht gewesen; er habe eine Verbindung ermöglicht, die eine beschleunigte Rückkehr und Protektion jener Forscher legitimierte, die bereits zuvor im Deutschen Reich als wissenschaftliche Funktionseliten und Sozialtechniker mit praxisrelevanten und zweckrationalen Konzepten arbeiteten (S. 64).
Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt, wenn sich Adamski den verdeckten Wurzeln der bundesdeutschen Sozialforschung zuwendet. Hier rekonstruiert er unter Rückgriff auf vorliegende Forschungen die paradigmatische und institutionelle Struktur angewandter Sozialforschung im ‚Dritten Reich‘. Eingehender wird dies an den Studien Wilhelm Brepohls zum Volkskörper und zur Volksseele an der Ruhr gezeigt; die Brepohlsche Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet wurde schließlich als eine Abteilung in die Sozialforschungsstelle überführt. Auch das 1943 gegründete Harkort-Institut für westfälische Industrieforschung ging in die Sozialforschungsstelle ein. Die Darstellung dieser Vorläufereinrichtungen wird mit biografischen Skizzen wichtiger Akteure verknüpft, die dann in der späteren Forschungsstelle tätig waren.
Die Arbeit der Sozialforschungsstelle in den 1950er Jahren wird zunächst in ihrer spezifischen Forschungsmethodik dargestellt; zudem wird das damit verknüpfte Forschungsmilieu analysiert. Dazu weist Adamski auf die Bezüge nicht weniger Mitarbeiter zur Leipziger und Königsberger Soziologie der 1930er Jahre hin; angesichts dieser und anderer Befunde kann die Sozialforschungsstelle als ein Auffang- bzw. Sammelbecken für diskreditierte Forscher (S. 128) bezeichnet werden. Adamski möchte jedoch trotz der plausibel erscheinenden Gemeinsamkeiten keine eindeutigen Beurteilungen vornehmen und verweist auf Forscher, die über keine derartigen Kontinuitätsbezüge verfügten und als Gegner des NS-Regimes agierten; auch erweise sich die Einordnung der sicherlich konformistisch handelnden Akteure Kuske und Neuloh als zwiespältig; die Anpassung der beiden früheren Sozialdemokraten erfolgte in erster Linie aus pragmatischen Gründen (S. 129).
Die von Adamski vorgenommene Relativierung der These eines Sammelbeckens veranlasst den Autor, abseits des Generationenkonzeptes und der Netzwerkanalysen nach weiteren verbindenden Elementen zu suchen; er findet sie in dem Leitprinzip, keine Wissenschaft um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern die anwendungsorientierte Arbeit nach den Erfordernissen des gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Umfeldes auszurichten (S. 130). Vor diesem Hintergrund sei es zu einem Bündnis zwischen der Gründer- und der Nachkriegsgeneration gekommen.
Im Folgenden wird die Sozialforschungsstelle im Kontext wichtiger Divergenzen und Konflikte der Soziologie der 1950er und 1960er Jahre dargestellt. In einem eigenen Abschnitt wird die mit der Sozialforschungsstelle eng verbundene Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute porträtiert. In den 1960er Jahren kam es unter der Leitung Helmut Schelskys zu weitreichenden Umstrukturierungen und zu einer ‚Soziologisierung‘ beziehungsweise ‚Spezialisierung‘ der Forschungsstelle. Diese Entwicklung wird jedoch nur recht grob skizziert: Ausführlich wird nur auf das Kontaktprogramm zur sozialwissenschaftlichen Forschung in Lateinamerika und die Abteilung Soziologie der Entwicklungsländer eingegangen. Abschließend wird dann die ‚Überleitung‘ in die soziologische Fakultät der Universität Bielefeld dargestellt. In den Schlussbemerkungen wird noch einmal versucht, auf die Verbindungslinien zwischen dem sozialtherapeutisch anmutenden Wissenschaftskonzept der Sozialforschungsstelle und der dienstleistungsorientierte[n] ‚Realsoziologie‘ [...] der NS-Zeit (S. 209) zu ziehen.
Wie bereits aus den hier angeführten Zitaten deutlich wird, changieren die Einschätzungen zur ‚Kontinuitätsfrage‘. Ein Manko der handwerklich guten Arbeit liegt in meinen Augen in der Gewichtung des Dargestellten; so liegt der Schwerpunkt auf der Gründungsphase und den 1950er Jahren. Die Analyse der immerhin zehn Jahre währenden Ära Schelsky kommt jedoch erheblich zu kurz. Das ist insbesondere aus soziologiegeschichtlicher Perspektive misslich, da nicht unerhebliche Teile der verschiedenen Strömungen der westdeutschen ‚kritischen Soziologie‘ aus dem Milieu der Sozialforschungsstelle hervorgegangen sind.
Christoph Weischer, Münster