ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Hartmann/Johannes Hürter/Peter Lieb u.a., Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 76), Oldenbourg Verlag, München 2009, IX + 404 S., geb., 29,80 €.

Im Rahmen des Projekts „Wehrmacht in der NS-Diktatur“ hat das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) fünf umfassende Monografien publiziert. (1) Der nun vorgelegte Sammelband enthält neun Beiträge der Herausgeber, denen es darum geht, „die wichtigsten unserer kleinen Studien zum Ostkrieg nochmals in einer zusammengefassten Form zu präsentieren“ (S. 1). Leider machen weder Titel noch Klappentext des Bands deutlich, dass es sich bei den Beiträgen ausnahmslos um bereits an anderer Stelle in den Jahren 2000 bis 2004 publizierte Aufsätze handelt.

Dem Ziel einer „Versachlichung der Debatte“ (ebd.) scheint wenig förderlich, wenn der Direktor des IfZ, Horst Möller, den knappen Raum seines Geleitworts auch dazu nutzt, gegen die von Hannes Heer geleitete Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ zu polemisieren. So zitiert sich Möller selbst aus der FAZ vom 3. Januar 2000: „Die falschen Bilder der ‚Wehrmachtsausstellung‘“ seien „eine Blamage, wahrlich keine Pionierleistung“ gewesen und eben die „Folge einer verfehlten Konzeption“ (S. VII). Einige Bildlegenden waren in der Tat falsch beschriftet und hätten korrigiert werden müssen. Aber: Keine der Textquellen oder sonstigen in der Ausstellung dokumentierten Aussagen waren fehlerhaft. Bis zu der inkriminierten Ausstellung war es allgemeiner Usus, dass Fotos in erster Linie der Illustration von Textaussagen dienten - eine sicher mehr als problematische Sichtweise für den Umgang mit fotografischen Quellen nicht nur bei der ‚Wehrmachtsausstellung‘. Eine „Pionierleistung“ jedoch stellte die Ausstellung insofern dar, als sie erstmals viele Hunderttausend Menschen für die Verbrechen der Wehrmacht im Ostkrieg sensibilisieren konnte.

Die von den Herausgebern getroffene Auswahl der Beiträge erscheint im Großen und Ganzen gelungen. In der Tat dokumentieren sie nicht nur ein Stück Wissenschaftsgeschichte, sondern ermöglichen schon allein aufgrund der Vielfalt und zumindest partiellen Anschaulichkeit der ausgewerteten Quellen einen multiperspektivischen Zugang zum Problemkomplex „Wehrmachtsverbrechen“. Neben die persönlichen Tagebücher und Briefe von Offizieren tritt die dienstliche Berichterstattung der militärischen Kommandobehörden. Thematisch reicht der Bogen von Teilbilanzen über Fallbeispiele bis hin zu Detailfragen wie der Authentizität einer einzelnen Quelle. Die exemplarische Bedeutung einer solchen Detailfrage zeigen Christian Hartmann und Jürgen Zarusky in ihrem kleinen Schlussbeitrag an Stalins „Fackelmänner-Befehl“ vom 17. November 1941, in dem dieser anordnet, die „Siedlungspunkte“ im Hinterland der deutschen Truppen zu zerstören. Hartmann und Zarusky können in mehrfacher Form belegen, „dass die brisanteste Passage von Stalins Befehl, seine Anweisung, die sowjetischen Jagdkommandos durch deutsche Uniformen zu tarnen, offensichtlich gefälscht und dem Dokument nachträglich hinzugefügt worden ist“ (S. 394). Dieser erstmals 2001 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte vorgelegte Nachweis ist wichtig, denn nicht nur im rechtsradikalen Lager und in Frontstellung gegen die eingangs genannte ‚Wehrmachtsausstellung‘ berief und beruft man sich auf diese gefälschte Passage, sie geistert bis heute in vielen Varianten durch die Weiten und ‚Diskussionsforen‘ des Internets.

Christian Hartmann lässt für die Beantwortung der Frage seines ausführlichen Eingangsbeitrags „Verbrecherischer Krieg - verbrecherische Wehrmacht?“ angesichts der zweifelsfrei erwiesenen Großverbrechen der deutschen Militärs weder das Bild von der sauberen Wehrmacht gelten, noch einen Paradigmenwechsel in Richtung eines ganz und gar verbrecherischen militärischen Verbands zu. Seine Forderung nach Differenzierung, wie sie auch andere Autoren des Bands immer wieder vortragen, ist eine Grundlage wissenschaftlicher Forschung. Doch seine im Anschluss an Rolf-Dieter Müller vorgetragene These, dass wohl maximal fünf Prozent der Wehrmachtssoldaten als Täter in Frage kommen, wobei die „Dichte des deutschen Aufmarsches und Verbrechensdichte in einem umgekehrt reziproken Verhältnis stünden“ (S. 67), erscheint fragwürdig, holzschnittartig und nicht eben der selbst geforderten differenzierten Betrachtung entsprechend. In seinem zweiten Aufsatz wertet Hartmann das Tagebuch des deutschen Lagerkommandanten Gutschmidt im Hinblick auf die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener aus. Dieses Tagebuch zeige, dass im Kern wohlmeinende Offiziere wie Gutschmidt die von der Wehrmachtsführung geschaffenen „Sachzwänge“ vor Ort nicht überwinden konnten, so dass vermutlich „Zehntausende seiner Gefangenen einer systematischen Unterversorgung zum Opfer fielen“ (S. 343). Der Lagerkommandant erscheint hier selbst als funktionales „Opfer“ von „Sachzwängen“.

In seinem ersten Beitrag zur deutschen Militärbesatzung und Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion arbeitet Dieter Pohl heraus, wie sehr die Wehrmacht schon im geplanten ‚Blitzkrieg‘ auf massive Gewalt setzte, nach dessen Scheitern diese Gewaltstrategie weiter forcierte und es meisterhaft verstand, für jede Gewaltmaßnahme eine Legitimation parat zu haben: „präventive Sicherheit, Repressalie oder Engpass in der Versorgung“ (S. 93). In einer weiteren Untersuchung beschäftigt Pohl sich mit dem „Schauplatz Ukraine“ bei der Judenvernichtung 1941 bis 1943. Er analysiert die Eskalationsstufen der Vernichtungspraxis von Juni 1941 bis Juli 1942. Danach war die Vernichtung großer Teile der Bevölkerung nicht das zentrale Ziel des Kriegs, sondern die Ermordung echter oder angeblicher Gegner galt als „Mittel, den Sowjetstaat zu zerschlagen“, eine Auffassung, welche „die NS-Führungsspitze mit der Leitung der Wehrmacht, der Generalität und großen Teilen des Offizierskorps“ teilte. Die Juden wurden zum „Hauptopfer dieser Strategie“, weil man sie „als soziale Basis des Bolschewismus ansah“(S. 194). So sehr diese - nicht neue - analytische Wertung einen wahren Kern enthält, so wenig berücksichtigt sie allerdings die ideologischen Übereinstimmungen von NS-Führung und Spitzenmilitärs in der Geringschätzung „slawischen Untermenschentums“ mit dem millionenfachen, oft durch aktives Verhungernlassen verursachten Sterben nichtjüdischer Zivilisten als Folge.

Dass alleine bei der Belagerung Leningrads mehrere Hunderttausend Stadtbewohner verhungerten, begreift Johannes Hürter in seinem Aufsatz über die 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42 vor Leningrad in erster Linie als mörderische Folge eines „von der NS-Ideologie entfesselten, aber eher unbestimmten militärischen Utilitarismus“ (S. 153). Vorsätzliches Verhungernlassen „infolge eines groß angelegten Völkermordplans“ vermag er nicht zu erkennen (ebd.). Ein ungeschminktes Zeugnis der Kriegswirklichkeit zeichnet Hürter in seinem zweiten Beitrag über Werner Otto Hentigs Nachrichten aus dem „Zweiten Krimkrieg“ 1941/42 an das Auswärtige Amt. Dieser Diplomat, Vater des heute bekannten Pädagogen Hartmut von Hentig, war als Gesandter der Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Oberkommando der 11. Armee. Die Notizen des für dieses Amt ungewöhnlichen Querdenkers belegen eindrücklich Judenvernichtung, und Hungersnot, „gefördert durch den Vandalismus der deutschen Soldaten“ (S. 384). Zu Recht betont Hürter: „Die Berichte Hentigs aus der Ukraine und noch mehr von der Krim lesen sich wie ein Kronzeugnis der deutschen Verbrechen“ (S. 391).

Peter Lieb nimmt das Tagebuch des Oberst Carl von Andrian zum Anlass, um die Frage, ob die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42 auf einer Täterschaft aus Überzeugung beruhen, zu verneinen. Für diese Wertung bemüht er die scheinbar differenzierte Behauptung, das „einzig charakterliche Kontinuum“ Andrians, sei „sein ambivalentes Verhalten“. Dieser habe nicht gesehen, „dass er ein Rädchen in einem riesigen Vernichtungsprozess war“ (S. 302). Solche Einlassungen Liebs, die man auf die Formel vom umgekehrt reziproken Verhältnis von Verbrechensgröße und konkreter Täterverantwortung bringen könnte, erinnern stark an die schon dargestellte These Hartmanns, der dasselbe Verhältnis für Aufmarsch- und Verbrechensdichte postuliert. Dass Lieb Akten, die für eine Täterschaft aus Überzeugung sprechen, von vornherein nicht traut, lässt er an folgendem Statement erkennen: „Wie ein Soldat über die deutschen Verbrechen wirklich dachte, wird sich aus persönlichen Quellen besser und genauer herauslesen lassen als aus den amtlichen Überlieferungen“ (S. 303). Abschließend prügelt Lieb, wie schon sein Institutschef Möller im „Geleitwort“, auf Hannes Heer ein, dessen Thesen einer wissenschaftlichen Überprüfung generell nicht standhielten.

So bietet der in der Qualität seiner Einzelbeiträge doch sehr heterogene Sammelband einerseits sachlich fundierte Erörterungen zum Themenkomplex „Wehrmachtsverbrechen“, entgeht aber andererseits nicht der Gefahr, diese Verbrechensgeschichte in einer additiven Reihung von tatsächlichen und scheinbaren Differenzieren, Relativierungen und exkulpierenden Wertungen verschwinden zu lassen und die vielen Millionen Opfer im Ostkrieg als „Taten ohne Täter“ geschichtswissenschaftlich zu entsorgen. (2)

Wigbert Benz, Karlsruhe

Fußnoten:


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