ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stephan Alexander Glienke, Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen (Nomos-Universitätsschriften, Geschichte, Bd. 20), Nomos Verlag, Baden-Baden 2008, 349 S., kart., 59,00 €.

Bei Stephan Alexander Glienkes Buch „Die Ausstellung ‚Ungesühnte Nazijustiz‘ (1959-1962)“ handelt es sich um eine Studie zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, die im April 2006 von der Philosophischen Fakultät der Gottfried-Wilhelm-Leibniz Universität Hannover als Dissertation angenommenen wurde.

In der Einleitung seiner Studie hinterfragt Glienke zunächst die Darstellung der Aufbaujahre der Bundesrepublik Deutschland seitens der traditionellen Forschung. Diese werden, speziell vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufstiegs, vielfach als rechtsstaatlich-demokratische Erfolgsgeschichte interpretiert (S. 14). Zieht man die Erkenntnisse der neueren NS-Forschung bezüglich der Ausgangssituation von Staat und Gesellschaft in der Gründungsphase der Bundesrepublik heran, entsteht ein anderer Eindruck: Die Zeichen standen in den 1950er Jahren auf Amnestie und Integration. Bereits die erste Regierungserklärung Konrad Adenauers machte - wenn auch in zurückhaltenden Worten - deutlich, welche Haltung das Gründungspersonal der jungen Bundesrepublik in vergangenheitspolitischen Fragen einnahm: Ein Schlussstrich sollte unter die politische Säuberung der frühsten Nachkriegszeit gezogen werden. Ihre ‚Rechtfertigung‘ fand diese Vergangenheitspolitik in den Augen vieler im 1949 verkündeten Grundgesetz und in der daraus hervorgehenden Abgrenzung vom Nationalsozialismus sowie in der von Adenauer betriebenen Politik der Wiedergutmachung. (1) Besonders deutlich wurde besagtes Schlussstrichdenken in dieser Periode in den Straffreiheitsgesetzen (1949 und 1954) und in dem sogenannten „131-Gesetz“ zur Wiedereingliederung der 1945 aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Beamten (1951).

Eine Auseinandersetzung mit den überkommenen autoritären Positionen setze jedoch - so Glienkes Ausführungen - bereits vor den Aktionen der ‚68er‘ ein. Schon in den 1950er Jahren kam es zu zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen unter maßgeblicher Beteiligung westdeutscher Studierender (S. 16). Der Ulmer Einsatzgruppenprozess, antisemitische Vorfälle sowie Skandale um die frühe Wiedereinsetzung zahlreicher Belasteter und Schwerbelasteter in der deutschen Justiz führten zu einer zusehends kritischeren Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur.

Vor diesem Hintergrund eröffneten Studierende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im November 1959 in Karlsruhe die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“, welche die Aufmerksamkeit von Politik und Medien auf sich zog und sogar im europäischen Ausland wahrgenommen wurde. Entstehung, Organisation und Wirkung der Aktion sind Thema der von Glienke vorgelegten Dissertation. Die Ausstellung dokumentierte die Beteiligung von Staatsanwälten und Richtern an Unrechtsurteilen während des nationalsozialistischen Regimes und erbrachte den Nachweis über ihre Einstellung in den Justizdienst der Bundesrepublik Deutschland, die teilweise sogar mit dem Aufstieg in eine höhere Position verbunden war. Die Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“, so Glienke, hinterfragte die bisherige, primär von den Interessen der Bundesregierung bestimmte Vergangenheitspolitik und gab den Impuls zu einem öffentlichen Diskurs über die Deutungshoheit über die NS-Vergangenheit. Sie sei als „Indikator eines wachsenden Bewusstseins für ungenügend bearbeitete gesellschaftliche und politische Problemfelder zu sehen“ (S. 19). Glienke macht darauf aufmerksam, dass die Ausstellung zu Unrecht in den bisherigen Arbeiten zur Justizgeschichte kaum Beachtung findet. In den Publikationen aus jüngerer Zeit wird sie zumeist im Zusammenhang der Westpolitik der DDR und der „Blutrichterkampagne“ erwähnt. 1994 legte Ulrich Brochhagen eine der ersten quellengestützten Arbeiten zur „Vergangenheitsbewältigung“ der Adenauerzeit vor. (2) Der justizielle Umgang mit Vergangenheit wird auch in den Arbeiten von Norbert Frei, Ulrich Herbert, Michael Greve, Kerstin Freudiger und Ulrike Homann diskutiert. (3) Anette Weineke legt die Thematik der Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“ detaillierter dar, der eigenständige Charakter der Ausstellung und ihr Folgenreichtum werden jedoch nur unvollständig erfasst. (4)

Demgegenüber untersucht Glienke drei Schwerpunkte. Zuerst widmet er sich der Organisation der Ausstellung. Anschließend werden die im Auftrag des SDS eingereichten Strafanzeigen gegen ehemalige NS-Richter in den Fokus gerückt. Im dritten Teil steht die Wahrnehmung der Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“ in den Medien im Vordergrund. Der Autor unterteilt seine Studie dabei in sieben Abschnitte: Planung, Präsentation, die Ausstellung und das Ausland, Strafbarkeit der Handlungen der Justizjuristen, Behandlung der Strafanzeigen, die Ausstellung und die Medien sowie die Funktionsweise von Medien im Kalten Krieg.

Glienke beschreibt die Entstehungsgeschichte der Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“, in welcher Reinhard Strecker, 1959 Student an der Freien Universität Berlin, als zentrale Figur zu nennen ist. Der Sprachwissenschaftler gehörte einer deutsch-israelischen Studentengruppe an und erfuhr von seinen jüdischen Kommilitonen, dass in der westdeutschen Justiz zahlreiche Funktionsträger des NS-Staats wieder „in Amt und Würden“ waren. Er recherchierte daraufhin einige Juristen-Fälle und arbeitete Anfang 1959 eine Petition an den deutschen Bundestag aus. Schon bald konnten Strecker und seine Mitstreiter den SDS Berlin, die deutsch-israelische Studentengruppe und andere Hochschulgruppen für ihr Vorhaben gewinnen. Als Initiator der Petition trat Strecker an den Konvent der Freien Universität heran, um die Unterstützung der Studentenvertretungen zu erhalten. Die „Petition an den Bundestag“ wurde jedoch auf Veranlassung des Universitätsprofessors Gerhard Schenck im Rahmen der Konventsitzung im Februar 1959 von der Tagesordnung abgesetzt. Dies löste eine Solidarisierungswelle mehrerer Hochschulverbände aus. Auf der Göttinger Bundesdelegiertenkonferenz im Sommer 1959 machte sich der SDS die Aktion der Berliner Studierenden zueigen. Im Namen des SDS auf Bundesebene kam es Ende des Jahres zur ersten Ausstellung, bei deren Eröffnung bereits die Erstattung von Strafanzeigen gegen wiederamtierende Richter und Staatsanwälte angekündigt wurde. Der Hinweis auf die DDR als Herkunftsort der Exponate der Ausstellung gab zunächst Anlass zur Diskreditierung der Unterlagen und damit auch ihrer Initiatoren. Auf Ablehnung stieß man auch bei der SPD-Führung. In einer Pressemitteilung wies der Parteivorstand darauf hin, dass die SPD „[m]it diesem Organisationskomitee und dieser Ausstellung nichts zu tun habe“ (S. 46). Dieser in einer langen Reihe von Auseinandersetzungen zwischen SPD und SDS stehende Konflikt, der zu einer erneuten Distanzierung zwischen der Partei und ihrem damaligen Studentenbund führte, wird von Glienke sorgfältig dargestellt. Nach zunächst ablehnender Haltung der Medien wurde ein Interview mit dem Generalbundesanwalt Max Güde zum Wendepunkt: Er bestätigte die Authentizität der ausgestellten NS-Urteile. Güdes Beurteilung wertete die Ausstellung auf, schließlich war er als CDU-Mitglied bezüglich kommunistischer Sympathien absolut unverdächtig.

Begleitend erstatteten Strecker und seine Mitstreiter am 18. Januar 1960, wie bereits auf der Pressekonferenz zur Eröffnung der Ausstellung in Karlsruhe angekündigt, Strafanzeigen gegen 43 ehemalige Richter der NS-Sondergerichtsbarkeit. Ausführlich beschreibt Glienke diesen letztlich ergebnislosen Vorgang. Ebenso detailliert wird die Rezeption in den Medien analysiert: Nach der Berliner Präsentation der Ausstellung erschien die Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“ im Rahmen der Berichterstattung der Presse über den Umgang mit NS-Belasteten als eigenes und etabliertes Thema. Besonders bedeutend waren die Besprechungen der Ausstellung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung, in der Welt und im SPIEGEL (S. 262).

Die Ausstellung gastierte bis 1961 in neun weiteren Universitätsstädten und wurde häufig von hitzigen Diskussionen zwischen der jeweiligen Universitätsleitung und der Studentenschaft begleitet. Aufschlussreich sind Glienkes Darlegungen der Aktion im Ausland: Gerade als sich die deutsche Besetzung der Niederlande am 4. und 5. Mai 1960 zum 15. Mal jährte, wurde die Ausstellung in Amsterdam eröffnet und stand so im Fokus der niederländischen Öffentlichkeit. Die Exponate waren danach auch anderorts in den Niederlanden zu sehen. Sie zogen nach Utrecht und Leiden weiter (S. 138). Im traditionsreichen Corpus Christi College präsentierten drei Oxforder Studenten ebenfalls 1960 eine Auswahl des von Strecker und seinen Kommilitonen gesammelten Materials. Die Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“ wurde in der ausländischen Presse diskutiert, so beispielsweise in der Neuen Züricher Zeitung, im Guardian, in der London Times und New York Times (S. 181).

Glienke ist der erste Historiker, der die Aktion „Ungesühnte Nazijustiz“ in all ihren Facetten untersucht hat. Eingehend stellt er die vergangenheitspolitischen Dispute in der Zeit des Kalten Kriegs dar und bespricht sie ausführlich. Dank der Verbindung unterschiedlicher Analysemethoden der zeithistorischen Forschung sowie der Politik-, Medien- und Rechtswissenschaft gelingt es dem Autor, die Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven auszuleuchten. Beeindruckend ist die umfassende Quellen- und Literaturkenntnis. Leider enthält das Buch jedoch kein Register und keinerlei Abbildungen der Ausstellung. Die Studie macht deutlich, dass das Zustandekommen einer aktiven demokratischen politischen Kultur auf den engagierten Einsatz von Kleingruppen und Einzelpersönlichkeiten zurückzuführen ist. Gerade die Jugend geriet als Initiator der Ausstellung häufig in die Kritik, so hieß es am 2. März 1969 in einem Leserbrief im SPIEGEL über Reinhard Strecker: „Dieser junge Mann fühlt sich berufen, Männer anzuklagen, die sehr wohl seine Väter sein könnten, und über Geschehnisse während des letzten Weltkriegs zu urteilen, also über eine Zeit ‚ wo er vermutlich gerade den Windeln entwachsen war.“ Glienkes Analyse zeigt, dass es gerade dieser jüngeren Generation gelang, wichtige Impulse für eine konfliktfähige Diskurskultur zu geben trotz jener Abwehrmechanismen, die „den nicht dabei Gewesenen“ das Recht absprachen, über die Verbrechen zu urteilen oder nur zu sprechen.

Merle Funkenberg, Göttingen

Fußnoten:


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