ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Breuer/Ina Schmidt, Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926-1933) (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, Bd. 15), Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2010, 511 S., kart., 49,80 €.

Die Diskussion über die historische bürgerliche Jugendbewegung spitzt sich seit Jahrzehnten immer wieder auf die Frage zu: Waren der „Wandervogel“ des Kaiserreichs und die „Bündische Jugend“ der Weimarer Republik Vorläufer des Nationalsozialismus? Die Fragestellung ist so simpel wie jedes schlichte Ja oder Nein falsch. Allmählich setzt sich in der Forschung die Erkenntnis durch, dass es ‚die‘ Jugendbewegung ohnehin nicht gab, sondern allenfalls ein Bündel höchst unterschiedlicher Gruppierungen und Strömungen, die im Erlebnis von Gruppe und Bund als alternativer Form jugendlicher Existenz einen gemeinsamen Nenner hatten. Eine Lebensform, die freilich nur zum Teil eine spontane Jugendkultur war, zum anderen Teil von Erwachsenen erfunden, begleitet und geführt wurde. Ein Konstrukt schließlich, das pauschale Aussagen über Ideen und Ziele unmöglich macht.

So erweist sich auch die hartnäckig fortgepflanzte Behauptung, diese Jugendbewegung sei zumindest in ihren Anfängen unpolitisch gewesen und erst durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs politisiert und radikalisiert worden, als Wunschvorstellung. Tatsächlich stand bereits die Wandervogel-Bewegung seit ihren Anfängen unter dem Einfluss der Völkischen Bewegung und sind schon die bisher hagiografisch verklärten ersten Bundesführer als völkische Autoren und Agitatoren zu identifizieren. In der seit wenigen Jahren ausgebreiteten Forschung zur hoch differenzierten Völkischen Bewegung liegt dann auch der schlüssigere Ansatz zur Beschäftigung mit der Jugendbewegung als das alte Schema von Anklage und Verteidigung vor dem Faschismus-Verdacht. Sinnvoll erscheint eher die Suche nach gemeinsamen Vorfahren und die Frage nach ideologischen und organisatorischen Schnittmengen mit dem ebenfalls nur als mühsam zusammengehaltenes Aggregat zu begreifenden Nationalsozialismus. Dabei wäre jede Beobachtung und Aussage zu hinterfragen, was nun Mainstream innerhalb des bürgerlich-jugendbewegten Lagers war und wo die sozialistischen, pazifistischen, prorepublikanischen und so weiter Minderheiten ganz andere Wege gingen und abgeblieben sind.

Einen kräftigen Pflock schlugen Stefan Breuer und Ina Schmidt in diese Forschungslandschaft ein. Sie untersuchten eine wirkmächtige Zeitschrift aus der Spätphase der „Bündischen Jugend“. Die kommunikative und meinungsbildende Macht gedruckter Periodika ist im Zeitalter der elektronischen Medien kaum noch nachvollziehbar. In der Weimarer Zeit stifteten die zahlreichen Blätter der Jugendbewegung Diskussion, Ideologie und Identität der sie tragenden Gruppen. „Die Kommenden“ (1926-1933) war neben „Der Zwiespruch“ (1919-1933) das wichtigste Mitteilungs- und Kampfblatt der ‚rechten‘ Bünde. Ins Leben gerufen von dem Lehrer und Dichter Wilhelm Kotzde, genannt Kottenrodt, „Bundesvater“ der radikal-antisemitischen „Adler und Falken“, sammelte die professionell gemachte Zeitschrift nicht nur Mitträger, Mitarbeiter und Leserschaft aus zahlreichen nationalistischen Bünden ein, sondern profilierte sich auch als „einigendes Band der deutsch gerichteten Jugend“. Die Namen der Herausgeber und Schriftleiter wie Ernst Jünger, Werner Laß, Hans Ebeling, Karl Otto Paetel oder Erich Röth zeigen schon, dass es auch hier keine einheitliche Linie geben konnte, sondern ein breites Spektrum nationaler und nationalsozialistischer, völkischer und nationalrevolutionärer, insgesamt rassistischer Ideologeme sich bündelte.

Entstehung, Entwicklungen, Konflikte und Ideologie dieser Zeitschrift und der sie tragenden Bünde schildern die Autoren mit umfassender Quellenkenntnis, auch unter Erschließung bisher ungenutzter Quellen und Nachlässe. Es ist ein intellektueller Genuss, nicht nur eine akribische Organisationengeschichte geboten zu bekommen, sondern zugleich eine beispielhafte Analyse der „Grundpositionen der deutschen Rechten“. Das ist weit entfernt von der Konstruktion einer „Konservativen Revolution in Deutschland“, jenem Erklärungsmuster rechter Strömungen und Autoren, in das Armin Mohler auch die „Bündische Jugend“ hineingepresst hatte (und das wiederum Stefan Breuer dekonstruiert hat; gern erinnert sei an seine „Anatomie der Konservativen Revolution“, 1993). Vielmehr tritt hier ein Geflecht oft konträrer Gruppierungen zutage, das von postromantischen Wandervogelbünden über militante Wehrbünde bis zu national-bolschewistischen Revolutionären und völkisch-religiösen Gemeinschaften reicht. Über den „wahren Nationalismus“ waren sie keineswegs einig. So mussten die Protagonisten und Leser der „Kommenden“ ihre Vorstellungen von Nation und Nationalismus nicht unbedingt (oder sogar keinesfalls) mit der NSDAP identifizieren, und so konnte der „Reichsjugendführer“ die Zeitschrift als „das schlimmste Hetzblatt gegen Hitler“ bezeichnen und der zuständige Regierungspräsident sie alsbald verbieten lassen - mit der paradoxen Begründung, hier seien „verkappte Marxisten“ am Werk.

In einem eigenen Teil wird anhand einiger Schlüsselbegriffe - Antisemitismus, Demokratie, Faschismus, Gesellschaft, Nationalismus, Rasse, Volk und andere - ein Vokabular der „Kommenden“ zusammengestellt und analysiert und somit eine politische Semantik dieser Gruppierungen gegeben. Eine wissenschaftliche Fundgrube ist ein weiterer Teil mit 158 Kurzbiografien der wichtigsten Herausgeber, Schriftleiter, Autoren (und wenigen Autorinnen) einschließlich Schriftenverzeichnis und Literatur- und Quellennachweisen. Hierfür wurden nicht nur alle gängigen bio-bibliografischen Hilfsmittel ausgeschöpft, sondern auch Akten und Nachlässe unterschiedlicher Archive, voran die NS-Akten des früheren Berlin Document Center, heute Bundesarchiv in Berlin, entlegene Zeitschriften, Anfragen bei Einwohnermeldeämter, Korrespondenzen mit Angehörigen. Wer je die Daten heute unbekannter Autoren gesucht hat, der weiß, welche Arbeit hinter einem solchen Korpus an Kurzbiografien steckt. Hier wird auch einmal mehr die Verflechtung der „Bündischen Jugend“ in ein weites und disparates Netzwerk der Weimarer Rechten sichtbar. Führende Repräsentanten findet man dann in allen denkbaren Positionen von der Karriere in Formationen der NSDAP bis zum Widerstand. Dankenswert sind auch die Nachweise für den Verbleib der Überlebenden nach 1945 und ihre höchst verschiedenen Lebensläufe in der Bundesrepublik und der SBZ/DDR.

Weitere dokumentarische Fleißarbeit ist ein Inhaltsverzeichnis aller 390 erschienenen Hefte der „Kommenden“. Ein Anhang mit 38 Fotografien (meist Porträts) unterschiedlicher Qualität ist willkommene Dreingabe. Schmerzlich vermisst man ein Personenregister, das die Fülle der biografischen Informationen leichter zugänglich machen würde. Dankbar zu vermerken ist die bei wissenschaftlichen Werken selten gewordene elegante Sprache der Autoren.

Winfried Mogge, Kassel


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