ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen, Bd. 5), Klartext Verlag, Essen 2009, 264 S., brosch., 24,95 €.

Jenseits der kurrenten Ableitungen des in der Ermordung der europäischen Juden gipfelnden deutschen Antisemitismus aus dem christlichen Antijudaismus ist dessen Ideengeschichte nicht intensiv ausgeleuchtet worden. Dies ist die These, von welcher der Sammelband „Antisemitische Geschichtsbilder“ seinen Ausgang nimmt. Der politische Antisemitismus von der wilhelminischen Ära bis zum Nationalsozialismus, seine Breitenwirkung und sein durchschlagender „Erfolg“ sind, folgt man den Herausgebern, in der Regel auf soziale Ursachen zurückgeführt worden, während die verschiedenen, in der Regel ganz eklektisch kombinierten Ideologeme und ihre Massenwirksamkeit bis heute nicht die angemessene Beachtung gefunden hätten. Werner Bergmann und Ulrich Sieg unternehmen es, mit ihrem Sammelband diese Lücke zu verkleinern. Sie greifen zu diesem Zweck auf einen Ausschnitt dieser Ideenwelt, das antisemitische Geschichtsdenken, zu, weil historische Werke in Kaiserreich und Weimarer Republik sowohl beim bildungsbürgerlichen Publikum als auch - in popularisierter Form - in bildungsferneren Schichten eine große Resonanz fanden.

Eingerahmt von Andrea Hopps vorzüglichem Abriss zur Entstehung des publizistischen Massenmarkts gegen Ende des 19. Jahrhunderts und einem Beitrag von Michaela Haibl zu Visualisierungen antijüdischer Stereotype in den aufkommenden Massenmedien - Zeitungen, Zeitschriften und Bildpostkarten -, welche die Wege kartieren, auf denen das antisemitische Denken einen großen Rezipientenkreis erreichte, nimmt das Buch einige der wichtigsten intellektuellen Protagonisten zwischen Vormärz und ‚Drittem Reich‘ sowie deren publikumswirksame Hauptwerke unter die Lupe. So berichtet Werner Bergmann über Wilhelm Marrs apokalyptisch angehauchtes „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ und bestätigt die Forschungen von Moshe Zimmermann zum Fortwirken eines gewissermaßen progressiven Antisemitismus aus dem Geist der linkshegelianischen Religionskritik und der radikal-demokratischen Aversion gegen jeden die homogene Nation bedrohenden Partikularismus.

Um die Nation und den Staat war es auch dem politischen Professor Heinrich von Treitschke zu tun, nach 1871 allerdings nicht mehr um den bürgerlich-liberalen Nationalstaat, sondern um Bismarcks preußischen Machtstaat, der gegen innere und äußere Feinde verteidigt werden musste; im Innern gegen die nationalen Minderheiten etwa der Elsässer und der Polen sowie gegen Linksliberale, Sozialdemokraten und Ultramontane, schließlich auch gegen die Juden, die ihm vor allem als radikale Literaten und Beherrscher des Pressewesens vor Augen traten. Ulrich Wyrwa verfolgt akkurat die von Band zu Band anwachsenden antijüdischen Elemente in Treitschkes mehrteiliger borussisch-siegesdeutsch imprägnierter „Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert“.

Anders als die Weltbilder Marrs und Treitschkes stand dasjenige des bedeutenden Orientalisten und Philologen Paul de Lagarde jeder progressiv-optimistischen Tradition fern, doch auch dieser romantisch-antiliberale Misanthrop ging von der Vorstellung der homogenen Nation aus und sah in den Juden einen Fremdkörper, einen „Träger der Verwesung“. Die Geschichte war - wie der Beitrag von Ulrich Sieg zeigt - jedoch ein untergeordnetes Element in Lagardes hochfliegenden Plänen, eine neue nationale Religion zu stiften.

Johannes Heinßen hat sich der Mühe unterzogen, Julius Langbehns ebenso vielverkaufte wie bizarre Schrift „Rembrandt als Erzieher“ zu untersuchen, die sich vom Duktus des Akademisch-Wissenschaftlichen denkbar weit entfernte. Eigenwillige Etymologien, lose Assoziationen, klanglich induzierte Zusammenziehungen von Begriffen ersetzen in Langbehns Bestseller argumentative Stringenz. Gerade die „bei aller Wirrnis charismatische Form“ (S. 130) seines Buches wirkte auf das wilhelminische Publikum aber attraktiv und gewann ihm eine breite, auch außerakademische Leserschaft. Bemerkenswerterweise fügte Langbehn, womöglich aus markstrategischen Gründen, erst in späteren Auflagen seines eklektischen, völkisch-holistischen Ergusses antisemitische Bemerkungen ein. Die Judenfeindschaft passte gut in das antimoderne Gebräu, das er servierte, scheint aber auch für ihn selbst bloß akzidentiell gewesen zu sein.

Für die wilhelminischen Eliten bedeutender und in ihrer Judendarstellung weitaus elaborierter waren Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Anja Lobenstein-Reichmann erhellt in ihrem luzide formulierten Aufsatz Chamberlains geschichtsphilosophisches „Welterklärungsmodell“ (S. 145), dessen Kernstück die Idee von den menschlichen Rassen bildet. Chamberlains Phantasie vom Kampf der schöpferischen, kulturtragenden, mystisch-tiefen Arier gegen die parasitären, rationalistisch-materialistischen Juden war als Fundament der späteren nationalsozialistischen Weltanschauung weitaus tragfähiger als die eklektischen, teils auf bloß religiösen und kulturellen Vorurteilen fußenden Traktate seiner Vorgänger.

Auch der Verleger Theodor Fritsch, der nicht als eigenständiger Theoretiker, sondern vielmehr als Popularisator und Propagandist, Multiplikator und Koordinator Bedeutung erlangte, setzte ganz auf einen pseudowissenschaftlichen Rassismus, den er unter anderem aus den Schriften Gobineaus und Eugen Dührings - welcher in dem Band bedauerlicherweise nicht in einem gesonderten Aufsatz traktiert wird - ableitete. Elisabeth Albanis erläutert die nordisch-arisch-skythischen Spekulationen in Fritschs weit verbreitetem „Handbuch der Judenfrage“ wie auch seine Rolle als, wie es zeitgenössisch hieß, „Schöpfer des praktischen Antisemitismus“ (S. 169).

War Fritsch ein Bindeglied zwischen völkischem und nationalsozialistischem Antisemitismus, so lässt sich für Heinrich Claß, den langjährigen Führer der Alldeutschen, eine „Scharnierfunktion“ (S. 202) zwischen dem alten Nationalismus à la Treitschke und dem radikalisierten rassistischen Nationalismus behaupten, dessen Ziel nicht einfach in der Homogenisierung des Nationalstaats und Assimilation der fremden Elemente, sondern im Ausschluss der „Reichsfeinde“ - politische Opponenten wie auch nationale Minderheiten - aus Staat und Nation bestand. Rainer Hering geht in seinem Beitrag freilich weniger auf Claß' Geschichtsverständnis, dargelegt in seiner „Deutschen Geschichte von Einhart“, ein als auf die Organisationsgeschichte des bis 1939 bestehenden Alldeutschen Verbandes.

Den theoretischen Übergang zum ‚wissenschaftlichen‘ Antisemitismus der Nationalsozialisten vollendete Alfred Rosenberg mit seinem Grundlagenwerk „Mythus des 20. Jahrhunderts“, dessen Titel nicht zufällig an Chamberlains „Grundlagen“ erinnert. Rosenbergs orientalistisches Geschichtsbild, in dem den Juden die Rolle der „Gegenrasse“ zugewiesen wird, seine Sexual- und Zuchtphantasien wie auch sein Hass auf die aus jüdischen Wurzeln erwachsene (katholische) Kirche sind Gegenstand der Analysen von Miloslav Szabó.

Etwas überraschend ist das Auftauchen des konservativen Außenseiters und Vordenkers des Föderalismus, Constantin Frantz, in dieser Reihe der ‚Klassiker‘ des Antisemitismus. Überraschend, aber in der Abhandlung von Michael Dreyer insofern gut begründet, als Frantz' christlich-antijüdische Einstellung bereits im Vormärz proto-rassistische Elemente enthielt und dergestalt sowohl die lange Inkubationszeit des Rassenantisemitismus verdeutlicht als auch ein weiteres Beispiel für die weltanschauliche Vielfalt im judenfeindlichen Lager darbietet.

Wegen der Konzentration auf ein klar umrissenes Thema und der straffen Konzeption der Herausgeber leidet das Buch nicht an der üblichen Krankheit von Sammelbänden, nur lose Verknüpftes unter ein gemeinsames, oft recht weitgespanntes Dach zwingen zu müssen. Es weist eine annähernd monografische Geschlossenheit auf. Indem es die meisten der üblicherweise nur summarisch per name dropping aufgelisteten bekannten ‚Theoretiker‘ aller Qualitätsstufen von anerkannten Universitätsgelehrten über esoterische Publizisten bis zu politischen Propagandisten behandelt, stellt es ein äußerst nützliches Kompendium des antisemitischen Geschichtsdenkens zwischen Vormärz und ‚Drittem Reich‘ dar. Dabei profitiert dieses kleine Handbuch davon, dass es Beiträge von ausgewiesenen Experten versammelt, von denen einige in jüngster Zeit größere Forschungsarbeiten zu ihrem Gegenstand vorgelegt haben.

Klaus Kempter, Leipzig


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