ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frieder Günther (Hrsg.), Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892-1917 (Stuttgarter Ausgabe, Briefe, Bd. 1), K. G. Saur Verlag, München 2009, 622 S., geb., 39,95 €.

„Innere Freiheit ist alles“ (S. 226) - diese Devise, die Theodor Heuss am 23. Juli 1907 formulierte, darf als sein Lebensthema und Lebensmotto gelten, und der Herausgeber der vorliegenden Edition, Frieder Günther, hat in seinem Einführungstext durchaus zu Recht „Liberalität als Lebensprinzip“ ausgemacht. Nachdem seit Herbst 2007 insgesamt bereits fünf Briefbände der „Stuttgarter Ausgabe“, die die Jahre 1918 bis 1959 umfassen, erschienen sind, artikuliert sich in dem vorliegenden, chronologisch ersten Band der junge Theodor Heuss, der Schüler, Student, Jungpolitiker und Redakteur, ein weltläufiger Schwabe und schalkhafter Schöngeist, dessen Erwachsenwerden wir im Spiegel seiner Briefe nachvollziehen dürfen.

Heuss' Mutter stammte, wie er am 24. Juli 1907 an seine Verlobte schrieb, „aus absolut beschränkten, kleinbürgerlichen und bigotten Kreisen“ (S. 230). Es war der Vater, der den Kindern „so eine achtundvierziger Tradition [vermittelte], und es gehört zu meinen enthusiastischen Erinnerungen, wenn unser Vater abends seinen drei Buben schauerlich-schön aus [Ferdinand Freiligraths] Ça ira vorlas. Das war die Zeit, wo ich jeden Fürsten oder sonstigen Großen für einen gemeinen Menschen und des Todschlags [sic!] würdig hielt. Zugleich aber wars meine schönste Zeit.“ Erst später hätten „allerhand Erkenntnisse und Einsichten die glühenden Rosen meines fröhlichen und düsteren Radikalismus angewelkt“ (S. 166). Von Düsternis ist in der vorliegenden Edition allerdings nichts zu spüren. Von Fröhlichkeit jedoch umso mehr, von beschwingtem Witz und Lebensfreude: „Sie wissen, daß ich ein glücklicher Mensch bin“ (S. 236), schrieb Heuss an die Dichterin Lulu von Strauß und Torney und fügte wohlgelaunt hinzu, „daß es mir ununterbrochen gut geht“ (S. 280).

1884 in Brackenheim geboren, nahm Heuss bereits als Schüler an den Fragen seiner Zeit regen Anteil, begeisterte sich für den Kampf der Buren, beschäftigte sich mit Zola, Wagner und Nietzsche. Liberalismus und Sozialismus traten in seinen Blick, und um die Jahrhundertwende war er bereits „ziemlich ganz nationalsoz[ial] geworden mit Befreund[un]g zu Bernstein“ (S. 88). 1902 nahm er sein Studium in München auf, fand zur Nationalökonomie und zu seinem Lehrer Lujo Brentano. Friedrich Naumann war dem jungen Heuss bereits vor ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen als Stilist und Politiker zum „Idol“ geworden, und so übernahm er nach seiner Promotion 1905 die Leitung des künstlerisch-literarischen, im August 1907 zusätzlich die des politischen Teils der von Naumann herausgegebenen „Hilfe“ in Berlin. Hier wurden nicht nur die Grundlagen seiner publizistisch-politischen Laufbahn gelegt, auch privat sollte dieser Schritt von Bedeutung sein: Bei Naumann lernte er nämlich die Professorentochter und Frauenrechtlerin Elly Knapp kennen, und die Briefe, die er an sie richtete, mit denen er um sie warb und in denen er seine Gefühle so liebevoll, so liebenswert und anrührend zum Ausdruck brachte, gehören zu dem Schönsten, was die Edition zu bieten hat.

Mit der Verlobung kam als Aufgabe auf ihn zu, sich eine „bürgerliche Existenz“ zu schaffen. Geldsorgen wurden mit Naumann, dem er nun nicht mehr mit dem „Gefühl der Abhängigkeit“, sondern mit „Freundschaft“ gegenübertrat, dessen „Grenzen“ ihm stärker ins Bewusstsein traten, ohne dass seine Verehrung Schaden nahm, besprochen (S. 331); sein bohèmehaftes Auftreten wich einem bürgerlicheren Habitus. 1912 gab er seine Stellung bei der „Hilfe“ auf und übernahm die Chefredaktion der Neckar-Zeitung, 1913 auch der Zeitschrift „März“ in Heilbronn: Eine „geistige Luftveränderung“ schien ihm notwendig, und er hoffte, „in der kleinen Stadt den Dingen des Lebens näher“ sein zu können als im ungeliebten Moloch Berlin (S. 343). In Heilbronn traf ihn auch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, auf den er, wegen einer Jugendverletzung vom Wehrdienst freigestellt, durchaus als Patriot, aber „unverwirrter Skeptiker“ reagierte: „So wenig für mich die Haltung des Volkes eine Überraschung war, auch nicht die der Sozialdemokratie, [...] so wenig konnte ich mich in dem Lärm der nationalistischen Eitelkeiten zurecht finden“, schrieb er im Juli 1915, als die Kriegsbegeisterung der ersten Wochen und Monate bereits ziemlich abgeklungen war (S. 455f.). Zwar glaubte er an den Sieg der deutschen Truppen, aber er fürchtete um die Wiederanbahnung jenes kulturellen Austauschs mit den gegenwärtigen Feinden, „der uns Wertvolles gegeben hat“ und dem er sich als passionierter Kulturreisender, als liberaler Weltbürger und freier Geist verpflichtet fühlte (S. 405).

Den „Militarismus“ und „primitiven Chauvinismus“ verachtete er, eine gänzlich unmilitärische Natur, zutiefst. Der Tod enger Freunde sensibilisierte ihn ebenso für die Schrecken des Kriegs, wie ihn die berüchtigte Judenzählung von 1916, die er in der Neckar-Zeitung öffentlich anprangerte, schockierte. Dass ihn, den Redakteur, „die gewisse sanftmütige Unehrlichkeit, die in den Betrieb der Herstellung einer sog. öffentlichen Meinung hereingekommen ist“, ärgerte (S. 498), ist eine schöne Umschreibung für die Geltungssucht der württembergischen Zensurbehörden, mit denen er einen erbitterten Kleinkrieg führte. Insgesamt tritt uns Heuss als ein durchaus nüchterner, in seinen Einschätzungen ernsthafter, in seinen Schilderungen wie immer humorvoller Beobachter entgegen, der sich gegenüber dem Propagandagetön mit ironischer Vorsicht wappnete. Die Edition endet im Dezember 1917, kurz vor seiner Rückkehr nach Berlin, wo er die Redaktion der „Deutschen Politik“ übernahm und in die Geschäftsstelle des Werkbunds eintrat, für die er sich in seiner „Doppelexistenz zwischen Kunstgeschichtler und Politiker“ berufen fühlte (S. 478).

Gegenüber seiner Frau beklagte sich Heuss, den mannigfache Interessen, vor allem die Kunstgeschichte, fesselten, darüber, „fast ausschließlich politischer Mensch“ zu sein und sein zu müssen (S. 188). Tatsächlich ist den vorliegenden Briefen davon kaum etwas anzumerken. Zwar werden politische Themen, der Kampf für ein „anständiges Wahlrecht“ in Preußen, die mehrfachen (und stets gescheiterten) Bemühungen um eine parlamentarische Karriere, die Gründung der Freisinnigen Volkspartei, manch liberale Fraktionsstreiterei, die Naumannsche Großblockstrategie „Von Bassermann bis Bebel“, vor allem auch das Verhältnis zur Sozialdemokratie, angeschnitten. Aber in erster Linie geht es um Freundschaft, um Liebe, um lustige Zechgelage, um Reisen, um Architektur, um Literatur und immer wieder um Kunst. Und selbst da, wo Heuss politisch wird, gibt er die sympathische Reserve nicht auf: Ihm fehle, so schrieb er im Januar 1909, zu sehr „das Dogmatische“, um „Parteigläubiger“ sein zu können; in der Politik - so sein Credo - könne es „keine absoluten Wahrheiten, sondern fast nur Relationen“ geben, und niemals könne er - als Demokrat - die Überzeugung verleugnen, „dass auch die Konservativen oder das Zentrum oder die Sozialdemokraten anständige und kluge Männer haben“ (S. 278). Hier lugt bereits, schaut man nur genauer hin, der spätere Präsident im jungen Heuss hervor, die Integrationspersönlichkeit der frühen Bundesrepublik, der noch im Alter den Schalk im Nacken hatte und, ohne bedeutungsschweres Pathos, mit würdevoller Ironie eine bedeutende Rolle spielte. Die „Stuttgarter Ausgabe“ hat also auch mit dem vorliegenden Band ihre ehrgeizige Aufgabe, die vielseitige Entwicklung und facettenreiche Persönlichkeit Theodor Heuss', die ihn zum höchsten Staatsamt führten, in seinen Briefen hervortreten zu lassen, bravourös erfüllt.

Max Bloch, Bonn


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