ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Roshanna P. Sylvester, Tales of Old Odessa. Crime and Civility in a City of Thieves, Northern Illinois University Press, DeKalb/IL 2005, X + 244 S., geb., 38,00 $.

Odessa gehört neben den beiden Hauptstädten St. Petersburg und Moskau seit Langem zu den am besten untersuchten Städten des ausgehenden Zarenreichs. Roshanna Sylvester fügt der vergleichsweise breiten Forschung zur Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte des „kleinen Paris“, wie Odessa zeitgenössisch liebevoll genannt worden ist, eine gut geschriebene, kulturhistorisch argumentierende Studie hinzu. Neu ist, dass Sylvester den sozio-kulturellen Wandel, den viele Städte des ausgehenden Zarenreichs erlebten, mit einem kulturräumlichen Zugriff verbindet. Entlang der vielfältigen städtischen Topografie Odessas zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Hafen-, Arbeiter- und Industrievierteln auf der einen und dem wohlhabenden, glänzenden Zentrum der prosperierenden Stadt mit seinen Passagen, Kaufhäusern und Villen auf der anderen Seite stehen die ambivalenten Wahrnehmungen von „Moderne“, „Urbanität“ und abweichendem Verhalten im Mittelpunkt der Studie. Dazu zählten kulturelle Kodierungen und Konstruktionen sozialer Zugehörigkeiten und Zuordnungen, gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsmechanismen, symbolische wie faktische Besetzungen des öffentlichen Stadtraums. Diese komplizierten Prozesse betrachtet Sylvester anhand der Angehörigen der „middle-class“ und „lower middle class“, worunter sie das meščanstvo, was landläufig mit Kleinbürgertum übersetzt wird, subsumiert. Ihre zentrale, durchaus überraschende These ist, dass eine säkularisierte jüdische Kultur, die sich in dieser Form höchstens noch in St. Petersburg wiedergefunden habe, zur dominierenden Kultur geworden sei, weil sie nicht auf die Eliten beschränkt geblieben sei, sondern sich ebenso im meščanstvo verbreitet habe (S. 5).

Odessa bietet für solche Fragen ebenso aufregende wie dankbare Rahmenbedingungen, die aber kaum für das restliche Zarenreich repräsentativ waren. Insofern spricht zwar vieles für die auch von Sylvester betonte einzigartige Entwicklung Odessas (S. 5), doch hätten vergleichende Schlaglichter das Argument sicher gestärkt. Die vergleichsweise junge, erst 1794 gegründete Hafenstadt zog viele Menschen unterschiedlicher ethnisch-religiöser und sozialer Herkunft an. Dort lebten Russen, Ukrainer, Juden und Griechen, um nur einige ethnische Gruppen zu nennen. Die wirtschaftlich und kulturell prosperierende Stadt evozierte offenbar ein spezifisches Lebensgefühl, das die Menschen auch an der russischen Peripherie einen selbstbewussten Modernitätsanspruch vertreten ließ. Und nicht nur das: Den Bewohnern Odessas wurde eine starke Abneigung gegen Autoritäten und ein Hang zum Subversiven attestiert. Dabei soll die Wahrnehmung von Kriminalität eine besondere Rolle für die Identität der Bewohner Odessas gespielt haben. In diesem Sinne sei die Stadt wegen ihrer kriminellen Unterwelt berüchtigt gewesen (S. 3-5).

Den Fragen nach diesen ambivalenten sozio-kulturellen Repräsentationen, nach den Behauptungsstrategien ihrer Akteure und nach existentialistischen Aspekten nähert sich Sylvester in acht topografisch wie sozio-kulturell orientierten Narrationen des Alltags, die allesamt sehr lesenswerte Detailstudien sind. Die Autorin findet ihre Hauptquellen in der im frühen 20. Jahrhundert von der Vorzensur befreiten, aufblühenden Lokalpresse der Jahre 1912 und 1914, selten auch in Polizeiberichten, Memoiren und fiktionalen Texten.

Die Akteure, die diese einzigartige hybride Form der „middle-classness“ (S. 7) entwickelten, befanden sich in einem dynamischen Spannungsfeld, das maßgeblich durch die Wahrnehmungen eines „modernen“ und eines „alten“ Odessas konstituiert wurde. Die Journalisten, die Geschichten über die Stadt und ihre Bewohner schrieben, entwarfen entlang ihrer stadträumlichen Matrix moralische Bedeutungs- und Interpretationsrahmen für urbanes, modernes und zivilisiertes Verhalten. So ließ sich das moderne, zivilisierte Stadtzentrum der unzivilisierten Peripherie gegenüberstellen, in der Gewalt, Unmoral und Schmutz dominierten. Sylvester interessiert sich jedoch nicht für eindeutige Grenzziehungen, sondern für die Ambivalenzen und Widersprüche, die die Akteure in der sich modernisierenden Stadt konstruierten. Odessa als „Dangertown“ (Kapitel 1), also eine Stadt der großen Möglichkeiten, aber auch Gefahren, bildet die Folie der einzelnen, höchstens lose verbundenen Erzählungen. Die gemeinsame Klammer bilden die Diskurse der lokalen Journalisten, die maßgeblich die Interpretationsrahmen in ihren Geschichten entwarfen, also Grenzen zogen, die „the civilized from the savage“ trennten (S. 27). Die Kapitel 2 bis 4, die den Hafenbezirk, die peripheren Arbeiterbezirke Peresyp und Slobodka-Romanovka, den berüchtigten, jüdisch dominierten Stadtteil Moldovanka sowie das Stadtzentrum um den Prachtboulevard Deribasovskaja in den Blick nehmen, zeichnen die Ambivalenzen dieser Grenzziehungen nach. Während die Odessaer Stadtduma in den Randbezirken, in denen vorwiegend russische und ukrainische Unterschichten lebten, kaum die Infrastrukturen verbesserte, zeichneten die Journalisten einerseits eine dunkle Geschichte über Verbrechen, Gewalt auf offener Straße und Schmutz. Auf der anderen Seite integrierten sie die Bewohner von Peresyp und Slobodka-Romanovka als Objekte ihrer Erziehung und wohltätiger Praktiken in die Wahrnehmungswelt der städtischen Elite. Ähnlich funktionierten auch die Narrationen über die Moldovanka als „Stadt der Diebe“ und über das Stadtzentrum, wo Sylvester Brüche in der augenscheinlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung der gut situierten Bewohner als zivilisierte und moralisch nicht korrumpierte Akteure aufdeckt. Über das nahe dem Stadtzentrum gelegene Moldovanka konstruierten die Journalisten ein mitunter romantisierendes Bild des professionalisierten, autarken Ganoventums, der Faszination von Gefahr, des urbanen Abenteuers und einer anziehenden jüdischen Männlichkeit. Zugleich bedrohten Verbrechen und Unmoral das Stadtzentrum, ließen aber wie schon mit Blick auf die Unterschichten als sozialreformerische Objekte Raum für wohltätiges Mitgefühl für die offenbar in Unmoral aufwachsenden Kinder. Ähnlich, aber noch unmittelbarer ließen die Journalisten auf dem Nevskij Prospekt Odessas, der Deribasovskaja Straße, zwei Welten aufeinandertreffen: Beherrschte bei Tage das glänzende, luxuriöse und zivilisierte Leben die Straße, so traten bei Anbruch der Dunkelheit mit den Prostituierten und ihren Zuhältern das unmoralische Gesicht der Moderne, der sich auflösenden Identitäten hervor. Kulturkritische Journalisten spielten mit den Ängsten der ehrbaren Gesellschaft und warnten davor, dass die nächtlichen Praktiken bereits die Ehrbarkeit der Bürger am Tage bedrohen würden (S. 81f.).

Die Kapitel 5 bis 8 analysieren die journalistischen Darstellungen verschiedener sozialer Praktiken, mit denen die Bewohner Odessas ihren gesellschaftlichen Status markierten, abgrenzen oder verbessern wollten. „Making an Appearance“ (Kap. 5) nimmt die Praktik des Sehens und Gesehenwerdens in den Blick und zeigt, dass auch die Journalisten nicht außerhalb der Gesellschaft standen, die sie beobachteten, kritisierten und karikierten. Sylvester beschreibt, wie die Journalisten selbst in dem Paradox von Authentizität und Maskerade äußerlicher Erscheinungen gefangen waren, obwohl sie anprangerten, sozialen Status am äußerlichen Erscheinungsbild festzumachen und daran bestimmte Verhaltensweisen zu knüpfen. Mit Hilfe einer Reihe von Artikeln im humoristischen Wochenmagazin Krokodil über „The Little Family“ (Kap. 6) legt Sylvester die Darstellung über Heiratsstrategien, Generationskonflikte und Statusängste jüdischer Familien aus dem meščanstvo offen.

Die beiden letzten Kapitel 7 und 8 rücken Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Blick, indem sie Frauen und Männer betrachten, die gegen überkommene Rollenzuschreibungen aufbegehren. Dabei erhoben sich die Journalisten selbst zu Wächtern über „unweibliches“, aber dennoch moralisch hochstehendes Verhalten beziehungsweise verurteilten gegenteilige Praktiken (S. 175). Ängste über neue, inkonsistente Rollenanforderungen ergriffen jedoch auch Männer, wie die Geschichte über den ausgebrochenen und schließlich getöteten Elefanten Jambo (Kap. 8) beleuchtet. Die Journalisten entfalteten das nicht zuletzt männliche „martyr of the middle-class self“ (S. 192), das angesichts des sozialen Wandels aufgerufen war, seinen Körper zu kontrollieren, seine Seele aber zu entwickeln.

Sylvester gelingt es, in der russischen Geschichte oft noch zu wenig beachtete ‚weiche‘ Phänomene wie die Diskurse über Respektabilität und Moral in kulturhistorischen und stadträumlichen Momentaufnahmen sehr ansprechend zu beobachten. Zu bemängeln ist jedoch der knappe Untersuchungszeitraum von lediglich 1912 bis 1914, der er es nicht erlaubt, den dynamischen sozio-kulturellen Wandel einzufangen, der das Zarenreich - und nicht nur Odessa - spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert ergriffen hat. Auch scheint der für den anglo-amerikanischen Sprachraum so typische sozialstrukturelle Zugriff über die „middle class“ oder das meščanstvo vergleichsweise eindimensional und statisch zu sein, da Sylvester schließlich „dynamic cultural interrelationships“ (S. 5) untersucht. Angesichts der heterogenen sozialen Gruppen, die hier im Mittelpunkt stehen, und der überall zu beobachtenden dynamischen Auflösung ständischer Zuschreibungen, verdeckt der Klassenbegriff mehr als er erhellt. Gleiches gilt für die Rolle der Journalisten, auf deren Konstruktionen sich Sylvester verlässt und die sie zu wenig mit Hilfe anderer Quellensorten prüft oder kontextualisiert. Trotz dieser kritischen Anmerkungen liegt hier ein lesenswertes Buch vor, das viele weiterführende Fragen und Anknüpfungspunkte für die russische Stadtgeschichte bietet.

Kirsten Bönker, Bielefeld


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