ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Olaf Schmidt-Rutsch/Ingrid Telsemeyer (Hrsg.), Die Radbod-Katastrophe. Berichte und Zeichnungen des Einfahrers Moritz Wilhelm (Westfälisches Industriemuseum, Quellen und Studien, Bd. 17), Klartext Verlag, Essen 2008, 143 S., brosch., 13,90 €.

Aufgrund einer kombinierten Schlagwetter- und Kohlenstaubexplosion kamen in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1908 weit über 300 Bergleute auf der Schachtanlage Radbod in Hamm-Bockum-Hövel zu Tode. Die Radbod-Katastrophe stellte das bis dahin folgenschwerste Explosionsunglück in der Geschichte des deutschen Steinkohlenbergbaus dar. Es betraf eine Zeche, die erst wenige Jahre zuvor in der konjunkturellen Hochphase vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im nördlichen Ruhrrevier abgeteuft worden war und die Förderung aufgenommen hatte.

Eine geschichtliche Aufarbeitung der Radbod-Katastrophe ließ in Übereinstimmung mit den allgemeinen Bemühungen um eine historisch-kritische Unfallforschung im Bergbau lange auf sich warten. Erst 1982 erschien die erste, von dem Journalisten Wolfgang Pabst auf breiter Quellengrundlage und unter Nutzung von Zeitzeugen-Interviews verfasste Monografie „350 Männer starben, nun lasst uns tanzen“. Seine Argumentation lief auf eine Wiederbelebung der zeitgenössischen gewerkschaftlichen Systemkritik unter dem Eindruck der Katastrophe hinaus. Dies veranlasste den seinerzeitigen Leiter des Bergamts Hamm, Friedrich Menneking, die Radbod-Katastrophe aus primär bergtechnischer Warte zu analysieren. Eine monografisch-biografische Abhandlung des Geschehens erfolgte schließlich 1999 durch den Enkel eines Unglücksopfers, Eugeniusz Nowak, unter dem Titel „Das ‚Radbod‘-Unglück der Jadwiga Walenciak. Die Geschichte einer Bergmannsfamilie“.

Vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages und begleitend zu einer Sonderausstellung haben nunmehr Olaf Schmidt-Rutsch und Ingrid Telsemeyer als wissenschaftliche Mitarbeiter des LWL-Industriemuseums, Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur, zwei interessante Quellen ediert und fachlich kommentiert, die die Kenntnisse über das Geschehen der Radbod-Katastrophe um interessante Details bereichern. Es handelt sich um handschriftliche Aufzeichnungen des Königlichen Einfahrers Moritz Wilhelm, die dieser bezüglich des Unglücks erstens in tagebuchartigen Aufzeichnungen zur Familiengeschichte und zweitens in zwei Berichtsheften hinterlassen hat, welche seine Tätigkeit bei der Aufwältigung der Zeche im Zeitraum von September 1909 bis Dezember 1910 dokumentieren. Letztere sind tageweise chronologisch geführt und mit zahlreichen Skizzen zur untertägigen Fundsituation versehen. Die Edition erfolgt innerhalb des besprochenen Werkes im Textteil in Auswahl, während auf der beiliegenden CD-ROM beide Berichtshefte mit vollständigen Seiten sowohl als Scans des Originaltextes als auch in verlinkter Transkription veröffentlicht werden. Ergänzt wird die benutzerfreundlich gestaltete CD-ROM durch eine kritisch recherchierte Opferliste, die neben den eigentlichen Namen der Verunglückten mit Markennummer, Tätigkeit, Geburtsdatum, Herkunft, Familienstand und Anzahl der Kinder zahlreiche Angaben liefert, die für weitere statistische Detailforschungen durchaus interessant erscheinen. Abgerundet wird die CD-ROM durch ein (auch im Buch abgedrucktes) Glossar bergbaulicher Fachbegriffe und vier Rissen zur Grubensituation der Zeche Radbod, die als Tafeln sämtlich dem 1911 in der „Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im preußischen Staate“ veröffentlichten, bergbehördlichen Abschlussbericht entstammen.

Die Pläne zur Veröffentlichung dieser für die historische Unfallforschung tatsächlich seltenen Quellen gehen auf Kontakte der Nachfahren Moritz Wilhelms zum LWL-Industriemuseum zurück. Am Anfang des Buchs steht so die Biografie des Königlichen Einfahrers, die von Vertretern der „Familie Wilhelm“ verfasst worden ist (S. 10-17). Moritz Wilhelm (1865-1938) entstammte einer Bergmannsfamilie aus dem Saarland und wurde nach Abschluss der Ausbildung auf der Bergschule Louisenthal und anschließender Wehrpflichtzeit 1892 als Königlicher Grubensteiger auf der Grube Dudweiler im fiskalischen Saarbergbau tätig. 1899, als die Position der Königlichen Einfahrer mit 50 Stellen bei der preußischen Bergverwaltung erst geschaffen wurde, gehörte er zu den zahlreichen Steigern aus dem Saarbergbau, die sich nicht zuletzt aus finanziellen und Karriere-Gründen dafür bewarben. Mit seiner Berufung war der Wechsel in den Ruhrbergbau, zunächst in das Bergrevier Gelsenkirchen, 1907 nach Witten, verbunden. Von hier aus war er zu den Arbeiten auf der Zeche Radbod in benanntem Zeitraum abgeordnet worden. Nach der Pensionierung 1930 widmete sich Moritz Wilhelm der Sammlung von Devon-Fossilien und vor allem der Wittener Bergbaugeschichte.

In der Einführung (S. 21-45) referieren die Herausgeber sachgerecht und kompetent den aktuellen Wissensstand zum Ablauf des Unglücks, der Bergungsarbeiten sowie der Sümpfungs- und Aufwältigungsarbeiten auf der Radbod-Zeche. Besondere Beachtung kommt dabei zwangsläufig der preußischen Bergverwaltung und den hierin geschaffenen Stellen der Königlichen Einfahrer zu. Zwangsläufig deshalb, weil die Aufzeichnungen Moritz Wilhelms letztlich in Erörterungen über die Ursachen der Radbod-Katastrophe münden, die vom offiziellen Abschlussbericht des Berginspektors Carl Hollender von 1911 abweichen. Dies gibt den Herausgebern wiederholt Gelegenheit, das Ausbildungsniveau der Königlichen Einfahrer im Vergleich zu den höheren Bergbeamten zu bewerten und deren Verhältnis kritisch zu hinterfragen (S. 40ff., 46-49). Bei aller nachvollziehbaren Sympathie für die Ausführungen des Urhebers der editierten Quellen bewahren sie jedoch stets den gebotenen historisch-kritischen Abstand in der Bewertung seiner Aussagen und Schlussfolgerungen.

So liegt die Hauptintention der Herausgeber bei der Edition beider Quellen in deren Authentizität bezüglich der Arbeitswelt. Das vorrangig sozialgeschichtliche Interesse dürfte nicht zuletzt die Auswahl der abgedruckten Textpassagen aus den beiden Heften des „Einfahrerbericht[s]“ (S. 67-132) mitbestimmt haben. Weitergehende und sich angesichts der Quellen zugleich aufdrängende Interpretationen verfolgen die Herausgeber bewusst nicht: „Eine Analyse des Unglücks hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und technischen Auswirkungen oder eine Debatte der Unglücksursache ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt“ (S. 45).

Sich im Rahmen der Edition dieser weiterreichenden Analysen zu enthalten, ist legitim, kann dies doch Aufgabe jener Forscher sein, die sich dafür der nunmehr vorliegenden Einfahrerberichte Moritz Wilhelms mit Gewinn bedienen können.

Michael Farrenkopf, Bochum


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