ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Georgi, Heuschrecken, Erdbeben und Kometen. Naturkatastrophen und Naturwissenschaft in der englischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts, August Dreesbach Verlag, München 2009, 395 S., kart., 17,50 €.

Mit der Buchveröffentlichung seiner Dissertation hat Matthias Georgi einen Beitrag zum besseren Verständnis von Öffentlichkeit und Naturwissenschaft in der Frühen Neuzeit geliefert. Ausgangspunkt seiner Analyse sind außergewöhnliche Naturbeobachtungen, die in öffentlichen Diskursen zwischen 1744 und 1759 erfasst wurden.

Ab dem 4. April 1750 wurde dem ersten Analyseteils des Buchs zufolge ein satirischer Druck verkauft, der die Flucht der Londoner vor einem möglichen Erdbeben darstellte. Zuvor hatte es im Februar und März im Abstand von vier Wochen Erdbeben in der Stadt gegeben, die als Zeichen für eine drohende Katastrophe interpretiert wurden. Laut Georgi fanden sich in der schriftlichen Berichterstattung allerdings keine Hinweise auf einen drohenden Weltuntergang am 4. April. Zwar gab es Prediger, die sich die Beunruhigung der Bevölkerung zu Nutzen machen wollten, aber das tatsächliche Datum einer gemeinsamen Flucht musste mündlich vereinbart worden sein. Unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Erklärungen hatte die Presse versucht, beschwichtigend auf die Situation einzuwirken, war aber erfolglos geblieben. Nicht nur die Ungebildeten, sondern auch die Londoner Oberschicht verließ die Stadt. Es erscheint, als ob die Öffentlichkeit kein Vertrauen in naturwissenschaftliche Erkenntnisse hatte. Mit unterhaltsamen Anekdoten gewürzt, findet Georgi einen guten Einstieg in die Thematik. Er lässt allerdings stellenweise eine Einbindung der Befunde in größere Zusammenhänge vermissen. So bleibt zum Beispiel das, für dieses Kapitel bedeutende, Konzept der Providenz unterbelichtet.

Die attestierte Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse sollte sich aber in den nächsten Jahren ändern. In der Publizistik von 1750 war die Theorie unterirdischer Explosionen vorherrschend gewesen. Theologen wehrten sich in der Öffentlichkeit gegen Erklärungen, die auf Naturgesetzen beruhten, mussten sich jedoch, wie die Berichterstattung nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 zeigt, zumindest teilweise geschlagen geben. Es wurde zwar nicht viel über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gesprochen, aber durch kurze Hinweise gaben sich die meisten Autoren als Anhänger der Explosionstheorie zu erkennen. Für die Rezipienten war eine Ausführung der Überlegungen in dieser Beziehung fünf Jahre nach den Londoner Beben nicht mehr nötig, weil die Theorie unterirdischer Explosionen zum „Allgemeinwissen“ avanciert sei (S. 89). Die öffentliche Angst vor dem Auftauchen eines Kometen, der für das Jahr 1758 vorausgesagt war, zeigte darüber hinaus, wie sehr sich naturwissenschaftliche Erklärungen bereits in der Öffentlichkeit verbreitet hatten. Für die Bevölkerung handelte es sich um eine abstrakte Gefahr, die von dem Wissenschaftler Edmond Halley Ende des 17. Jahrhunderts berechnet worden war. Trotzdem war sie beunruhigt. Das Gesamtresümee des ersten Teils lautet entsprechend, dass Naturgesetze in einer „weiter gefassten Öffentlichkeit weit verbreitet und akzeptiert gewesen“ sind (S. 180).

Theologische Erklärungen konnten die Explosionstheorie integrieren, indem Gott als prima causa und Naturphänomene als secunda causa interpretiert wurden. Nach dem Erdbeben von 1750 hatten sich Theologen noch gegen Wissenschaftler gewehrt, die versuchten, die Ereignisse ohne Gottes Wirken zu erklären. Da in der gesamten Publizistik aber kein einziger Text nachzuweisen sei, so Georgi, in dem Wissenschaftler Gottes Wirken ausgeschlossen hätten, habe es vermutlich eine mündliche atheistische Gegenöffentlichkeit gegeben - und zwar in den Kaffeehäusern. Folgt man dem Autor in diesem Punkt, so lässt er die Frage unbeantwortet, weshalb es eine so große Diskrepanz zwischen mündlicher und schriftlicher Öffentlichkeit gab. Eine naheliegende Kontrastierung von rationaler Bildungsöffentlichkeit und emotionaler ‚Klatschöffentlichkeit‘ würde seinen Befunden widersprechen. Im Einzelnen bleibt Georgis Vorgehen nicht ausreichend begründet. So verwirft er die selbstaufgestellte These, dass die Kirchenvertreter 1750 einen Feind aufgebaut hätten, den es nicht gab, gegen den man aber gewinnbringend polemisieren hätte können, ohne nähere Erklärung.

Die diskursiven Bedingungen, die Texte erfüllen mussten, um als wissenschaftliche Aussagen publiziert zu werden, sind das Thema des zweiten Analyseteils. Auf wissenschaftshistorischen und medientheoretischen Überlegungen aufbauend, stellt Georgi Mechanismen der Konstruktion von wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit heraus. Rationalität, Neugier und Angstfreiheit spielten in der Darstellung von Zeugen außergewöhnlicher Naturereignisse eine besondere Rolle. Georgi gelingt es hier, diesen sozialen Charakter des „Gentleman“ als idealem Beobachter auch mit antiken Vorbildern zu verknüpfen. Die bekannten Plinius-Briefe, die die stoische Ruhe angesichts des Vesuvausbruchs schildern, waren im Gentleman's Magazine abgedruckt worden. Georgis Analysen zur Wahrnehmung von erhabener Natur bleiben dagegen unscharf. Ob das Beispiel von Prinzessin Esterhazys Beobachtung eines Lavastroms am Vesuv tatsächlich als eine Begegnung mit sublimer Natur zu verstehen ist, bleibt zweifelhaft (S. 226). Auch die daran anschließende Betrachtung von Kupferstichserien zu Erdbeben kann wenig überzeugen. Die ästhetische Darstellung von Ruinen im zerstörten Lissabon weist nicht automatisch auf eine erhabene Natur hin. Ein Rückgriff auf führende Kunsthistoriker auf dem Gebiet der Katastrophenrepräsentation, wie Jörg Trempler, wäre in diesem Zusammenhang hilfreich gewesen.

In der Doppelrolle, die Ungebildeten und Frauen in wissenschaftlichen Texte zugeschrieben wurde, wird die Ausgangsfragestellung nach den Regeln wissenschaftlicher Beobachtung wieder deutlicher. Einerseits wurden Angst und Panik dieser sozialen Gruppen zum Zeichen eines wirklich außergewöhnlichen Naturereignisses und für dessen Nachrichtenwert. Andererseits konnten Ereignisse, die ohne angemessene Zeugen beobachtet worden waren, in den wissenschaftlichen Kanon eingegliedert werden. Zu diesem Zweck wurde das Verhalten des anwesenden ungebildeten Beobachters als quasi-Gentleman-Verhalten stilisiert und die Nachricht erhielt so ihre Glaubwürdigkeit. Für jeden, der sich mit entsprechenden Quellen aus dem 18. Jahrhundert konfrontiert sieht, sind diese Einsichten von großem Wert.

Durch das theoretisch informierte Vorgehen und den engen Fokus der Untersuchung legt der Autor viele interessante Zusammenhänge frei. Die Arbeit mäandriert zwischen der Herausstellung feiner Unterschiede und dem Bemühen um eine klare Linie. Immer wieder werden Ergebnisse zusammengefasst und auf Querverbindungen in der Struktur hingewiesen. Einige Druckfehler hätten durch ein sorgfältiges Lektorat vermieden werden können. Eine Schwäche des Buchs liegt in der konzeptuellen Verwendung des Begriffs „Naturkatastrophen“ begründet. Fast an jeder Textstelle wäre Georgi besser beraten gewesen, von Naturphänomenen oder Naturereignissen zu sprechen. Der Titel des Bandes ist in dieser Hinsicht (und auch hinsichtlich der Heuschrecken, die im Text kaum zu entdecken sind) etwas irreleitend. Ungeachtet dessen liefert Georgis lesenswerte Untersuchung richtungsweisende Ergebnisse zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Naturwissenschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Patrick Masius, Göttingen


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