Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung (Geschichte kompakt), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, VII + 136 S., kart.,14,90 €.
Schon 1963 hat Francis. S. L. Lyons mit seinem Buch Internationalism in Europe, 1815-1914 eine bahnbrechende Studie vorgelegt, David Armstrong folgte seit 1982 mit verschiedenen knappen und dann auch umfangreicheren Studien zur Geschichte des Internationalismus auch im 20. Jahrhundert. (1) Harold Josephson legte bereits 1985 ein biografisches Lexikon bekannter Internationalists vor. (2) Gemeinsam war diesen Büchern, dass sie Internationalismus als eine Vorstufe zu Pazifismus sahen und in den Protagonisten - Personen oder Institutionen - Vorläufer einer anderen, gleichsam besseren internationalen Gesellschaft im Vergleich zum herkömmlichen Mächtesystem oder zur großmächtlichen Staatenordnung.
Deutlich anders ist der Ansatz der hier vorzustellenden Arbeit der Heidelberger Historikerin Madeleine Herren. Sie ist bestens ausgewiesen durch eine fundamentale Studie Hintertüren zur Macht (2000), in welcher sie die Bedeutung internationaler Organisationen für die Politik der Schweiz, Belgiens und der USA für die Zeit vor 1914 herausarbeitete. (3) In dem hier rezensierten schmalen, aber gehaltvollen Bändchen geht sie bis 1815 zurück, programmatisch beginnt sie aber eigentlich erst mit den Jahren 1864/65, in dem mehrere bedeutende internationale Organisationen ins Leben traten, von der Internationalen Arbeiterassoziation über das Internationale Komitee des Roten Kreuzes bis zur Internationalen Telegraphenunion.
Was internationale Organisationen seit dem 19. Jahrhundert auszeichnete, war ihre non-profit- Orientierung. Nach heutigen Begriffen gab es International Governmental Organisations (IGOs), also solche, die durch Verträge der Staaten geschaffen wurden, und Non-Governmental Organisations (NGOs), welche ganz oder teilweise aus der Zivilgesellschaft stammten. Die Autorin spricht für die frühe Zeit typisierend lieber von internationalen Verwaltungsorganisationen und internationalen Vereinen. Sie macht deutlich, dass hier eine Ebene neben den Nationalstaaten entstand, die durchaus ambivalent war. Die Art und Weise westlichen Zählens und Messens wurde so etwa zur Bekräftigung westlicher Hierarchisierung der Welt eingesetzt. Internationale Finanzverwaltungen als Teil des Kolonialismus gehörten dazu. Auf der anderen Seite wurden von der Seuchenbekämpfung bis zu humanitären Organisationen vielfältige zivilgesellschaftlich-reformierende Unionen gegründet. Mit dem Kongostaat wurde geradezu eine internationale Organisation in die Sphäre der Souveränität emporgehoben. Weltausstellungen und internationale Staatenkonferenzen wie die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 schufen Foren für eine neue und parallele Weltöffentlichkeit. Die traditionellen Akteure internationaler Politik blieben zwar nach wie vor einbezogen, aber das Verhältnis von offizieller Diplomatie und zivilgesellschaftlichen Netzwerken verschob sich allmählich von einem Abhängigkeits- zu einem Konkurrenzverhältnis (S. 33). Im First International Races Congress fanden sich Vorläufer humanitären Universalismus wie die eines biologistischen Weltverständnisses vom Kampf der Rassen. Der Boom von vielfältigen Neugründungen hörte auch im Ersten Weltkrieg nicht ganz auf, schuf vielmehr - so Herren - Grundlagen, die auch in die Friedensordnung nach 1919 eingingen.
Diese nächste Phase, Streitbare Verwandtschaft: Der Völkerbund, sei seit ihrer Begründung unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass aus einem beobachtenden Publikum von Bittstellern eine internationale Öffentlichkeit geworden sei. Internationale Politik selbst sei zu einem multimedialen Prozess geworden. Im Völkerbund mischten sich staatliche Organisation zur politischen und sozialen Friedenssicherung mit zivilgesellschaftlichen Elementen auch korporatistischer Interessenvertretung. Doch insgesamt gingen die internationalen Organisationen vielfältiger Art nicht in diesem Völkerbundsystem auf. Noch wissen wir zu wenig über Ausmaß und Auswirkungen der transkulturellen Netzwerke (S. 82). Die faschistisch-nationalsozialistische Herausforderung der bisherigen Ordnung bediente sich gleichfalls in vielen Fällen neuer internationalistischer Organisationen, die dem Rezensenten weitgehend unbekannt waren. Das ging bis hin zu Plänen für einen andersartigen Völkerbund. Manschukuo, die japanische Gründung eines Marionettenstaats seit 1932, gibt die Folie ab für die Untersuchung der Gleichzeitigkeit von Nationalismus und Transnationalismus, auch dies ist eine bislang unbekannte Facette des Internationalismus.
Schließlich kommt als dritte Phase das System der Vereinten Nationen (UN) seit 1945 in den Blickpunkt. Hier stellt Herren den Weg zur UN aus dem Zweiten Weltkrieg heraus dar, analysiert die Bedeutung einiger Sonderorganisationen wie der United Nations Relief Rehabilitation Administration (UNRRA) und folgert, dass im UN-System die Rolle von Verwaltungsorganisationen des 19. Jahrhunderts an ein Ende gekommen sei. Unabhängig davon hätten während des Kalten Kriegs Osten wie Westen konkurrierende Parallelorganisationen aufgebaut. Mit dessen Ende hätte vor 20 Jahren die große Zeit der internationalen Organisationen begonnen. Im 21. Jahrhundert hätten mehrere Prozesse die internationalen Strukturen verändert. Es gebe einen Wandel zu einer neuen Globalität, welche die traditionelle Hierarchisierung und damit Dominanz des Westens obsolet erscheinen lasse, es gehe nicht mehr so sehr um Institutionen, sondern um grenzüberschreitende Prozesse und schließlich hätten neue Informationstechnologien eine Gleichzeitigkeit geschaffen, die neu sei. Grenzüberschreitungen seien dennoch nach wie vor mit Risiken behaftet. Es gebe einen Wettstreit unterschiedlicher Narrative, zu deren Erklärung interdisziplinäre Ansätze herangezogen werden müssten. Die eine Richtung lasse sich ökonomisch mit dem Namen von Aihwa Ong kennzeichnen, die andere kulturell mit Arjun Appadurai: Beide lieferten Ansätze, um Transgressionen und neue Formen des Austauschs besser begreifen zu können.
Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um den Reichtum der Informationen und Beobachtungen der Autorin zu kennzeichnen. Sie brennt ein Feuerwerk an Informationen über einzelne Organisationen, zumal über deren Vielfalt und Einbettung, ab. Dazu gehört das gesamte internationale System, das sie mit wenigen Strichen jeweils umreißt. In einer sinnvollen Version kann es ‚Opas Diplomatiegeschichte‘ somit nicht mehr geben.
Es sei unterstrichen, dass Herren mit den internationalen Organisationen eine noch viel zu wenig beachtete Kategorie zur Deutung internationaler Geschichte in den Mittelpunkt gestellt hat, über die wir trotz ihrer Pionierbeobachtungen noch viel zu wenig wissen. Wie staatliches Handeln, sei es direkt, sei es über IGOs, sich zu diesen weiten Netzwerken oder Rhizomen (wie es einmal heißt) verhält, ob und wie hier Steuerung angestrebt wird, stattfindet oder wünschbar ist, in welcher Weise sich die zivilgeschichtlichen weltweiten Ansätze mit der Steuerbarkeit von Politik als nationaler oder globaler Aufgabe verhalten, das ist nicht nur für die Gegenwart und Zukunft relevant, sondern wirft auch Fragen für die historische Untersuchung zumindest der letzten beiden Jahrhunderte auf. Die Gefahr der realen Überbewertung eines wichtigen und innovativen Untersuchungsfelds lässt sich dabei leicht in Kauf nehmen.
Herren verbindet ihre Untersuchung internationaler Organisationen mit einem globalgeschichtlichen Blick, der gleichfalls neue Perspektiven aufweist. Gerade der westlich zentrierte Blick wird hier durchgehend relativiert. Neben Nordamerika und Europa kommt programmatisch auch ein Ansatz von Asien, gelegentlich auch einmal von Afrika aufs Tapet. Dipesh Chakrabarty, Shalini Randeria und andere lassen hier grüßen. Allerdings lässt sich fragen und bleibt weiter zu untersuchen, inwieweit gerade internationale Organisationen ein Vehikel der Globalisierung und damit der Relativierung des Westens waren. Herren hebt immer wieder die Ambivalenzen der Ausrichtung von Organisationen hervor. Aber in vielen Fällen steht neben der basalen Herausarbeitung von solchen Institutionen die Untersuchung ihrer Wirkungen im Einzelnen oder im Allgemeinen noch aus.
Die Reihe Geschichte kompakt der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ist für Anfänger und Studierende konzipiert, und diesen Zweck erfüllt auch dieser Band. Aber in seltener Weise werden von Herren kluge konzeptuelle Fragen aufgeworfen, die neben der umfangreichen narrativen Aufzählung von Organisationen stehen. Leider gibt es keine Anmerkungen, die gerade bei faktischen und konzeptuellen Fragen ein Weiterlesen erst möglich machten. Zweieinhalb Seiten Literaturverzeichnis genügen dafür nicht einmal ansatzweise, die eingangs genannten Titel sind in dieser strengen Auswahl gar nicht dabei. Man wünscht sich, dass Madeleine Herren bald die Zeit und Kraft fände, die hier angerissenen Fragen nicht nur mit wenigen Strichen, sondern mit einem dicken Pinsel, am liebsten mit einer ganzen Palette davon auszuführen.
Jost Dülffer, Köln
Fußnoten:
1 Francis S. L. Lyons, Internationalism in Europe, 1815-1914, Leyden 1963; vgl. exemplarisch David Armstrong, The Rise of the International Organisation, London 1982.
2 Harold Josephson (Hrsg.), Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders, Westport, CT 1985.
3 Madeleine Herren, Hintertüren zur Macht: Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865-1914, München 2000.