Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Die Geschichte des Konsums und Handels erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Nachdem die englische und die US-amerikanische Geschichtswissenschaft in diesen Feldern lange Zeit führend war, beschäftigen sich mittlerweile auch viele deutsche Historikerinnen und Historiker mit entsprechenden Themen. Das ist zu begrüßen, denn Märkte, Konsum und Handel sind zentrale Themen nicht nur der Wirtschafts-, sondern auch der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Der Blick nach Großbritannien erscheint in diesem Zusammenhang vor allem deshalb lohnend, weil die Entwicklungen dort häufig Vorbildfunktion für andere Länder hatten.
Das zeigt sich beispielhaft an dem Buch von Christiane Eisenberg, das die Kommerzialisierung der englischen Gesellschaft in langfristiger Perspektive, vom 11. Jahrhundert bis um 1800, beschreibt und analysiert. Die Studie möchte einen Beitrag leisten zur Neuausrichtung der Historischen Sozialwissenschaft, deren Forschungsparadigma des Industriekapitalismus in die Krise geraten ist. An seine Stelle solle die Marktgesellschaft treten, wobei Märkte als Arenen konzipiert werden, in denen konkurrierende Anbieter und Nachfrager miteinander in Beziehung treten. Sie bilden nicht nur Strukturen, sondern auch Ligaturen von Gesellschaften aus.
Im ersten Teil der Studie werden die mittelalterlichen Grundlagen der englischen Marktgesellschaft skizziert. Sie sind vor allem in der relativ frühen Entstehung eines Zentralstaats nach der normannischen Eroberung von 1066 und in der besonderen Natur des englischen Feudalismus mit seiner durchlässigen Sozialstruktur zu sehen. Das Common Law kombinierte Rechtssicherheit mit einer Flexibilität, die der sich rasch wandelnden Gesellschaft angemessen war. Subsistenzwirtschaft spielte schon im späten Mittelalter im Unterschied zu Kontinentaleuropa kaum noch eine Rolle. Der zweite Teil untersucht die Marktverdichtung in der Frühen Neuzeit, die durch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Agrarrevolution gefördert wurde. Auch die gewerbliche Wirtschaft wuchs und trug zur zunehmenden Integration von Stadt und Land bei. Die Zünfte erfuhren bereits im 16. Jahrhundert eine nachhaltige Schwächung, und die Produkte des ländlichen Gewerbes ermöglichten die Herausbildung einer Konsumgesellschaft, deren Anfänge Eisenberg schon im frühen 17. Jahrhundert verortet. Einen weiteren Schub brachte die Finanzrevolution des 18. Jahrhunderts.
Der dritte Teil widmet sich den Einbettungen des Markthandelns. Die Entstehung der Marktgesellschaft musste durch komplementäre soziale Institutionen abgesichert werden. Dazu gehörten Vertrauen als Mittel zur Senkung von Transaktionskosten, eine periodische Presse zur Verbreitung von Neuigkeiten und kommerzielle Freizeitbeschäftigungen. Der Schlussteil spitzt die Ergebnisse der gelungenen Studie thesenhaft zu. England war um 1800 bereits ein modernes Land und ein Mensch von heute würde sich dort besser zurechtfinden als ein zeitgenössischer Tourist aus Kontinentaleuropa. Dennoch führte die Kommerzialisierung nicht zwangsläufig zur Industrialisierung, für die sie vielmehr eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung darstellte. Der Prozess verlief nach einem äußeren Anstoß (1066) weitgehend pfadabhängig und autochthon, ohne größere Brüche und ohne wesentliche Impulse von außen.
Insgesamt handelt es sich um eine beeindruckende Syntheseleistung, in der wesentliche Entwicklungen und komplexe Sachverhalte konzise auf den Punkt gebracht werden. Einwenden könnte man allenfalls, dass der Kommerzialisierungsprozess möglicherweise nicht ganz bruchlos verlief, wenn man zum Beispiel an die Lebensmittelproteste in der Frühen Neuzeit denkt. Ob Englands Entwicklung wirklich exzeptionell war oder ob nicht auch andere Regionen Europas bereits frühzeitig Züge einer kommerziellen Kultur ausprägten, muss die weitere Forschung zeigen.
Der von Lawrence Black und Nicole Robertson herausgegebene Sammelband bündelt 14 Aufsätze zu den britischen Konsumgenossenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Das Faszinierende an diesen ist einerseits, dass sie ein Gegenmodell zur kommerziellen Konsumkultur darstellten, andererseits ihr spektakulärer Erfolg bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und ihr rascher Niedergang danach. Erfrischend an diesem Sammelband ist vor allem die lebendige Streitkultur, die sich in ihm dokumentiert. So werden vielfältige Ursachen des Scheiterns angeführt: Während Lawrence Black die versäumte Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg als Hauptursache ansieht, argumentiert John Walton, die Reformen, wie Fusionen der kleinen Genossenschaften oder Abschaffung der Dividende, hätten die Identifikation der Mitglieder mit ihrer lokalen Genossenschaft unterminiert. Stefan Schwarzkopf sieht in der Vernachlässigung der Werbung nach dem Zweiten Weltkrieg, nach vielversprechenden Ansätzen in der Zwischenkriegszeit, einen Grund für den Niedergang. Lesley Whitworth kritisiert die mangelhafte Zusammenarbeit mit dem Council of Industrial Design, die ebenfalls über einige gute Anfänge nicht hinauskam. Die beiden zuletzt genannten Aufsätze sind auch deswegen interessant, weil sie zeigen, dass die Verkaufskultur der Konsumgenossenschaften nicht prinzipiell mit moderner Werbung und gutem Design unvereinbar war. Espen Ekberg vergleicht schließlich die britische mit der erfolgreicheren Entwicklung der Konsumgenossenschaften in Norwegen, wo allerdings die Konkurrenz der Supermarktketten erst später einsetzte.
Ein weiteres wichtiges Thema des Sammelbands bilden teils konkurrierende, teils kompatible Ideologien und Identitäten. Stephen Yeo argumentiert, die Konsumgenossenschaften von heute seien ein funktionales Äquivalent zu den von Emile Durkheim geforderten professionellen Organisationen. Rachael Vorberg-Rugh zeigt die Spannung zwischen genossenschaftlichen Idealen und Wirklichkeit am Beispiel der Diskussion über die Entlohnung von Frauenarbeit in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf. Matthew Anderson untersucht das Verhältnis der Konsumgenossenschaften zur Fair Trade-Bewegung seit etwa 1960. Die beiden Bewegungen, die sich heute als natürliche Verbündete sehen, hatten am Anfang wenig miteinander zu tun, da in den 1960er und 1970er Jahren die Genossenschaften vor allem nach höherer Profitabilität strebten. Sie revidierten ihre Haltung erst auf Druck der Mitglieder - im Gegensatz zur ersten Jahrhunderthälfte, als die genossenschaftlichen Ideale auch dann beibehalten wurden, wenn sie bei den Mitgliedern wenig populär waren, wie Chris Wrigley in seinem Aufsatz zur Erinnerungskultur demonstriert.
Insgesamt handelt es sich um einen hochinteressanten Band, der zwar kein geschlossenes Bild der britischen Konsumgenossenschaften bietet, dafür aber einige ältere Debatten fortführt und gleichzeitig wichtige neue Anregungen enthält.
Manuel Schramm, Chemnitz