ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jochen Oltmer/Rose Scholl (Hrsg.), In Garbsen angekommen. Zuwanderung und Integration vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, ecrivir - die textmacher GmbH, Hannover 2006, 152 S., kart., 10,90 €.

Auf Anregung des Ausländerbeirats der niedersächsischen Stadt Garbsen entstand der vorliegende Sammelband „In Garbsen angekommen“, der einzelne Aspekte der Zuwanderung und Integration lokalhistorisch aufarbeitet. Eigens dafür wurden von der Stadt Garbsen zwei Magisterarbeiten gefördert, die hier in gekürzter Form veröffentlicht worden sind.

Eingeleitet werden diese Beiträge mit einem Aufsatz des Migrationshistorikers Jochen Oltmer, der am Beispiel Niedersachsens die Grundzüge der deutschen Migrationsgeschichte aufzeigt und in einer Überblicksdarstellung knapp die vielfältigen Wanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg erläutert. Anhand der Betrachtung unterschiedlicher Migrationsgruppen, wie zum Beispiel der Evakuierten, Displaced Persons und Flüchtlinge in der Nachkriegszeit, der Arbeitsmigranten, der Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber der 1980er und 1990er Jahre oder aber der Spätaussiedler veranschaulicht Oltmer zum einen die wachsenden staatlichen Einflussnahmen in Form von Steuerungs- und Kontrollversuchen der Migrationsverläufe. Zum anderen werden durch die Auflistung der verschiedenartigen Wanderungsbewegungen Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten sichtbar. Ähnliche Umgangsweisen mit den Folgen von Zuwanderung offenbaren sich etwa bei Fragen der Wohnversorgung oder aber in gemeinsamen Aspekten arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischer Funktionen von Migration. Durch den Fokus auf staatliche und kommunale Politiken entsteht teilweise der Eindruck, dass die Entwicklungen des Migrationsgeschehens letztlich allein auf diese zurückzuführen seien. Dabei gibt es in Oltmers Ausführungen zahlreiche Hinweise darauf, dass Migrationsbewegungen Regulierungs- und Steuerungsstrategien oftmals unterlaufen beziehungsweise zu Modifikationen staatlicher Interventionen führen, also nicht bloß auf diese reagieren. Der weitgefasste Überblick ermöglicht zwar keine tiefer gehenden Analysen, aber die Beschreibung der diversen Migrationsgruppen in ihrem Aufeinanderfolgen und ihren Überlagerungen macht die Normalität und Allgegenwärtigkeit von Migration sichtbar, auch wenn Migrationspolitiken und Einwanderungsoptionen sich seit 1945 stark verschoben haben.

Der Beitrag von Irina Porzler befasst sich mit dem Thema „Arbeitsmigration“ und dem Integrationsgeschehen in der Mittelstadt Garbsen. Im Zentrum stehen dabei die Geschichte des Ausländerbeirats und die Fragen, inwieweit dieses Gremium einen effektiven Beitrag zur Kommunalpolitik leisten konnte und ob der Ausländerbeirat Spiegel oder Motor der Integration war. Die in Garbsen seit den 1970er Jahren geführte und hier analysierte Debatte um die Einrichtung einer Ausländervertretung war zum einen mit der Aussicht auf Mithilfe bei der Lösung sozialer Folgeprobleme der Einwanderung verbunden. Zum anderen, und das machen die Eigeninitiativen der Migranten deutlich, ging es um das Einfordern kommunalpolitischer Mitbestimmung. Dass die Vorstellungen von der Bedeutung des 1984 gegründeten Gremiums bei den unterschiedlichen Beteiligten stark differierten, ergibt sich aus den Auseinandersetzungen um Wahlmodus, Zusammensetzung und vor allem Befugnisse des Beirats, die Porzler ausführlich wiedergibt. So stellt sie abschließend fest, dass die ungleichen Erwartungshaltungen sowie mangelnde politische Einflussmöglichkeiten des Beirats wichtige Gründe dafür waren, warum dieser wenig effektiv und gemessen an der Wahlbeteiligung auch wenig erfolgreich war. Die Frage nach der Integrationskraft des Ausländerbeirats wird zwar nicht explizit beantwortet, jedoch belegen die Initiativen zur Einrichtung einer offiziellen Vertretung, die Ablehnung einer bloßen Beraterfunktion und die kontinuierlich erneuerten Forderungen nach dem Kommunalwahlrecht für Ausländer, dass Migranten in Garbsen ihre politische Mitsprache und damit strukturelle Eingliederung anstrebten. Aufschlussreich für die Frage nach dem Integrationspotenzial wäre sicherlich eine Erörterung der Ein- und Rückbindung des Ausländerbeirats mit Blick auf die migrantische Bevölkerung und weitere städtische Organisationen und Entwicklungen Garbsens gewesen.

Noelle Noyes vergleicht in ihrer Abschlussarbeit die Integration von Spätaussiedlern in den alten und neuen Bundesländern. Ausgehend von der These, dass der Integrationsverlauf entscheidend von lokalen Rahmenbedingungen geprägt wird, stellte Noyes die Frage, welche Unterschiede sich bei der Integration von Spätaussiedlern in Ost und West bis heute festmachen lassen. Als Fallbeispiele für die verschiedenen Ausformungen von Zuwanderungskontexten wählt Noyes in ihrer Studie die Städte Garbsen und Strausberg. Im Vergleich zu Garbsen, wo seit den 1950er Jahren praktisches Handlungswissen im Umgang mit Aussiedlern, aber auch mit Arbeitsmigranten gesammelt werden konnten, fehlte den Strausberger Behörden dieser Erfahrungshorizont. Dies machte in den neuen Bundesländern eine Neugestaltung der Eingliederungsstrukturen und Unterstützungsmaßnahmen für Spätaussiedler sowie den Erfahrungsaustausch zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren erforderlich. Doch trotz des Engagements diverser Organisationen und der Präsenz des Themas „Spätaussiedler“ in Strausberg stellt die Autorin fest, dass - nicht zuletzt aufgrund der besseren Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt - insbesondere die soziostrukturelle Integration in Garbsen erfolgversprechender verläuft. Während viele Spätaussiedler an Strausberg allein durch das Wohnortzuweisungsgesetz gebunden sind und die Stadt demnach als Transitort wahrnehmen, haben sich in Garbsen stabile Strukturen und Netzwerke herausgebildet, welche sich obendrein stadträumlich abzeichnen. Warum solche Netzwerke und Orte der Migration in Garbsen allerdings langfristig ein Integrationshemmnis darstellen sollen, begründet Noyes nicht weiter. Hier stellt sich die Frage, mit welchem Integrationsbegriff gearbeitet wird. Die fehlende kritische Auseinandersetzung mit Integrationskonzepten erweist sich sowohl bei Noyes als auch bei Porzlers Studie als problematische Blindstelle, da lediglich auf ein grobes Allgemeinverständnis von Integration verwiesen wird.

Insgesamt verschafft der Band einen ersten Überblick über Niedersachsens Zuwanderungsgeschichte und nimmt mit den zwei Lokalstudien endlich auch Mittelstädte in den Blick. Für die Forschung wäre es sicherlich ertragreich, lokale Besonderheiten noch stärker herauszuarbeiten, wie dies etwa in Noyes städtevergleichendem Ansatz angelegt ist. Die Geschichte Garbsens und Niedersachsens verdeutlicht einmal mehr, dass Migration in Deutschland spätestens seit 1945 der Normalfall ist. So ist besonders erfreulich, dass eine Stadt wie Garbsen Wert darauf legt, die Erforschung der eigenen Migrationsgeschichte aktiv zu unterstützen und so den eigenen städtischen ‚Migrationshintergrund‘ zu betonen.

Raika Espahangizi, Darmstadt


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