ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rudolf Urban, Der Patron. Günter Särchens Leben und Arbeit für die deutsch-polnische Versöhnung, Neisse Verlag, Dresden 2007, 294 S., brosch., 24,00 €.

Es ist bezeichnend, dass das erste Lebensbild des Magdeburger Pioniers deutsch-polnischer Versöhnung, Leiter einer kirchlichen Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel, von einem polnischen Autor verfasst wurde, fand doch Günter Särchen mit seiner Polenarbeit westlich der Oder bislang nur geringe Aufmerksamkeit. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass nun aus der Feder eines polnischen Germanisten und Historikers eine das gesamte Leben von Särchen umfassende Biografie vorliegt. Sie entstand als Dissertation am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław, dessen Leiter Krzysztof Ruchniewicz dem Band ein Geleitwort vorgestellt hat.

Rudolf Urban hat im Unterschied zum Rezensenten den 2004 verstorbenen Magdeburger Laien im kirchlich-katholischen Dienst nicht persönlich gekannt. Er stützt seine Arbeit vor allem auf Särchens umfangreiches Privatarchiv. Zudem beruft er sich auf Interviews mit dessen Familienangehörigen und Weggefährten.

Der Autor sieht Särchens späteres Engagement für die deutsch-polnische Versöhnung in seiner deutsch-sorbischen Herkunft sowie in den Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft begründet. Letztere waren für den damals 18-Jährigen äußerst prägend, führten sie ihm doch die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs eindrucksvoll vor Augen und weckten in ihm den Willen, seine Kraft für ein anderes Deutschland einzusetzen. Urban zeigt auf über 100 Seiten, wie Särchen auf manchen Umwegen und im Rückblick doch zielstrebig Anfang der 1960er Jahre seine Lebensaufgabe in der DDR im Einsatz für die deutsch-polnische Versöhnung fand.

Die Zeit dazu war noch nicht reif, als Särchen mit dem Antritt seiner ersten kirchlichen Tätigkeit als Diözesanjugendhelfer in der Grenzstadt Görlitz Polen unmittelbar nahe war. Dort erlebte er den Abschluss des Görlitzer Vertrags, den er in einem seiner zahlreichen lyrischen Texte wie folgt kommentierte: „Zu eigenem Nutzen / Wird hier das Leid / Verdrängt / Verschwiegen / Als wäre alles gelöst / Durch Unterschriften“ (S. 77). Aus diesen Zeilen spricht eine Ahnung, dass anderes und mehr gefordert war, damit Deutsche und Polen friedlich und versöhnt zueinanderfinden.

Es sind oftmals bestimmte Umstände, die wir „Zufälle“ nennen, die unserem Leben die entscheidende Richtung geben. Das hat auch Särchen an sich erfahren. Das erste Signal für sein künftiges Polenengagement empfing er von Professor Stanisław Stomma, der ihm in späteren Jahren freundschaftlich verbunden war. Dieser hatte 1958 in der Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag veröffentlicht, der Särchen in die Hände fiel und in dem Stomma eine Neugestaltung des deutsch-polnischen Verhältnisses auf „moralischer Grundlage“ angeregt und dazu vor allem die Katholiken aufgerufen hatte (S. 107). Ebenso zufällig stieß Särchen ein Jahr darauf auf ein Faltblatt der von Präses Lothar Kreyssig gegründeten Aktion Sühnezeichen (S. 119). 1960 kam es dann zwischen Kreyssig und Särchen zu einer persönlichen Begegnung, allerdings nicht so unkonkret im Magdeburger Dom, wie Urban schreibt, sondern - höchst eindrucksvoll - vor Barlachs dortigem Antikriegsdenkmal, vor dem sich für Särchen sein Auftrag zur Sühne und Versöhnung endgültig klärte.

Mit welcher Entschiedenheit Särchen sein Polenengagement in Angriff nahm - Glockenspende, Sühnefahrten in die ehemalige Konzentrationslager Auschwitz, Majdanek und Groß-Rosen, seine Bildungsarbeit in den jährlichen Polenseminaren, der Versand von Literatur, die Erstellung von rund 50 Polenheften - all das wird vom Autor ausführlich beschrieben. Dabei standen die Aktivitäten von Särchen im Widerspruch zur kirchenpolitischen Linie einer gesellschaftlichen Abstinenz und wurden daher von seiner Kirche als zu konfliktträchtig eingeschätzt. Zudem sahen staatliche Stellen in Särchens Polenkontakten ohnehin eine sich ihrer Kontrolle entziehende illegale Tätigkeit. Indem Särchen trotz dieser Widerstände seine Ziele beharrlich verfolgte, hat er sich zu Recht den Titel eines „Patrons“ deutsch-polnischer Versöhnung erworben, wobei Urban bei dieser Bezeichnung auf den Code für die vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nach mancherlei Vorläufen gegen Särchen im Mai 1982 eingeleitete Operative Personenkontrolle (OPK) „Patron“ zurückgreift.

Sein Einsatz für die Versöhnung mit Polen bedeutete für Särchen eine sehr spannungsreiche Lebenssituation: Einerseits ging er als Laie bei polnischen Bischöfen ein und aus und pflegte persönliche Freundschaften mit namhaften Polen aus den Kreisen katholischer Intelligenz, andererseits war er in der DDR als Laie im kirchlichen Dienst in einer sehr untergeordneten Position. Um diese Spannung zu bewältigen, begab sich Särchen in die Rolle eines „Hofnarren“, auf die Urban hin und wieder anspielt. Damit ist ein wichtiger Aspekt im Leben von Särchen angedeutet, der eine eigene Untersuchung verdienen und das Bild der katholischen Kirche in der DDR um einige Facetten bereichern würde.

Die mit seiner Polenarbeit verbundene kirchliche wie staatliche Konfliktsituation eskalierte mit der von Särchen in der Reihe seiner Polenhefte herausgegebenen Solidarność-Handreichung, die sowohl die Staatssicherheit als auch die Berliner Bischofskonferenz auf den Plan rief (S. 174-178). Damit verschärfte sich auch Särchens ohnehin angespanntes Verhältnis zu seinem Ordinarius Bischof Johannes Braun, so dass er am Ende unter skandalösen Umständen aus dem kirchlichen Dienst ausscheiden musste (S. 183-197). Särchen ist damit der Reihe jener Katholiken zuzuzählen, deren Leben vom Leiden an ihrer Kirche geprägt war. So schrieb er 1982 in einem Brief an den Görlitzer Bischof Bernhard Huhn: „[Ich merkte] mehr und mehr, wie ich zwar die Arbeit leistete und trotzdem daran zerbrach, keinen Auftrag meiner Kirche mehr zu haben“ (S. 223). Mit den Schikanen und Verhören, denen er im Rahmen der OPK „Patron“ ausgesetzt war, hat Särchen einen hohen, letztlich seine Gesundheit untergrabenden Preis für sein Engagement gezahlt.

Abschließend sei auf einige korrekturbedürftige Stellen verwiesen. So fehlt auf S. 109 der Abdruck des von Särchen benutzten Stempels beim Versand von Literatur nach Polen, und in seiner Klageschrift gegen Bischof Braun die zweite Seite (S. 105). Bei „Neudeutschland“ handelt es sich nicht um eine „pazifistische und paneuropäische Bewegung“, wie Urban unter Berufung auf eine Fremdquelle schreibt, sondern um einen katholischen, in der NS-Zeit verbotenen Schülerbund (S. 104). Was schließlich die Solidarność-Handreichung betrifft, so ist diese nicht über das MfS in den Besitz der Berliner Bischofskonferenz gelangt (S. 177). Särchen hatte sie im Oktober 1982 auf der Zentralen Pastoralkonferenz den Leitern der Seelsorgeämter zur Verteilung in den jeweiligen Jurisdiktionsbezirken ausgehändigt. Da das Ordinariat nach Kenntnis des Inhalts auf unverzügliche Rücknahme bestand, ist anzunehmen, dass sie der Berliner Bischofskonferenz auf diesem innerkirchlichen Weg zugänglich gemacht worden war.

Theo Mechtenberg, Vlotho


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