ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie, C. H. Beck Verlag, München 2009, 638 S., geb., 34,00 €.

„Fritz Bauer und die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen“, so hätte der Titel von Irmtrud Wojaks Habilitationsschrift lauten können. Stattdessen ist daraus eine „Biographie“ geworden, die das Leben und Wirken des jüdischen Staatsanwalts erzählen will. Wojak findet, ein biografischer Zugang sei vor allem aus zwei Gründen gerechtfertigt: Zum einem spiegele sich im Leben Bauers das Jahrhundert der Katastrophen „exemplarisch“ wider, und zum anderen wolle sie Bauer einen „gebührenden Platz“ in der Geschichte des deutschen Rechtswesens verschaffen. Aus dem ersten Ansatz macht die Autorin nicht sehr viel. Auch wenn die Quellenlage schlecht ist, bleibt das Bild dieser exemplarischen Person sowie ihre Einbindung in die jeweilige Epoche eher blass. Die eigentliche Stärke der Arbeit liegt darin, die Bemühungen Bauers um die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrecher im In- und Ausland detailliert nachzuzeichnen. Wer die Geschichte der westdeutschen Justiz in den Nachkriegsjahrzehnten verstehen will, kommt an diesem Werk nicht vorbei.

In den ersten vier Kapiteln umreißt die Autorin Bauers Leben vor der erzwungenen Emigration. Am 16. Juli 1903 in Stuttgart geboren, studierte der Sohn einer schwäbisch-jüdischen Familie in München und Tübingen Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft und evangelische Theologie, promovierte in Heidelberg bei Karl Geiler, dem späteren hessischen Ministerpräsidenten, und wurde 1930 jüngster Amtsrichter der Weimarer Republik. Fehlende Quellen für diese Zeitspanne versucht Wojak wettzumachen, indem sie kleine historische Einführungen gibt - etwa in die Geschichte der Stuttgarter SPD. Oder sie nimmt das Bild des jungen Fritz im Matrosenanzug zum Anlass, die Flottenpolitik des Kaiserreichs und den Genozid an den Herero Revue passieren zu lassen. Oft fühlt sich Wojak einer Historiografie verpflichtet, die die Zeit nach 1900 teleologisch deutet: Dann steht die Jugendbewegung für einen gefährlichen Dezionismus (S. 65), Schnappschüsse aus den sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahren“ künden vom nahen Unheil (S. 83f.) und nur einige wenige begreifen „den Ernst“ der Stunde (S. 99). Wojaks Beschreibung jüdischen Lebens vor 1933 ist aus diesem Grund nicht sehr überzeugend. Mal schreibt sie, die Juden machten sich nach dem Ersten Weltkrieg „wenig Illusionen über ihr Heimatland“ (S. 80), mal pflichtet sie Raul Hilberg bei, die meisten Juden fühlten sich bereits vor 1933 vollkommen integriert (S. 119).

Die Zeit der Emigration (Kapitel 5 bis 6) und die ersten Nachkriegsjahre (Kapitel 7 bis 8), insbesondere jedoch die verschiedenen Prozesse gegen nationalsozialistische Verbrecher (Kapitel 9 bis 14) werden uns von Wojak plastisch vor Augen geführt. Nach etwas über acht Monaten Haft im KZ Heuberg emigrierte Bauer 1935 nach Dänemark, wohin bereits seine Schwester geflüchtet war und wo er bis 1943 - davon fast zweieinhalb Jahre in der Illegalität - ausharrte. Wie vielen anderen Verfolgten des NS-Regimes gelang ihm mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung die Flucht nach Schweden. Dort lernte er Willy Brandt kennen und arbeitete mit anderen exilierten Sozialisten und Kommunisten zusammen. Bauer kehrte nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst nach Dänemark zurück, um in einer Art „Schwebezustand“ (S. 217) die Möglichkeiten einer Rückkehr nach Deutschland zu überdenken. Mit Hilfe von Kurt Schumacher erhielt er im April 1949 das Amt des Landgerichtsdirektors in Braunschweig, ein Jahr später das des Generalstaatsanwalts am Oberlandesgericht der Stadt. Die Motive für Bauers Remigration sind weniger komplex als bei anderen Rückkehrern: Er wollte sich am Aufbau der Bundesrepublik beteiligen - mit Hilfe der juristischen Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts.

Bereits während seiner Amtszeit in Braunschweig kam es zum ersten Prozess: Er stellte Otto Ernst Remer vor Gericht, der als Kommandeur des Wachbataillons „Großdeutschland“ an der Niederschlagung des militärischen Widerstands vom 20. Juli 1944 maßgeblich beteiligt war und nach 1945 als Mitglied der Sozialistischen Reichspartei (SRP) weiterhin den Widerstand gegen Hitler diffamierte. Bauer ging es hierbei vornehmlich um die Rehabilitierung des 20. Juli in der westdeutschen Öffentlichkeit. Seine eigentlich ‚große‘ Zeit begann jedoch 1956: Nun holte ihn der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn als Generalstaatsanwalt ans Frankfurter Oberlandesgericht, von wo aus er die Schergen des ‚Dritten Reichs‘ mit juristischen Mitteln verfolgte. Er half bei der Erfassung Adolf Eichmanns, er versuchte, allerdings weitgehend erfolglos, die Verantwortlichen für die NS-Euthanasie („Aktion T4“) hinter Gitter zu bringen, und er strengte den Auschwitz-Prozess an, die wohl wichtigste öffentliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Massenmord in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.

Wojaks dichte Beschreibung beeindruckt vor allem in Bezug auf die Vorgeschichte und den Verlauf der jeweiligen Prozesse; die wichtige Rolle Bauers wird dabei gewürdigt und seine Stellung als einsamer Kämpfer hervorgehoben. Zu kurz kommt eine historiografische Einordnung der Ergebnisse. Da Fritz Bauer so sehr im Mittelpunkt steht, beurteilt Wojak die Entwicklung Westdeutschlands oft mit seinen Augen. Neuere Interpretationen, wonach die frühe Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte gelten kann (Edgar Wolfrum, Ulrich Herbert), werden mit der Begründung abgelehnt, eine solche Sicht bedeute ein „zweites Exil der Emigranten“(S. 243) - verkenne also, wie sehr die Opfer des Nationalsozialismus nicht zu ihrem Recht kamen. Hier unterscheidet die Autorin nicht zwischen verschiedenen Aspekten der westdeutschen Demokratisierung, die weder zeitgleich abliefen noch ablaufen konnten. Auch ihre berechtigte Kritik am Rechtspositivismus nach 1945 verlässt sich stark auf die Ausführungen Bauers, der sich wiederum auf Gustav Radbruch stützt. Hier wäre eine eingehendere Untersuchung der unterschiedlichen Rechtsauffassungen hilfreich gewesen. Schließlich werden zwei der wichtigsten neueren Untersuchungen zum Auschwitz-Prozess (Devin Pendas, Rebecca Wittmann) nicht gewürdigt, obwohl beide den Erfolg des Prozesses massiv in Frage stellen. Diese Kritik soll die beeindruckende Leistung Wojaks dennoch nicht schmälern, Fritz Bauer als Verfechter der Menschenrechte und Gerechtigkeit in Erinnerung gerufen zu haben.

Anthony D. Kauders, Keele


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