Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Heinz Reif/Moritz Feichtinger (Hrsg.), Ernst Reuter. Kommunalpolitiker und Gesellschaftsreformer 1921-1953 (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 81), Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2009, 320 S., geb., 34,00 €.
Nach Auffassung der Herausgeber zählt Ernst Reuter zu den bedeutendsten deutschen Politikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies sei von der Forschung über weite Strecken nicht hinreichend erkannt, Reuter auf das stereotype Bild des standhaft-pathetischen Verteidigers Berlins (S. 7) reduziert worden.
Demgegenüber konzentriert sich der zu besprechende Band auf Reuters Wirken als Funktionsträger in kommunalen Kontexten: als Sowjetkommissar im (selbstverwalteten) Wolgagebiet, als Stadtverordneter und Stadtrat in Berlin und als Oberbürgermeister in Magdeburg (vier Beiträge), des Weiteren als Delegierter und Präsident des Deutschen Städtetags vor 1933 und nach 1945 (zwei Beiträge) sowie als Kommunalfachmann (Urbanist) im türkischen Exil (drei Beiträge). Auf allgemeiner Ebene, aber mit erkennbarem Bezug zum Protagonisten widmen sich zwei einführende Artikel der Kommunalpolitik als Aktionsfeld der Sozialdemokratie vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik. Komplettiert wird der Band mit vier Beiträgen zu Reuters zweiten Berliner Jahren von 1946 bis zu seinem Tod im Jahr 1953.
Schlüssigkeit und Ergiebigkeit der gewählten Akzentverschiebung ergeben sich aus der Lektüre der einzelnen Beiträge von selbst, erweist sich doch Reuters politisches und administratives Handeln im kommunalen Kontext nahezu durchgängig durch die ihm eigene spezifische Verknüpfung von Praxis und Weltanschauung, von Realem und Idealem bestimmt. Dies war zu Beginn als unorthodoxer Kommunist nicht anders als am Ende des Wegs als sozialdemokratischer Regierungschef der Halb- und Frontstadt West-Berlin, von der aus er den Schulterschluss mit Adenauers West- und Kernstaatskonzept de facto praktizierte, die zögernden westdeutschen Ministerpräsidenten zur Annahme des Grundgesetzes drängte und nicht davor zurückschreckte, Kurt Schumacher zu desavouieren. Im Ernstfall stellten weltanschauliche, parteipolitische und sonstige Konventionen für Ernst Reuter keine unüberwindlichen Hindernisse dar, sofern nicht, wie im Fall des Stalinismus und des Nationalsozialismus, die Grenzen der politischen Moral und des demokratischen Kernbestands verletzt wurden.
Bei aller Sachlichkeit beinhaltete Reuters kommunales Wirken immer auch eine ideelle und visionäre Dimension. Dies gilt für die Idee des Munizipalsozialismus, durch den Aufbau gemeinwirtschaftlicher Strukturen im urbanen Rahmen dem Sozialismus sukzessive zum Durchbruch zu verhelfen, ebenso wie für das Ideal einer sozialen Infrastruktur und eines dynamischen Städtebaus sowie schließlich für die Vorstellung Berlins als Kernstadt im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Namentlich die Autoren der Beiträge zu den Weimarer Jahren scheuen nicht die Kritik an diesen zum Teil recht hoch fliegenden Plänen - so mit Blick auf die ungelöste Finanzierungsfrage im mit aller Entschiedenheit vorangetriebenen U-Bahn-Bau oder in Bezug auf Reuters Weltstadt Berlin-Vision, wie sie sich zunächst im Hinblick auf den Hermannplatz und seinem Weltstadt-Warenhaus und dann vor allem in Bezug auf den Alexanderplatz manifestierte. Mit der gemeinsam mit Martin Wagner betriebenen Konzentration der Stadtplanung auf den Alexanderplatz hoffte Reuter eine neue Ära der städtebaulichen Entwicklung Berlins unter dem Motto einheitliche Planung, einheitlicher Wille und zielbewusste Zusammenarbeit einzuleiten (S. 165). Voraussetzung hierfür waren Grundstückankäufe in großem Maßstab. Wie Heinz Reif in seinem Beitrag feststellt, machte Reuter, der die Ankaufspolitik administrierte, hier seine ganz persönliche Grenzerfahrung (S. 169) und verfehlte das zu weitgesteckte Ziel.
Die in der Einleitung des Bands zu Recht formulierte Kritik am flachen biographischen Narrativ des kalten Kriegers (S. 7) wird in den auf die Viersektorenstadt bezogenen Beiträgen in zu geringem Maße aufgegriffen. Deutlich wird, dass Reuter im November 1946 mit der festen Überzeugung nach Berlin kam, dass eine Unterordnung unter die sowjetische Politik politischen Selbstmord bedeuten würde. Unbehandelt bleibt indes, warum er den unter anderem auf Gemeinwirtschaft und Bildungsgerechtigkeit (Einheitsschule) zielenden Bestrebungen der 1946 gewählten Stadtverordnetenversammlung sowie der damit einher gehenden Politik des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Otto Ostrowski so wenig Unterstützung hat zukommen lassen. Damit aber dominiert einmal mehr der Topos des hellsichtigen Visionärs, der im Bewusstsein der weltpolitischen Mission (West-)Berlins bereits über die letztlich vergeblichen Bemühungen zur Wahrung der gesamtstädtischen Integrität hinausblickte. Dass die Dinge in Wirklichkeit doch komplexer waren und nicht wenige Berliner Sozialdemokraten sich schwer mit Reuters Berlinpolitik taten, deutet Siegfried Heimanns den Band abschließender Beitrag über Ernst Reuters schwieriges Verhältnis zum Landesverband der Berliner SPD unter Führung Franz Neumanns an.
Summa summarum ist den Herausgebern und den Autoren das Kompliment zu machen, einen bis auf wenige Ausnahmen überzeugenden und insgesamt sehr anregenden Sammelband zum Kommunalpolitiker und Gesellschaftsreformer Ernst Reuter geschaffen zu haben. Das Buch bezieht seine Originalität im Übrigen nicht nur aus der Befassung mit Reuters politischem Wirken in Deutschland, sondern eröffnet mit dem Fokus auf das türkische Exil einen neuen Schwerpunkt, der insbesondere dort innovative Perspektiven aufzeigt, wo neben türkischer Gastfreundschaft auch der dezidierte Erwartungshorizont Ankaras an Reuter (wie auch an andere auf der Suche nach einem Exilland befindliche deutsche Experten) thematisiert wird, und damit auf ein aussichtsreiches Forschungsfeld verweist.
Arthur Schlegelmilch, Hagen