ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Creuzberger, Stalin. Machtpolitiker und Ideologe, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2009, 343 S., brosch., 19,80 €.

Die vom Potsdamer Historiker Stefan Creuzberger verfasste Stalin-Biografie ist in erster Linie durch das vorgegebene Format der biografischen Übersichtsdarstellungen des Kohlhammer Verlags geprägt: Sie ist kurz, vermittelt einen guten Einblick in den aktuellen Forschungsstand und orientiert sich in ihrer Struktur und ihren Erklärungsmodellen an ein breites historisch interessiertes Publikum. Man kann vorab sagen, dass Creuzberger eine recht gute Einführung in die Vita Stalins gelungen ist und dass Erwartungen - gemessen an Zielsetzungen der Darstellung - nicht enttäuscht werden.

In seinen Erklärungsmustern und Deutungen setzt sich der Autor durchaus in kritischer Haltung mit dem breiten internationalen (vor allem angelsächsischen und deutschen) Forschungsstand auseinander, wobei besonders die Anlehnung an Jörg Baberowski und Robert Service auffällt. Von dem erstgenannten Historiker übernimmt Creuzberger das Gewaltkonzept, das im Diskurs der Stalin-Zeit zu einem Metamuster der Erklärung und Beschreibung stilisiert wird. Gewaltkultur als „Produkt seiner kaukasischen Sozialisation“ und der „bolschewistischen Ideologie“ (S. 51) wird Stalin (und dem Sowjetsystem) praktisch als genetische Eigenschaft zugeschrieben, die über Dispositionen, Motive und Handlungsmuster entscheidet. In dieser Perspektive sind „extreme Gewaltexzesse“ und „exzessive Gewaltkultur“ des Stalinismus wirksame Metaphern, die sowohl Fakten und Erklärungen organisieren als auch Themen und den Plot der historischen Erzählung maßgebend beeinflussen. Gewalt und Terror sind zweifelsohne zentrale Momente des stalinistischen Systems; falls man sie aber als absolute Dispositive im Rekonstruktionsprozess von „Wirklichkeit“ anwendet, schränkt man den Blick und den Interpretationsrahmen des Historikers in zweifacher Dimension ein: Gewalt wird, erstens, in teleologischer Weise durch Gewalt produziert, und da sie angeblich „überall“ ist (Baberowski), bleibt sie im semantischen Kosmos und im praktischen Feld der Akteure zwangsläufig alternativlos; für so eine allmächtige Erklärungsfigur gibt es, zweitens, auch wenig konzeptuellen Spielraum für die Zivilisationsmetapher (Stephen Kotkin), wenn es um die Darstellung der Großprojekte und des Alltags im Stalinismus geht, oder um das am Rande erwähnte Konzept der russischen Modernisierung ‚von oben‘ (S. 181). In dieser Hinsicht ist es kaum erstaunlich, dass der Leser über die Industrialisierung in der Sowjetunion sowie über soziale Aufstiegschancen und die Bildungsrevolution im Sowjetsystem der Stalin-Zeit so gut wie nichts erfährt.

Neben den durch Stalin internalisierten systemischen Eigenschaften „westlich-revolutionärer“ Provenienz (bolschewistische Ideologie) und kaukasischer Sozialisation problematisiert Creuzberger andere Charakterzüge seines Protagonisten, die ihm erstaunliche Erfolge in der politischen Karriere ermöglichten: „ausgeprägter Wille zur Macht“ (S. 58), „Wissensdrang“ (S. 60) sowie „Hang zur Listigkeit, zur politischen Manipulation und Intrige“ (S. 87). Überzeugend weist der Autor nach, dass die bolschewistische Kaderpartei mit ihrer „eiserne[n] Disziplin“ (S. 88) und ihrem bedingungslosen Unterwerfungsanspruch Stalins Streben nach absoluter Macht ermöglichte. Die Kontrolle über den Parteiapparat, der durch den Posten des Generalssekretärs gesicherte Wissensvorsprung und die geschickte Personalpolitik boten ausreichende Ressourcen, politische Konkurrenten innerhalb der Partei zu besiegen und zum Führer aufzusteigen.

Für Creuzberger ist Stalin Machtpolitiker und Ideologe zugleich. Die erste Komponente im politischen Profil Stalins sorgte dafür, dass er durchaus das Gespür für das Mögliche hatte und als Realpolitiker für Kompromisse und taktische Wendungen in bestimmten Situationslagen offen war (besonders wenn es um seine Machtstabilisierung oder -steigerung ging). Zu diesem machtpolitischen Dispositionsrahmen gehören auch die Vorsichtigkeit und eine Entwicklungen abwartende Haltung des sowjetischen Führers, ebenso eine Bereitschaft zu zynischen Umdeutungen, Schuldzuweisungen und Lügen als Wirklichkeitsdefinitionen. Die ideologische Komponente kam vor allem im marxistisch-bolschewistischen Umgestaltungsprogramm (Kollektivierung) mit brutalster Gewalt und der Eliminierung klassenfremder Elemente zum Ausdruck. Die ideologisch bedingte Weltwahrnehmung (Zwei-Lager-System und Kriegserwartung) rechtfertigte den permanenten Ausnahmezustand der sowjetischen Gesellschaft, den Terror und die Opfer des stalinistischen Systems (der Gulag, Zwangsumsiedlungen, Massenerschießungen und Verhaftungen der Jahre 1937 bis 1938, antisemitischen Wende und Fremdenfeindlichkeit der Nachkriegszeit).

Besonders plastisch zeigt Creuzberger die Verknüpfung von ideologischen und machtpolitischen Elementen der Politik Stalins im außenpolitischen Bereich: Das „Credo“ der Weltrevolution hat Stalin dem Autor zufolge auch nach der Verkündung der Losung „Sozialismus in einem Lande“ nicht aufgegeben und sich „unablässig aus tiefster innerer Überzeugung in den Bahnen der [...] bolschewistischen Weltanschauung“ bewegt. Die Weltrevolutionsmetapher als Zukunftserwartung war allerdings kein Meisterplan, sondern drückte insbesondere den Glauben an die historische Überlegenheit des kommunistischen Ordnungsentwurfs aus. Als primäres Ziel galt es, das Erreichte zu sichern und unter Umständen zu vermehren. Daher ist Stalin als Außenpolitiker für Creuzberger vor allem „ein Machtpolitiker, der sich pragmatisch-realistischen Ansätzen verpflichtet sah“ (S. 214). Zur Essenz der stalinistischen Außenpolitik, die sich dem Autor zufolge zum ersten Mal deutlich im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 manifestierte, gehörte vornehmlich „Stalins expansionistisches Denken in Einflusssphären und Sicherheitszonen“ (S. 237). Insgesamt kann in außenpolitischen Vorstellungen Stalins eine Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beobachtet werden: „die kommunistische Doktrin“ fiel „mit einem russisch-imperialen Weltblick“ zusammen (S. 241).

Imponierend ist der erklärte Versuch Creuzbergers, Stalin als Innen- und Außenpolitiker darzustellen, wobei beide Sphären durchaus in einem Konnex gesehen werden, was die Erklärungskraft des Ansatzes deutlich verstärkt. Die Ausgewogenheit des Urteils und die Vermittlung zwischen verschiedenen Sichtweisen machen eindeutig die Stärke der an einem synthetischen Deutungsangebot orientierten Darstellung aus, welche von der vorzüglichen Rezeption des neuesten Forschungsstands ergänzt wird. Das Buch kann uneingeschränkt jedem empfohlen werden, der den Einstieg in die Biografie Stalins oder auch die Vertiefung seines Wissenshorizonts sucht.

Alexander R. Schejngeit, Konstanz


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