ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sylvia Kesper-Biermann, Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 245), Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2009, VIII + 501 S., kart., 99,00 €.

Die neuere Geschichte des Strafrechts ist ein Stiefkind nicht nur der Sozial-, sondern auch der Rechtsgeschichte. Noch immer dominiert Eberhard Schmidts grundlegende Darstellung „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ von 1947. Dabei kann die Historische Kriminalitätsforschung die Entwicklung des Strafrechts nicht ignorieren. Sylvia Kesper-Biermann analysiert nun in ihrer 2007 in Gießen angenommenen Habilitationsschrift erstmals auf einer breiten Basis gedruckter und ungedruckter Quellen die Entstehungszusammenhänge der großen deutschen Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts, die im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kulminierten.

Kesper-Biermann skizziert einführend die Entwicklung der Kriminalität im 19. Jahrhundert, so weit sich letztere aus den überlieferten Statistiken rekonstruieren lässt. In ihrer Darstellung der intensiven Debatten über Kriminalität und Strafrecht seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gilt ihr besonderes Augenmerk dann denjenigen, die diese Debatten führten. Ihr analytischer Schlüsselbegriff ist der „Experte“. Dieser definiert sich über sein spezielles Wissen und wird durch die Nachfrage seiner Expertise öffentlich anerkannt. Bei den „Strafrechtsexperten“ des 19. Jahrhunderts handelte es sich um eine überschaubare Gruppe von Juristen, die als Praktiker spezielles Erfahrungswissen erworben hatten und die an der vor allem in einschlägigen Publikationsorganen geführten Debatte partizipierten. Es waren mehrheitlich politisch gemäßigt liberale Angehörige des Bildungsbürgertums, die sich selbst weitgehend als unabhängig und unparteiisch verstanden. Kesper-Biermann grenzt diese „Strafrechtsexperten“ von anderen Expertengruppen wie den „Strafvollzugs- und Kriminologie-Experten“ ab, die sie mit jeweils eigenen Diskussionszusammenhängen in Verbindung bringt, während sich die „Strafgesetzgebungsexperten“ auf die rechtlichen Normen konzentriert hätten.

Inhaltlich unterscheidet Kesper-Biermann mehrere Phasen der Diskussion über Strafgesetzgebung, angefangen mit der Krise der gemeinen Strafrechtsordnung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund hätten insbesondere die Kriminalrechtsexperten der Universitäten auf rechtsphilosophischer Grundlage ein neues Strafparadigma entwickelt. Um 1830 sei mit der Kodifikationstätigkeit der deutschen Staaten eine empirische Sichtweise in den Vordergrund getreten, bevor etwa ab der Jahrhundertmitte mit der Diskussion über ein gemeinsames deutsches Strafrecht ein neuer Schwerpunkt gesetzt worden sei. Die Verfasserin nennt dabei verschiedene Motive strafrechtlicher Kodifikation wie den Ausbau moderner Staatlichkeit, die Effektivierung der Verbrechensbekämpfung, administrative Rationalisierung und Durchsetzung staatlicher Souveränität, aber auch Vertrauensbildung durch die Gewährleistung von Rechtsschutz. In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts wurden bis auf wenige Ausnahmen auf deutschem Boden fast überall moderne Strafgesetzbücher verabschiedet.

Im umfangreichsten Kapitel ihrer Studie rekonstruiert Kesper-Biermann den Gesetzgebungsprozess in den Einzelstaaten. Am Beginn einer Strafrechtskodifikation stand ein Gesetzentwurf, mit dessen Abfassung bis in die 1830er Jahre überwiegend einzelne „Strafrechtsexperten“, später dann Kommissionen beauftragt wurden. Jeder Entwurf wurde durch Richter und Professoren begutachtet und teilweise durch Publikation zur Diskussion gestellt. Staatliche Gremien überarbeiteten den Entwurf mitunter gravierend, bevor nach Zustimmung des Monarchen die parlamentarische Beratung begann, die in Deutschland die Regel war. Im Plenum des Parlaments kam es vor allem zu Konflikten zwischen liberalen Abgeordneten und konservativen Regierungen, waren doch Kodifikationen wichtiger Bestandteil des liberalen Reformprogramms. Nach einer Endredaktion wurde das neue Strafgesetzbuch schließlich vom Monarchen sanktioniert; es wurde publiziert und trat in Kraft.

Zu Recht weist Kesper-Biermann darauf hin, wie eng die deutsche Strafrechtsentwicklung in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts mit der Idee der Nation, mit Nationalismus und Nationalstaatsbildung verknüpft war. Dahinter steckte zunächst der Wunsch, sich gegenüber dem napoleonischen Frankreich und dessen Gesetzgebung zu emanzipieren. Mit der Revolution von 1848 wurde die Frage der gesamtdeutschen Rechtsvereinheitlichung neu gestellt und entwickelte sich unter den veränderten Rahmenbedingungen der 1850er und 1860er Jahre zu einem Teilbereich der intensiven Debatte über die Verwirklichung nationaler Ziele, deren Realisierung nun für möglich gehalten wurde.

Ausführlich schildert die Verfasserin die weitere Entwicklung des nationalen Strafrechts unter den veränderten Rahmenbedingungen des Norddeutschen Bundes nach 1866 und der Reichsgründung 1871. Dabei wird deutlich, wie sehr die Strafgesetzgebung einen Schwerpunkt nationalliberaler Reformpolitik bildete, während die Konservativen primär an der Erhaltung des Status quo interessiert waren. So versuchten sowohl die Nationalliberalen als auch die preußische Regierung, im Gesetzgebungsprozess, etwa bei Fragen parlamentarischer Redefreiheit oder politischer Kriminalität, innerpreußische Konflikte im jeweils eigenen Sinne zu lösen. Umgekehrt wollten die deutschen Regierungen kein Reichsstrafgesetzbuch ohne Todesstrafe. Dessen Verabschiedung stellt für Kesper-Biermann die Vollendung der um 1800 begonnenen Strafrechtsreformbewegung dar. Eben deshalb sei das Gesetzbuch aber bereits binnen Kurzem das Angriffsziel einer neuen Reformbewegung geworden, die auf ganz anderen Prinzipien und Ordnungsvorstellungen beruhte.

Abschließend diskutiert Kesper-Biermann den Zusammenhang zwischen Reichsstrafgesetzbuch, Experten und Ideen. Sie kommt zu dem Schluss, dass sowohl die „Strafrechtsexperten“ als auch spezielles „Strafrechtswissen“ eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess gespielt hätten. Dabei habe sich das Ansehen der Experten durchaus gewandelt, da die Politik die Strafrechtswissenschaft in vielem für zu doktrinär gehalten habe. Strafrechtslehrer vertraten unterschiedliche bis gegensätzliche Auffassungen. Ihr „Expertenwissen“ wurde im Gesetzgebungsprozess als Argumentationshilfe benutzt, um bereits getroffene Entscheidungen öffentlich zu legitimieren, und so in der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert. Kesper-Biermann hält fest, dass Straftheorien und Rechtsphilosophie im Gesetzgebungsprozess zwar eine wichtige Rolle spielten, im Laufe des 19. Jahrhunderts aber einen Bedeutungsverlust erlebten, in dessen Verlauf aus der Strafrechtswissenschaft als Leitwissenschaft eine „Hilfswissenschaft“ wurde.

Sylvia Kesper-Biermanns strukturierte und gut lesbare Studie zur Kodifikation des deutschen Strafrechts im 19. Jahrhundert schließt eine gravierende rechtshistorische Forschungslücke. Ihrem eigenen Anspruch einer „Neuen Ideengeschichte“ genügt sie indes nicht. Dies liegt nicht zuletzt an ihrer Prämisse, Gesetze und andere rechtliche Normen stellten eine Art dritte Ebene zwischen Theorie und Praxis dar. An Diskursanalysen, die gerade an dem Spannungsverhältnis zwischen Diskursen und Praktiken ansetzen würden, lässt sich damit nicht anschließen. Freilich verzichtet Kesper-Biermann bewusst auf Diskurstheorie. Was sie als „Diskurs“ bezeichnet, könnte man deshalb aber auch schlicht „Diskussion“ nennen.

Es ist müßig, über die Richtigkeit dieses Ansatzes zu streiten. Analytische Probleme sind gleichwohl nicht zu übersehen. So begibt sich Kesper-Biermann der Möglichkeiten, einerseits die Machtstrukturen und Interessen zu präzisieren, welche die Debatten um das Strafrecht durchzogen, und andererseits etwa die verschiedenen Kapitalien zu rekonstruieren, durch die bestimmte Diskurse durchgesetzt werden konnten. Stattdessen bedingen Explanandum und Explanans einander. Denn der „Strafgesetzgebungsdiskurs“ wurde wesentlich von „Strafrechtsexperten“ bestimmt, die ihren Status als Experten hauptsächlich daraus herleiteten, dass sie an diesem „Diskurs“ teilnahmen. Das ambivalente Verhältnis der „Verrechtlichung“ zur Politisierung und Bürokratisierung im 19. Jahrhundert bleibt damit ebenso ausgeklammert wie sozialhistorisch relevante Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen Diskursen und Praktiken des Strafrechts. Wie Kesper-Biermann in ihrem kurzen kriminalstatistischen Überblick ja bemerkt, nahm die Zahl der preußischen Zuchthausgefangenen nach und durch die Verabschiedung des Strafgesetzbuchs von 1851 stark zu. In welcher Weise die Probleme des Strafvollzugs auf die Strafgesetzbücher des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches zurückwirkten, diskutiert sie indes nicht. Tatsächlich interessierten sich die „Strafrechtsexperten“ wenig für den Vollzug der Freiheitsstrafe, die staatlichen Verwaltungen aber sehr wohl, und es wäre ein lohnendes Unterfangen, diese Reibungsfläche näher zu untersuchen.

Andreas Fleiter, Bochum


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