ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Steinbach, Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre. Professorensozialismus in der akademischen Provinz, Metropol Verlag, Berlin 2008, 397 S., geb., 24,00 €.

„Warum Ernst Abbe nicht vom Himmel fiel“ - dies ist der Titel des Resümees der 2008 von Matthias Steinbach vorgelegten Habilitationsschrift. Der Satz ist mithin Ausgangspunkt der Arbeit. Denn es geht in ihr nicht nur um den bekannten Jenaer Physiker und Sozialreformer, der den Achtstundentag, eine der Grundforderungen der Arbeiterbewegung, in den Zeiss-Werken durchsetzte. Vielmehr thematisiert sie seine Vorläufer im Geiste.

Matthias Steinbach ist der Wissenschaftsgeschichte durch Publikationen zur Jenaer Universitätsgeschichte bekannt, und auch das vorliegende Buch befasst sich mit Aspekten der Alma Mater Jenensis. Gleichwohl, so betont der Autor, intendiert er, den engen Rahmen von Wissenschaftsgeschichte zu sprengen und sie als Teil einer Stadt-, Bürger- und Gesellschaftsgeschichte zu konzipieren.

Thema der Arbeit sind Professoren, die im ausgehenden 17. und 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert an den Schnittstellen von Wissenschaft, Sozialpolitik und Zivilgesellschaft in Jena wirkten. (1) Steinbachs These ist, dass „sich ein wesentlich durch das universitäre Bildungsbürgertum getragener Prozess ‚expansiver Pädagogisierung des gesellschaftlichen Lebens‘ in sozial wie kulturell homogenisierender Absicht beobachten“ (S. 11) lässt. Dies zeigt der Autor am Beispiel von Professoren, die aus unterschiedlichen fachlichen Bereichen stammten, Erziehungskonzepte entwarfen und auf diesem Weg versuchten, Antworten auf die drängenden sozialen Probleme ihrer Zeit zu finden. Die Ergebnisse können sich nach Steinbach sehen lassen: „Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft ließ sich so eine Fülle von Ideen, Institutionen und Praxisfeldern ausmachen und durchleuchten, in denen Gelehrte, respektive Pädagogen, gemeindeliberale Politik betrieben“ (S. 332). So wirkte etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Mediziner Dietrich Georg Kieser neben seiner Rolle als Professor und Arzt auch als Sozialreformer. Mit Blick auf eine Reform des Psychiatrie- und Zuchthauswesens arbeitete er an einem liberalen, sozialpädagogischen Konzept, das die Individualität und Heilbarkeit beziehungsweise soziale Reintegration der jeweiligen Insassen in den Vordergrund stellte. Eng verband Kieser dabei seine Arbeit und Erkenntnisse mit dem Wissenschaftsbetrieb. Er engagierte sich für die Anerkennung des Fachs Psychiatrie bei der Ausbildung von Ärzten und gründete 1848 eine private „akademische Klinik für Geisteskrankheiten“, die zur institutionellen Grundlage für die Fachdisziplin wurde.

Ein anderes Beispiel für das Ineinandergreifen von Wissenschaft und sozialer Praxis zeichnet Steinbach am Beispiel des klassischen Philologen Ferdinand Hand nach, der sich intensiv in der Armenfürsorge und in der Volkspädagogik engagierte. Er gründete eine „Erziehungs- und Ausbildungsanstalt für ‚arme und der Gefahr preisgegebner Knaben‘“, eine Sonntagsschule, die ein „Lern- und Sozialisationsort für vagabundierende Proletarierkinder“ (S. 142) sein und als Ersatz für die noch fehlenden öffentlichen Schulen fungieren sollte. Darüber hinaus reorganisierte er das Jenaer „Arbeitshaus“, wo es ihm - ganz im Sinne aufklärerischer Ideale - darum ging, arbeitslose Bettler nicht weiter auszugrenzen, sondern ihnen vielmehr Möglichkeiten der sozialen Reintegration zu bieten. Deutlicher als bei Kieser und Hand zeigte sich das Rückwirken des sozialen Engagements auf die wissenschaftliche Disziplin bei dem Agrarwissenschaftler Friedrich Gottlob Schulze. Schulze griff mit seinen Überlegungen zur Agrar- und Landarbeiterfrage eines der Grundprobleme der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert auf, wobei es ihm vor allem um die enge Verbindung von Wissenschaft und realer Berufspraxis ging, in deren Kontext er das landwirtschaftliche Unterrichtswesen reformierte.

Weitere Ergebnisse bürgergesellschaftlicher, sozialpolitischer Projekte waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ausarbeitung und Realisierung neuer Volksschulkonzeptionen (vor allem durch die Pädagogen Karl Volkmar Stoy und Wilhelm Rein) sowie die Einrichtung der Jenaer Lesehalle im Jahr 1896. Diese erfolgreiche und viel frequentierte Einrichtung setzte auf Integration verschiedener politischer Lager und sozialer Schichten.

All diese Beispiele führt Steinbach mit dem Ziel an, der allgemeinen „Auffassung und eigentlich dem Klischee vom Professor als realitätsfernen, zumal politisch konservativen ‚Klassenkämpfer von oben‘“ (S. 10f.), wie sie in Anlehnung an Fritz K. Ringers „Mandarine“ und Hans Peter Bleuels „Deutschlands Bekenner“ nach wie vor dominiere, zu widersprechen. (2) Gerade die Jenaer Professorenschaft des 19. Jahrhunderts habe sich wiederholt als sozial verantwortungsvolle Bürgerschaft erwiesen; sie habe politische Aufklärung und Harmonie, Integration und Verständigung beabsichtigt; erfolgreich hätten sich die Professoren den Herausforderungen des gesellschaftlichen und politischen Wandels ihrer Zeit gestellt. Dies sei, so die Annahme Steinbachs, kein Jenaer Spezifikum. Vielmehr geht er davon aus, dass sich seine Erkenntnisse auch auf andere deutsche Universitäts- und Bürgerstädte übertragen lassen (S. 340).

Mit dieser Feststellung verknüpft sich ein weiterer Anspruch der Arbeit, der für die Wissenschaftsgeschichte insgesamt weiterführende Relevanz besitzt: die stärkere Verschränkung von Prozessen in Wissenschaft und Universität mit denen in ihrem direkten Wirkumfeld, respektive der Stadt. Es erscheint durchaus sinnvoll, den Professor nicht nur in seinem wissenschaftlich-akademischen Umfeld zu betrachten, sondern auch als Bürger und Teil der städtischen Gemeinschaft.

Für den ambitionierten Charakter der Studie steht auch ihr wiederholter Gegenwartsbezug. Die historisch rekonstruierte Erfolgsgeschichte habe Vorbildwirkung für das Heute, so Steinbach. Demzufolge erscheint es kaum zufällig, dass er mit Referenz auf das Diktum von Karl Marx „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ seine Arbeit mit den Worten schließt: „auch uns schließlich, die wir mitunter nach höheren Mächten schielen und auf Entscheidungen politischer und bildungspolitischer Autoritäten warten, würde die Gegenwart des Marxschen Mottos nicht schaden. Sie wäre zumindest der beständige Verweis auf das einfache Prinzip des Fortschritts und der Veränderung durch Selbsttätigkeit“ (S. 341). Groß ist also die Sympathie, die Steinbach dem Gegenstand und den Akteuren entgegenbringt, und deshalb ist es umso bedauerlicher, dass sich diese dem Leser nicht immer adäquat erschließt, dass sich das Panorama der weitgefächerten Aktivitäten der engagierten Jenaer Professorensozialisten nicht so recht eröffnen will. Dies liegt vor allem daran, dass Steinbach an strukturierenden Mitteln, an Einleitungen in die einzelnen Kapitel oder Zwischenfazits spart, was zur Folge hat, dass dem Leser trotz des quellengesättigten und detailreichen Gehalts der Arbeit ihr roter Faden wiederholt verloren geht.

Anna Lux, Leipzig

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 13. Juli 2010