ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Jung, Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989 (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, Bd. 16), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007, 378 S., brosch., 39,00 €.

Vor dem 9. November 1989 haben sich nicht nur die hochrangigen Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), aber diese insbesondere als ‚Sieger‘ über den von ihnen als überlebt angesehenen Kapitalismus angesehen. Das (eigene) Scheitern im Herbst des gleichen Jahres musste zwangsläufig eine Makulatur der bisherigen Ansichten bedeuten. Findet sich diese Erkenntnis auch in ihren im wiedervereinigten Deutschland verfassten Autobiografien, Memoiren und Selbstzeugnissen?

Christian Jung hat in seiner Dissertation den Versuch einer Auswertung dieses hochinteressanten Quellenmaterials unternommen. Unter dem markigen Titel „Geschichte der Verlierer“ verbirgt sich jedoch weniger eine fundierte Untersuchung der vorwiegend monografischen Erinnerungen, Interviews und anderen relevanten autobiografischen Zeugnisse. Vielmehr hat sich der Autor einer „deskriptiven Darstellung der in den Autobiografien behandelten Themen, Komplexe und Selbstreflexionen“ (S. 29) verschrieben. Die von ihm angekündigte „vergleichende Analyse“ (S. 29) werden nicht wenige Leser bis zum Ende der Ausführungen vermissen. Immerhin bietet die Studie einen unter immenser Fleißarbeit angefertigten bibliografischen Apparat, der erstmals die Selbstzeugnisse der hochrangigen SED-Funktionäre zusammenfasst. In der eigentlichen Darstellung fehlen jedoch wiederum viele der vom Autor zusammengetragenen Werke.

Jung stellt seinen eigentlichen Ausführungen voran, dass es ihm ein „besonderes Anliegen“ ist, „für ein breites Publikum zu schreiben, indem sich neben Wissenschaftlern auch interessierte Laien wiederfinden“ (S. 26). Seiner Auffassung nach „darf“ die „Aufarbeitung der DDR-Geschichte [...] nicht einem exklusiven Kreis von Spezialisten vorbehalten sein, die es durch spezielle Einzeluntersuchungen und durch oftmals äußerst theoretische Fragestellungen und Orchideenthemen versäumen, die historische Analyse und zeitgeschichtliche Erzählung wieder durch eine verständliche Sprache zusammenzuführen“ (S. 26). Ein löblicher Ansatz, den der Autor einige Zeilen zuvor selbst ad absurdum führt. Er klassifiziert dort seine Forschungsmethode als „systematisch-analytisch“ (wobei zu fragen ist, was genau er darunter versteht), die „in ihrer Heuristik einen prosopografischen, hermeneutischen Ansatz mit induktiver Ausrichtung“ (S. 25f.) verfolgen würde. Der von ihm so geschätzte ‚Laie‘ mit Interesse für die DDR-Geschichte wird allerdings allein vor diesen (aneinander gereihten) Determinanten kapitulieren. Vielleicht finden recht laxe Formulierungen wie etwa, dass sich die SPD „ein weiteres Eigentor [...] schoss“ (S. 211), Anklang bei dem avisierten Publikum. Der Wissenschaftler hingegen wird sich während der Lektüre wiederholt fragen, worin die Methodik von Jung nun genau besteht.

Schon allein die Systematik der Studie ist gewöhnungsbedürftig und in vielen Punkten wenig erhellend. Nach einer quälend langen Einführung, in der relativ spät zum eigentlichen Thema der Untersuchung gefunden wird, widmet sich Jung in dem von ihm als „Überblick“ bezeichneten ersten Kapitel um so kürzer dem von ihm analysierten Quellenmaterial: den Selbstreflexionen der ehemaligen Spitzenfunktionäre der SED. Es handelt sich de facto um eine reine Aufzählung der bis dato erschienenen Zeugnisse dieser „hochrangigen Mitglieder“ der Staatspartei. Ausführungen über die Motivation derselben, sich zu artikulieren, vermisst man vollends wie auch eine systematische Einteilung der vorliegenden Schriften.

Der folgende Abschnitt „Selbstreflexion“ erschöpft sich in theoretischen Gedankenspielen über die historische Autobiografie. Sicher, der Abriss über die antike Historiografie ist nicht uninteressant, lässt sich jedoch mit dem eigentlichen Thema der Untersuchung nur bedingt in Verbindung setzen. Für Plattitüden gleichenden Feststellungen wie etwa „[s]pätere persönliche Erinnerungen stimmen vielfach nicht mehr mit den früheren überein“ (S. 47), oder dass „Geschichten aus der Vergangenheit fortwährend subjektiv aktualisiert werden“ (ebd.), hätte es dieses Kapitels nicht bedurft. Die Anleihen in der Literaturwissenschaft sind überdies auf das Thema bezogen rudimentär, was angesichts der Quantität hierzu erschienener Texte nicht überrascht. Einen wichtigen theoretischen Ansatz lässt Jung darüber hinaus ganz außer Acht. Im Gegensatz zu anderen Autoren haben gerade die schreibenden Arbeiterfunktionäre ihre Autobiografien insbesondere nach dem Kriterium verfasst, dass sie sich in erster Linie als Teil der (kommunistischen) Bewegung präsentieren. Ihnen ging und geht es weniger um die Darstellung der eigenen Individualität. Die Aussage Jungs hingegen am Ende des Abschnitts, dass die „autobiografischen Berichte“ der Funktionäre als „wertvolle Artefakte der deutschen Zeitgeschichte [...] für die Quellenarbeit [...] ein noch unterschätztes Instrumentarium“ sind, kann als überholt angesehen werden, wenn sie es nicht schon bei der Niederschrift war.

Das nächste, im Vergleich zu den übrigen eher kurz geratene, Kapitel beschäftigt sich mit der „Sozialisation“ der von Jung untersuchten Autorengruppe. Nicht unerwartet legitimieren die ehemaligen Spitzenfunktionäre fast allesamt mit einer tatsächlichen oder konstruierten Herkunft aus einem Arbeiter- und Bauernmilieu ihre Hinwendung zur kommunistischen Ideologie. Bei dieser deskriptiven Feststellung bleibt es jedoch. Hier hätte ein wenig mehr Analyse der Arbeit gut getan, insbesondere das Hinterfragen der Motivation für eine derartige Darstellung des eigenen Lebenswegs.

Der Deskription bleibt Jung auch im Folgenden treu. Zunächst kommentiert er im lapidar „Honecker“ betitelten Abschnitt mit autobiografischen Schnipseln die Ära des einst mächtigsten Mannes der DDR. Die Ausführungen sind in 15 Unterkapitel gegliedert. Angesichts der geringen Materialdichte hätte dabei auf einzelne Passagen ohne Weiteres verzichtet werden können, wie etwa auf „RAF/Tschernobyl“, zumal die Zusammenführung der beiden Determinanten fragwürdig erscheint. Den Leser erwartet mitnichten die Erkenntnis, dass westdeutsche Terroristen für den Reaktorunfall im sowjetischen Atomkraftwerk verantwortlich waren, wie es der Titel irrtümlich suggerieren könnte.

Problembehaftet ist auch das sich anschließende Kapitel, dessen inhaltliche Spannbreite von der politischen ‚Wende‘ in der DDR bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 reicht. Diesen Prozess bezeichnet Jung als „Verflüssigung“, seine ureigene begriffliche Erfindung, die sehr unglücklich gewählt ist. Wahrscheinlich lehnt die Jungsche Schöpfung sich an der allgemein-sprachlichen und vor allem im Politjargon gebrauchten Formulierung der „Verhärtung“ (der Fronten) an. Jene ist jedoch für das zeitgeschichtliche Phänomen der friedlichen Revolution in der DDR nicht nur unangemessen, sondern auch inhaltlich falsch. Der zweite deutsche Staat zwischen Elbe und Oder veränderte mitnichten seinen Aggregatszustand, sondern war einer gesellschaftlichen Transformation unterlegen. Im Übrigen handelt es sich um eine ziemlich langatmige Darstellung eines der sicher spannendsten Kapitel der deutschen Geschichte. Die Kommentierung desselben mit Versatzstücken aus den Autobiografien ehemaliger SED-Funktionärseliten ändert an dem Tenor der Aussagen nur wenig.

Dem sich anschließenden Abschnitt fehlt es ebenso, abgesehen von seinem (melo-)dramatischen Titel „Schuld und Verantwortung“, an inhaltlicher Tiefe. Wenig überraschend ist die Erkenntnis, dass auch nach dem Zusammenbruch des SED-Staats keiner der Protagonisten ein „Bedauern über die vielfältigen Unterdrückungsmaßnahmen der Staatssicherheit und die Opfer der SED-Diktatur“ (S. 130) empfunden hat. In diesem Zusammenhang lässt Jung völlig außer Acht, dass die Ex-Funktionäre für ihre Darstellung und auch für ihre Rezeption die alleinige Deutungsmacht beanspruchen. Daraus resultierend kann es keine ‚Schuld‘ geben. Die Etablierung des politischen Systems in der DDR, in dem sie agierten, war legitim - lediglich die ‚Missentwicklungen`, für die so gut wie niemand verantwortlich sein möchte, waren einer von ihnen wie auch immer gearteten gewünschten Entwicklung hinderlich. Jung bleibt angesichts dessen nur seine eigene moralische Empörung; die schon mehrfach entbehrte kriteriengeleitete Analyse verschwindet endgültig im Nirgendwo. Vielmehr verweist der Autor mit geradezu missionarischem Eifer auf Analogien zwischen SED-Funktionären und späteren PDS-Spitzenpolitikern (hier hätte sich zumindest bei Drucklegung der Studie die geltende Bezeichnung „Die Linke“ wiederfinden müssen), die zumindest für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit völlig unerheblich sind. Wünschenswert wäre stattdessen eine Gegenüberstellung des verwendeten Quellenmaterials mit der archivalischen Überlieferung gewesen, auf die Jung vollkommen verzichtet.

Am Schluss der Ausführungen steht das Kapitel „Zukunft“, das alles in allem nichts anderes darstellt als eine (im Vergleich zu den vorherigen Abschnitten) recht kurze Zusammenfassung. Hierzu ist lediglich noch anzumerken, dass dem hochinteressanten Quellenmaterial künftig hoffentlich eine fundiertere Analyse zu Teil werden wird.

Martin Handschuck, Schwerin


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