ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jan Schönfelder/Rainer Erices, Willy Brandt in Erfurt. Das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970, Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 332 S., geb., 24,90 €.

,,Willy Brandt ans Fenster“ - Weithin sichtbar wiederholt heute die Leuchtschrift auf dem Dach des „Erfurter Hofes“ den Ruf Hunderter, der am 19. März 1970 die Welt überraschte. Zusammen mit dem Foto des Bundeskanzlers am Erkerfenster des Hotels gingen die Sprechchöre in das kollektive Gedächtnis der Deutschen in Ost und West ein. Der Journalist Rainer Erices und der Historiker Jan Schönfelder haben pünktlich zum 40. Jahrestag des ersten Treffens eines Bundeskanzlers mit dem DDR-Ministerpräsidenten ein Werk vorgelegt, das den Tag von Erfurt und seine Vorgeschichte umfassend darstellt. Parallel dazu produzierten sie die MDR-Dokumentation „Willy Brandt ans Fenster“. Die Autoren ließen keine auffindbare Spur aus. Nur die Archive in Moskau, die bundesdeutschen Kabinettsprotokolle und die Erkenntnisse von Bundesnachrichtendienst sowie Verfassungsschutz blieben ihnen versperrt. Im Unterschied zum Film greifen sie im Buch fast gar nicht auf Interviews mit Zeitzeugen zurück, hingegen aber auf Memoiren Beteiligter. Sie begründen dies mit dem wissenschaftlichen Anspruch des Buchs. Dieser (eingelöste) Anspruch hat aber zum Glück nicht verhindert, dass das Ergebnis hervorragend lesbar ist. Zwar folgt die Untersuchung keiner theoretisch begründeten Fragestellung, aber nie wurde „Erfurt“ besser und vollständiger beschrieben.

Breiten Raum nimmt die Vorgeschichte ein, von Brandts Angebot zum Dialog mit der DDR-Führung in der Regierungserklärung 1969 bis zur Suche nach einem Ort für das Treffen. Wenig bekannt ist, dass der Bundeskanzler der DDR-Führung den Text der Regierungserklärung vom 28. Oktober vorab zukommen ließ, um sie auf die neue Politik vorzubereiten. Die Hoffnung von Egon Bahr, über Hermann von Berg, der den Text von ihm erhielt, ließe sich ein Backchannel nach Ostberlin einrichten, erfüllte sich aber nicht. Dort führte die neue Ostpolitik zu Konflikten zwischen Walter Ulbricht, der Verhandlungen befürwortete, und Erich Honecker, der weiterhin auf scharfe Abgrenzung setzte (und wohl auch hoffte, dadurch die Hilfe der Sowjetunion für seinen Aufstieg an die Spitze der DDR zu gewinnen). Noch hielt Ulbricht das Heft in der Hand. Am 12. Februar 1970 ging Ministerpräsident Willi Stoph auf Brandts Verhandlungsangebot ein und konkretisierte es: Beide Regierungschefs sollten direkt miteinander sprechen. Als Ort schlug er die „Hauptstadt der DDR“ vor. Aus Bonn kam Zustimmung. Aber so einfach ging es nicht weiter. Die Vorgespräche zwischen Ulrich Sahm, der die Bundesregierung vertrat und dessen Aufzeichnungen eine wichtige Quelle für das Buch sind, und Gerhard Schüßler kamen zum Stillstand, als die DDR dem Bundeskanzler vorschreiben wollte, wie er an- und abzureisen habe, um zu verhindern, dass er in West-Berlin Station machte.

Das erhoffte Gipfeltreffen schien an diesem Streit zu scheitern. Nun aber griff die sowjetische Führung ein. Von Egon Bahr, der zu den Verhandlungen über den deutsch-sowjetischen Vertrag in Moskau weilte, über das Problem informiert, bedeutete sie der DDR-Führung diplomatisch, aber nachdrücklich, dass taktische Flexibilität erforderlich sei. Als die bundesdeutschen Unterhändler schon die Gespräche abbrechen wollten, präsentierte Schüßler Erfurt als Alternative. Nun klärten beide Seiten zügig die Details. Auf westlichen Wunsch wurde beim Treffen das Protokoll auf ein Minimum reduziert.

Die sowjetische Führung setzte nicht nur den Verzicht auf Ostberlin durch. Sie ging sogar so weit, über Egon Bahr der Bundesregierung Details der Verhandlungsstrategie der DDR mitzuteilen. Ein wichtiger Grund für diese Offenheit war, dass Bonn die Moskauer Gesprächspartner stets umgehend und umfassend über den Fortgang der Verhandlungen informierte, während die SED-Spitzen erst deutlich später ihre Berichte ablieferten. Auch nach dem Erfurter Treffen war es erneut die westdeutsche Seite, die zuerst die Sowjetunion informierte. Egon Bahr flog dazu am 21. März nach Moskau. Wieder hinkte die DDR hinterher.

Kenntnisreich und unterhaltsam schildern die Autoren die praktischen Vorbereitungen der DDR auf das Gipfeltreffen. Von den Handwerkerkolonnen, die Hotel und Stadt in Schuss brachten, über die plötzlich überall in Erfurt verfügbaren Südfrüchte bis hin natürlich zu den Planungen der Sicherheitsorgane wird kein Thema ausgelassen, ohne aber den Leser zu ermüden. Dabei wird klar, dass spontane Kundgebungen der Sympathie für Willy Brandt und/oder des Protestes gegen das politische System der DDR durchaus ins Kalkül gezogen wurden. Insofern kamen die Vorkommnisse auf Erfurts Bahnhofsplatz nicht überraschend. Aber dennoch wurden Polizei und Staatssicherheit auf dem falschen Fuß erwischt. Die Verkettung falscher Lagebeurteilungen hat immer wieder den Verdacht genährt, es habe sich dabei um eine Verschwörung, etwa von Honecker gegen Ulbricht, um diesen schwach aussehen zu lassen, gehandelt. Die Autoren weisen dies kategorisch zurück. Die Vorgänge am 19. März 1970 in Erfurt sind hinlänglich bekannt. Das Buch schildert sie zutreffend, ohne sich in Details zu verlieren. Hier sei nur der Einfallsreichtum der (vielen) Sympathisanten Brandts an einem Beispiel deutlich gemacht: An mehreren Stellen wurde ein schlichtes „Y“ gezeigt, und jeder wusste (auch die Stasi), was das heißen sollte.

Bisher wenig war über den Besuch in Buchenwald bekannt. Die Idee, das ehemalige KZ aufzusuchen, stammte übrigens von einem Mitarbeiter Brandts namens Günter Guillaume. Klar wird, dass es die DDR bewusst darauf anlegte, Brandt in eine Falle zu locken. Gegenüber der Bundesregierung wurde vage erklärt, dass es den üblichen Ablauf geben werde. Nachfragen erhielten ausweichende Antworten. Dabei waren die Festlegungen des DDR-Protokolls von Anfang an eindeutig. In Buchenwald sollte das gesamte Repertoire diplomatischer Rituale eines Staatsbesuchs zum Einsatz kommen: militärische Ehrenformation und Abspielen der Nationalhymnen, um indirekt die völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesregierung durchzusetzen. Dem überraschten Bundeskanzler blieb nichts anderes übrig, als schweigend die Provokation über sich ergehen zu lassen. Die DDR-Führung war sich nicht einmal zu schade, in der Gedenkstätte dem Antifaschisten Brandt vom Vorsitzenden des Rats des Bezirks Erfurt eine Belehrung über neonazistische Tendenzen in der Bundesrepublik zu erteilen.

In der Rückschau sind für Egon Bahr die Sprechchöre der Erfurter Bevölkerung der (damals von ihm und anderen so nicht erwartete) Beleg dafür, dass jedenfalls die Ostdeutschen weiter die deutsche Einheit wollten. Je länger das Ereignis zurückliegt, desto einhelliger stimmen ihm die Historiker und die Journalisten darin zu. Aber den Beginn des deutsch-deutschen Tauwetters auf den 19. März 1970 zu datieren, wie es die Verfasser tun, geht wohl doch in die falsche Richtung. Ohne den Moskauer Vertrag wäre nicht auch zwischen Bonn und Ostberlin das Eis geschmolzen, wobei das Wasser im trennenden Graben immer noch sehr kalt blieb.

In einem einzigen Punkt enttäuscht das Buch leicht: Es gibt nur sehr kurz Auskunft über die Folgen für die Demonstranten. Wie viele Gerichtsverfahren und Verurteilungen es gegeben hat, bleibt unerwähnt. Die hohe Qualität des Werkes mindert dies nur geringfügig.

Bernd Rother, Berlin


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