ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Grundmann/Dieter Hoffmeister/Sebastian Knoth (Hrsg.), Kriegskinder in Deutschland zwischen Trauma und Normalität. Botschaften einer beschädigten Generation (Münsteraner Schriften zur Soziologie, Bd. 3), LIT Verlag, Münster/Berlin 2009, IX + 203 S., kart., 19,90 €.

Die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, eine lange Zeit „vergessene Generation“ (so der Titel eines 2005 von der Journalistin Sabine Bode herausgebrachten, inzwischen in mehreren Auflagen vorliegenden Buchs), sind nicht nur in den letzten Jahren irgendwie doch noch in ihrer speziellen „Generationalität“ entdeckt worden, sondern ihre Lebensgeschichten haben in den Medien, auf dem Buchmarkt und in diversen wissenschaftlichen Arbeitskreisen breite Beachtung gefunden - kein Wunder, denn die Angehörigen dieses quantitativ umfangreichen Bevölkerungsteils sind seit etwa zehn Jahren ins Rentenalter getreten, und viele von ihnen befragen sich seither rückblickend nach den Ausgangsbedingungen ihrer Biografie und den Nachwirkungen ihrer frühkindlichen Prägungen. Dabei spielt in vielen Fällen nicht zuletzt die Vaterlosigkeit beziehungsweise zeitweise „Vaterarmut“ etwa der Hälfte dieser Altersgruppe eine Anstoß gebende Rolle.

Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die im Frühjahr 2005 in der Frankfurter Universität einen großen und viel beachteten Kongress zu diesem Thema durchführte, hatte vor nun fast einem Jahrzehnt damit begonnen, entsprechende Projekte anzuregen und dafür auch Forschungsgelder einzuwerben. In diesem Kontext erhielt ein Wissenschaftlerteam der Universität Münster vom Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer Exzellenzinitiative die Mittel für ein Kriegskinderprojekt, das dann interdisziplinär von dem Soziologen Matthias Grundmann, dem Psychosomatiker Gereon Heuft und dem Zeithistoriker Ulrich Thamer angegangen wurde. Aufbauend auf den ersten Ergebnissen dieses Projekts startete im Sommer 2007 der Soziologe Grundmann ein sogenanntes „Lehrforschungsprojekt“, in dem es um die exemplarische Frage ging, wie sich letztlich „das Erleben von Leid im Kindes- und Jugendalter auf die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen nach dem Kriege“ ausgewirkt hat (S. 16). Dabei sollte es um „die persönliche, politische und gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung Deutschlands“ nach 1945 gehen und dies auf drei Ebenen: der Mikroebene der betroffenen Individuen, der Mesoebene in deren sozialem Umfeld und der Makroebene, also der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. In der Folgezeit arbeiteten bis Anfang 2009 dann nicht nur soziologische Fachleute mit jüngeren Studierenden zusammen, sondern es gab auch eine Reihe von „Experten in eigener Sache“, also Kriegskindern im Rentenalter, die als Seniorstudenten mitwirkten.

Im vorliegenden Band werden nun die wichtigsten Teilergebnisse der gemeinsamen Forschungs- und (Selbst-)Befragungstätigkeit in sieben jeweils von mehreren, bis zu fünf Teilnehmern verfassten Kapiteln zusammengefasst (wobei nicht klar wird, ob es sich dabei nur um jüngere Verfasser oder auch um Senioren handelt und wie stark der Projektleiter eingegriffen hat). Am Anfang steht ein längerer „Vorspann“ der drei Herausgeber, dem sie den ausgreifenden Titel „Die Stunde Null. Das Leben der Kriegskinder nach dem Zweiten Weltkrieg“ gegeben haben. Eine Reflexion über den besonders hier höchst fragwürdigen Begriff „Stunde Null“ sucht man allerdings vergebens. Da es kein zusammenfassendes Nachwort des Bands gibt, das die Ergebnisse bündelt, liefert dieses Einleitungskapitel so etwas wie ein Fazit des gemeinsamen Wirkens. Die sieben Kapitel behandeln die im Hinblick auf die Kriegskinderbiografien von den Mitwirkenden für am bedeutsamsten gehaltenen Themenfelder und beschäftigen sich mit der Frage nach den Auswirkungen der Kriegskindererfahrungen auf das spätere (konforme) Verhalten, auf die politische Teilhabe von exemplarisch ausgesuchten Kriegskindern (am Beispiel von Helmut Kohl, Johannes Rau, Roman Herzog, Horst Köhler und Gerhard Schröder), auf das Konsumverhalten von Kriegskindern, auf deren Familienbilder, deren Religiosität, deren Verarbeitung ihrer Flucht- und Vertreibungserinnerungen und schließlich deren Selbst- und Fremdbilder.

Ohne einzelne hier und da durchaus bemerkenswerte und interessante Detailergebnisse zitieren zu wollen, fällt dem Leser in allen Kapiteln zunächst einmal die (was die Fragehorizonte entsprechend stark einengt) sehr geringe Kenntnis der zumindest seit 2005 vorliegenden einschlägigen Forschungsliteratur auf: Die seither nicht nur in essayistischer Form, sondern von Fachleuten aus einer ganzen Reihe von Wissenschaftsdisziplinen von der Psychoanalyse über die Gerontologie und Psychosomatik bis hin zur Literaturwissenschaft sowie zur Erfahrungs- und Generationengeschichte vorgelegten, weit ausgreifenden Studien und einschlägigen Forschungsergebnisse sind fast gar nicht herangezogen worden. So wundert sich der Leser, dass zum Beispiel die bis 2007 bereits sieben Bände umfassende interdisziplinär betreute, immens facettenreiche Reihe des Juventa Verlags „Kinder des Weltkriegs“ nicht beachtet worden ist und dass es über das oben erwähnte Münsteraner Exzellenzinitiativeprojekt und dessen Fragestellungen und Ergebnisse sowie über die Beteiligung eines Psychosomatikers und eines Historikers daran nahezu keinerlei Hinweise gibt. Immerhin 122 ehemalige Kriegskinder haben einen von dem Münsteraner Team entworfenen „medizinischen sowie soziologisch-historischen“ Fragebogen beantwortet, und zehn Interviews waren mit zum Teil hoch, zum Teil niedrig belasteten Betroffenen durchgeführt worden, so dass die Mitwirkenden an dem Lehrforschungsprojekt darauf zurückgreifen konnten. Genauere Hinweise auf den Fragebogeninhalt und eine systematische Auswertung der Ergebnisse von Fragebögen und Interviews sucht man allerdings vergebens.

Eine entscheidende Problematik des Bands ergibt sich jedoch aus der Frage, wie sein klingender und geradezu programmatischer Titel mit den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit der am Lehrforschungsprojekt Beteiligten in Verbindung zu bringen ist beziehungsweise wie weit er überhaupt trägt. Konkret: Worin bestehen die behaupteten „Botschaften“ der Kriegskinder und wie steht es mit den Beschädigungen dieser „Generation“? Zunächst: Die Herausgeber geben zu - und das liegt bei einem quasi als Seminar durchgeführten mehrsemestrigen Projekt mit offenbar stark wechselnden Teilnehmern nahe -, dass sie rückblickend nur von einer „zugegebenermaßen subjektiven Annäherung an ein komplexes Thema“ sprechen können. Zwei (recht triviale) Hauptergebnisse glauben sie dann dennoch nennen zu können, die jedoch den pathetischen Titel des Buchs in keiner Weise rechtfertigen: Wie ein Kriegskind seine Kriegserfahrungen wahrnahm und verarbeitet hat, habe entscheidend von den jeweiligen (familiären, sozialen) Rahmenbedingungen abgehangen. „Unmittelbare Korrelationen“ zwischen dem Kriegserleben und dem Nachkriegsverhalten sowie „bestimmten psychosozialen Dispositionen“ seien „bestenfalls schemenhaft“ erkennbar; allenfalls existierten gewisse Grundmuster, „die mit dem historisch Erlebten zwar korrespondieren, das spätere Handeln jedoch kaum nachhaltig geprägt haben“ (S. 24 und S. 27). Und da alles dann irgendwie mit allem in Verbindung steht und keinerlei psychosoziale Hierarchie (zum Beispiel auch bezogen auf die jeweilige Lebensaltersituation der Betroffenen, ihr Geschlecht sowie die sozialen und mentalen Rahmenbedingungen) erkennbar ist, sucht man dann auch vergeblich nach „Botschaften“ dieser - wie es im „Vorspann“ abschließend heißt - letzten noch lebenden „Generation, die Mangel, Krieg, Flucht, Vertreibung und Zerstörung, ökonomische Not, Inflation sowie unterschiedliche politisch-kulturelle Systeme und Ideologien er- und überlebt hat“ (S. 27). Damit ist dann der Vorhang weitgehend zu, doch für denjenigen, der die einschlägige neuere Literatur etwas besser kennt, bleiben nicht nur viele Fragen offen: Sie sind von den Projektbeteiligten auch kaum gesehen worden, so dass ihre Antworten entsprechend vage und nur sehr oberflächlich ausfallen, zum Teil auch leicht widerlegbar sind. Als Seminarergebnis unter den Bedingungen der inneruniversitären Zwänge infolge des Bologna-Prozesses (auf die die Herausgeber übrigens mehrfach verweisen) mag man das noch hinnehmen; ob man aber damit in einem Buch mit einem nachträglich sich als fragwürdig herausstellenden Titel an eine wissenschaftliche Öffentlichkeit gehen kann und sollte, müssen sich die Herausgeber dann doch wohl kritisch fragen lassen.

Jürgen Reulecke, Essen/Gießen


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