ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes Tuchel (Hrsg), Der vergessene Widerstand. Zur Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 5), Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 279 S., kart., 20,00 €.

Dieser Sammelband mit elf Aufsätzen hat es zum Ziel, sowohl den Kenntnisstand zu Widerstand und widerständigem Verhalten während des Nationalsozialismus zu verbessern als auch dessen Wahrnehmung in der Zeit nach 1945 zu untersuchen. Das weite Spektrum der Beiträge reicht von der methodologisch interessanten Untersuchung von Ekkehard Klausa „Ganz normale Deutsche. Das Judenbild des konservativen Widerstandes“ bis zu der detaillierten Darstellung von Johannes Tuchel „Das Ministerium für Staatssicherheit und die Widerstandsgruppe ‚Rote Kapelle‘ in den 1960er Jahren“. Die Aufsätze hinterlassen jedoch keinen disparaten Eindruck, sondern werden von der Einleitung des Herausgebers „Vergessen, verdrängt, ignoriert. Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland“ zusammengehalten.

In dem zu besprechendem Werk wird abermals deutlich, wie unterschiedlich, ja einseitig sich das Geschichtsbild in den beiden deutschen Staaten nach 1945 entwickelte, mehr oder minder stark beeinflusst von der jeweiligen staatlichen oder parteipolitischen Seite. Ein besonders eklatantes Beispiel dürfte die Nachkriegsgeschichte der „Roten Kapelle“ sein: In der Bundesrepublik wurde diese Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schultze-Boysen in der Zeit des Kalten Kriegs wegen ihrer Kontakte zu Kommunisten diskreditiert, während sie in der DDR gerade wegen dieser Verbindungen und zum sowjetischen Geheimdienst hochgelobt und ihre Geschichte zugleich vom Ministerium für Staatssicherheit verfälscht wurde. Johannes Tuchel hat dies anhand der Akten der Birthler-Behörde nachweisen können. Erich Mielke setzte sich persönlich für diese Geschichtsfälschungen ein - mit und ohne Unterstützung des Instituts für Marxismus-Leninismus. Der Verfasser muss am Ende bekennen, dass diese Verfälschungen trotz der Arbeit der Birthler-Behörde immer noch nicht ganz korrigiert worden sind.

Nicht zu vergessen ist auch, dass in der öffentlichen Meinung Westdeutschlands das Attentat vom 20. Juli 1944 lange Zeit als eine neue „Dolchstoßlegende“ interpretiert wurde, bevor Bundeswehr-Kasernen sich mit den Namen von (konservativen) Widerstandskämpfern zieren durften. In der DDR waren die gleichen Namen eher negativ besetzt. Die Liste divergierender Geschichtsbilder in Ost- und Westdeutschland ließe sich weiter fortsetzen.

Die Geschichte des deutschen Widerstands ist inzwischen im Großen und Ganzen durch die Arbeiten insbesondere von Peter Hoffmann (1), Ger van Roon (2) und Gerd R. Ueberschär (3) publiziert und international bekannt gemacht worden (4), wobei die Öffnung der Archive nach 1990 noch wertvolle Informationen erbracht hat. Weniger bekannt sind die Aktivitäten kleinerer Gruppierungen und Einzelpersonen in der NS-Zeit. Hier leistet der Sammelband gegen das Vergessen Aufklärungsarbeit; so der Beitrag von Andreas G. Graf („Widerstand von Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten gegen den Nationalsozialismus“), der sich mit dem anarcho-syndikalistischen Widerstand um die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) gegen den Nationalsozialismus und dessen Fortsetzung im Exil, insbesondere im Spanischen Bürgerkrieg, beschäftigt. Die Zahl der Mitglieder war allerdings recht bescheiden, und deren Wirkungsmöglichkeiten wurden nach den Verhaftungswellen von 1937 und 1938 weiter eingeschränkt. In die Diskussion um den Widerstand in Konzentrationslagern steigt dann Jürgen Zarusky („‚...gegen die Tötung der Menschen und die Abtötung alles Menschlichen‘. Zum Widerstand von Häftlingen im Konzentrationslager Dachau“) ein, wenn er über die Formen von Widerstand und widerständigem Verhalten im KZ Dachau und dessen Außenlagern berichtet. Er notiert sowohl die ideologischen Gegensätze zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten als auch nationale Differenzen zwischen Polen, Russen und Deutschen, aber auch das ambivalente Verhalten der sogenannten Funktionshäftlinge in Dachau. Mit Zarusky kann man diskutieren, ob bereits das heimliche Schreiben von Berichten, zum Beispiel über Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, und von Tagebüchern, die Herstellung von dokumentarischen Fotos aus dem Leben der „Lagergesellschaft“ als widerständiges Verhalten zu werten ist. Der Dachauer Häftlingsaufstand vom 28. April 1945, der noch vor dem Eintreffen der Amerikaner niedergeschlagen wurde, wird vom Verfasser sehr kurz behandelt. Man wüsste gern mehr, auch über die Entstehung des Internationalen Dachau-Komitees, das am 29. April 1945 gegründet wurde.

Über die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ und ihre Gründer im Herbst 1943, den Justizangestellten Hans Winkler und den jüdischen Elektromechaniker Werner Scharff, berichtet einfühlsam Barbara Schieb. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft, die sich als „Sparverein“ in Luckenwalde und Berlin tarnten, waren bürgerliche und kommunistische, jüdische und ‚arische‘ Deutsche. Sie versteckten untergetauchte Juden und machten durch drei Flugblattaktionen in den Jahren 1943/1944 von sich reden. Beide Gründer wurden noch 1944 verhaftet. Während Winkler den Krieg überlebte, wurde Scharff am 16. März 1945 in Sachsenhausen erschossen. Die Rezeptionsgeschichte dieser Gruppe nach 1945 gestaltete sich sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland als schwierig.

Nicht minder schwierig war die Nachkriegsrezeption der Widerstandsorganisation „Europäische Union“ um vier Freunde, den Naturwissenschaftler Robert Havemann, den Arzt Georg Groscurth (5), den Dentisten Paul Rentsch und den Architekten Herbert Richter, die Bernd Florath schildert. Mit Robert Havemann als Dissidenten wurde auch die Europäische Union, im Juli 1943 gegründet, nach 1964 in der DDR verschwiegen oder marginalisiert. Das Ziel dieser breit gefächerten Gruppierung war es, die ausländischen und nationalen Gegner des Nationalsozialismus zusammenzubringen und insbesondere die sowjetischen und französischen Zwangsarbeiter zum Widerstand zu bewegen. Dementsprechend wurden die Flugblätter der Europäischen Union auch in Russisch und Französisch in der Absicht produziert, den „Sturz des Faschismus in ganz Europa“ (S. 127) herbeizuführen. Havemann hatte sich bereits in den 1930er Jahren der kommunistischen Gruppe „Neu Beginnen“ angeschlossen, und Richter hatte Kontakte zu kommunistischen Künstlerkreisen. Groscurth war dagegen parteilos, Rentzsch war eher konservativ eingestellt. Groscurth nutzte die Informationen über Konzentrationslager, die ihm der Führer-Stellvertreter Rudolf Heß als Patient gab, um unter anderem jüdischen Flüchtlingen zu helfen. Allerdings verhaftete die Gestapo bereits im September 1943 die ersten Mitglieder, darunter Groscurth, Richter und Rentzsch, die im folgenden Jahr hingerichtet wurden. Havemann konnte mit Hilfe anderer Naturwissenschaftler überleben.

Peter Steinkamp (,,Rettungswiderstand: Helfer in Uniform“) schildert einige der relativ seltenen Fälle, in denen aktive Soldaten und Offiziere Verfolgten halfen und sogar retten konnten. Darunter war der des Obersten Wilhelm Staehle (geboren 1877!). Er wurde unterstützt von katholischen und protestantischen Geistlichen sowie Widerständlern in der Abwehr, als er zusammen mit seiner Frau Verfolgten Unterschlupf in der Invalidensiedlung am Rande von Berlin vermittelte. Er wurde noch am 22. April 1945 von der SS erschossen. Ulrich Renz (,,Der mühsame Weg zum Ruhm. Georg Elser - lange vergessener und diffamierter Widerstandskämpfer“) stellt heraus, wie spät erst die Anerkennung des schwäbischen Handwerkers Georg Elsers erfolgte, der als Einzelner am 8. November 1939 das Bomben-Attentat auf Hitler verübte und dafür am 9. April 1945 im KZ Dachau hingerichtet wurde.

Von ganz anderer Seite geht Ekkehard Klausa das Thema „Widerstand“ an, wenn er sich der damaligen konservativen Elite annimmt und deren Verhältnis zu den Juden untersucht. Wir wissen von kritischen Äußerungen wie von Carl Goerdeler und anderen Mitgliedern des deutschen Widerstands über ‚die‘ Juden. Daher ist Klausas eher methodologisch angelegter Versuch interessant, die konservativen Anhänger des deutschen Widerstands, besonders jene des 20. Juli, auf einer Skala des Antisemitismus, der Voreingenommenheit gegenüber den Juden, einzuordnen. Der Verfasser legt das Antisemitismus-Bild aus der Zeit vor Auschwitz zugrunde und kommt zu der traurigen, aber nicht überraschenden Aussage: „Die menschliche Ausgrenzung der Juden im konservativen Bewusstsein hat dem NS-Regime die Judenverfolgung zumindest erleichtert“ (S. 199). Die Ausnahmen bestätigen die Regel: Eine ganze Reihe von Persönlichkeiten des konservativen zivilen und militärischen Widerstandslagers stellten erfreuliche Gegenbeispiele dar, darunter Hans Oster, Adam von Trott zu Solz, Helmuth James von Moltke und Helmuth Groscurth, leider vermutlich nicht Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Einen wichtigen Teil der (west-)deutschen Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus schildert Claudia Fröhlich (,,Zum Umgang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Phasen und Thesen der Judikatur zum 20. Juli 1944“). Noch Anfang der 1950er Jahre fiel es der deutschen Justiz schwer, den Widerstand des 20. Juli nicht als Hoch- oder gar Landesverrat zu sehen und die Hinterbliebenen entsprechend zu behandeln. Typisch dafür waren die Prozesse gegen Otto Ernst Remer, der als Kommandeur des Berliner Wachbatallions am 20. Juli 1944 wesentlich zur Niederschlagung des Offiziersaufstands beitrug, und gegen Walter Huppenkothen, der im April 1945 das Standgerichtsverfahren und die Hinrichtung gegen Hans von Dohnanyi, Wilhelm Canaris, Dietrich Bonhoeffer, Hans Oster und andere leitete. Es war letztlich das Verdienst des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der seit 1952 in den entsprechenden Prozessen mit Hilfe von theologischen und zeithistorischen Gutachten gegen das Legalitätsdenken in der Nachfolge der NS-Justiz erfolgreich argumentierte. Zugunsten der Männer des 20. Juli 1944 setzte Bauer gegen den Eid auf Hitler dessen „Unsittlichkeit“ und gegen den Staat als das primär schützende Rechtsgut die Pflicht auf Widerstand als ein Menschenrecht. Er konnte sich auch langfristig damit durchsetzen.

Trotz einiger Ungleichgewichte, die aus den zu hohen Erwartungen nach dem Lesen des Titels entstanden sein mögen, stellt dieses Sammelwerk überwiegend jüngerer Historikerinnen und Historiker einen guten und nützlichen Schritt gegen das Vergessen dar. Gegen das Vergessen, dass, wo und wie es einen relativ breit gestreuten Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab, und dass dieser in fast allen politischen Lagern und sozialen Schichten anzutreffen war.

Die gut belegten Einzelbeiträge sind - wie der Projektleiter Bernhard Schoßig am Schluss ausführt - ein erfolgreiches Zeugnis für die Arbeit der im Jahre 2000 begonnenen Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte. Angaben zu den Autorinnen und Autoren sowie ein zuverlässiges Personenregister runden das Werk ab.

Ekkehard Henschke, Oxford/Berlin

Fußnoten:


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