ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Axel C. Hüntelmann, Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876-1933, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 488 S., geb., 64,90 €.

Als 1994 das Bundesgesundheitsamt nach dem HIV-Blutspendeskandal aufgelöst und seine Aufgaben auf kleinere Institute verteilt wurden, handelte es sich um keine Zäsur, welche die Öffentlichkeit besonders bewegte. Dies ist erstaunlich, denn die höchste medizinpolizeiliche Zentralbehörde konnte immerhin bereits auf fast 120 Jahre zurückblicken, in denen sie die Politiker beriet, wichtige Gesetze vorbereitete, wissenschaftliche Studien vorantrieb, zur Professionalisierung des Ärztestands und der Krankenpflege beitrug und das Image der Medizin in Deutschland nachhaltig prägte.

Der Historiker Axel C. Hüntelmann widmet sich in seiner in Bremen angenommenen Dissertation dem Reichsgesundheitsamt im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, einer Zeit, in der die Behörde zweifellos ihre größte Bedeutung besaß. Es folgte ihre Vereinnahmung für die nationalsozialistische Politik, danach offensichtlich ihre relative Bedeutungslosigkeit in der Bundesrepublik. Bei seiner Gründung ließ sich diese lange und über große Zeiträume erfolgreiche Geschichte des Reichsgesundheitsamts allerdings nicht erwarten. Gefordert wurde die „medicinalpolizeiliche Centralbehörde“ von medizinischen Praktikern, den sogenannten Alt-[18]48ern, im Hinblick auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse insbesondere für die Unterschichten. Reichskanzler Bismarck griff die Idee als Teil der neuen Wohlfahrtspolitik auf und schlug dem Kaiser, wohl nicht ohne Hintergedanken, den sozial engagierten, gesellschaftskritischen Zellularpathologen Rudolf Virchow als deren Leiter vor. Nach der nicht unerwarteten Ablehnung durch den Monarchen konnte der Kanzler seinen eigenen Leibmedikus Heinrich Struck auf den Direktorenstuhl befördern. Ihm folgten später Juristen als Amtsleiter nach.

Die personelle und finanzielle Ausstattung der neuen Behörde war zunächst denkbar schlecht, durch geschickte Netzwerkbildung und Vorstellung eines letztlich erfolgreichen Programms sollte dem Reichsgesundheitsamt jedoch noch bis in die 1920er Jahre hinein ein erstaunlicher Erfolg beschieden sein. Entgegen den sozialmedizinischen Vorstellungen der praktischen Ärzte, welche das Reichsamt gefordert hatten, stellte die Behördenleitung nämlich die scheinbar apolitische, streng wissenschaftliche Bakteriologie ins Zentrum ihrer Bemühungen. Diese Schwerpunktsetzung sollte sich nach Startschwierigkeiten letztlich als Volltreffer erweisen, insbesondere da Robert Koch der Behörde über viele Jahre zur Seite stand. Das Reichsgesundheitsamt entwickelte sich geradezu zum Großforschungszentrum, in dem neben Medizinern auch Chemiker, Pharmazeuten, Statistiker, später Biologen, Zoologen, Botaniker und andere arbeiteten. Ihr Prestige wuchs durch erfolgreiche Laboruntersuchungen zu den Erregern zahlreicher „Volksseuchen“ der Zeit (Cholera, Tuberkulose, Diphtherie, Pest, Pocken, später auch Typhus) und durch Unterstützung der Pharmaforschung, durch Vorschläge zur Verbesserung des Medizinstudiums, die Initiierung von Hygieneinstituten an den Universitäten, die Beratung der Landes- und kommunalen Gesundheitsämter und als Quasiministerium durch Gesetzesvorlagen. Ein eigenes wissenschaftliches Publikationsorgan machte das Reichsamt schnell auch international bekannt. Bereits im Jahr 1896 konnte die Behörde in einen repräsentativen Neubau nahe dem Tiergarten (Klopstockstraße 18) einziehen, in den immerhin knapp 1,7 Millionen Mark investiert wurden. Eine von mehreren Zweigstellen befand sich mit den nötigen Tierställen in Dahlheim. Zum Erfolg trug schließlich auch das Engagement der Behörde in der Militär- und Kolonialmedizin bei. Bezeichnenderweise fanden Hilferufe aus dem Bereich der Psychiatrie dagegen kaum ein Echo. Spätestens nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs allerdings gewannen die neuen wissenschaftlichen Paradigma der Sozial- und Rassenhygiene gerade in Deutschland an Boden. Lange Zeit stand das Reichsgesundheitsamt der geforderten Verlagerung seines Engagements auf entsprechende Themen der nationalen Bevölkerungspolitik abwartend und kritisch gegenüber. Ab etwa 1926 fanden diese jedoch auch bei der obersten medizinischen Instanz im Reich allmählich Eingang.

Der Autor bindet seinen Untersuchungsgegenstand in aktuelle Fragen der Biopolitik ein und sieht den Erfolg des Reichsgesundheitsamts unter anderem in dessen geschickter Selbstdarstellung als rein wissenschaftliche Behörde begründet. Tatsächlich allerdings scheint es so, dass das Reichsgesundheitsamt mit seiner Fokussierung auf Themen der Bakteriologie, Parasitologie und Immunologie zeitgemäß ‚modern‘ war und überdies die großen Erfolge herausragender Forscher wie Robert Koch, Paul Ehrlich und Emil von Behring für sich nutzen konnte. Diese einmalige Konstellation lässt sich meines Erachtens nicht ohne weiteres auf andere Epochen übertragen.

Das gut geschriebene Buch gibt vielfältige, auch für Nicht-Fachleute verständliche Einblicke in die Strukturen des Medizinalwesens und die zwischen Reichsgründung und ‚Machtergreifung‘ geführten wissenschaftlichen beziehungsweise medizinischen Diskussionen. Es ist daher über die spannende Geschichte des Reichsgesundheitsamts hinaus auch ein wichtiges Werk zur allgemeinen Sozial- und Medizingeschichte.

Christina Vanja, Kassel


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 28. Juni 2010