ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86), Oldenbourg Verlag, München 2010, 174 S., brosch., 19,80 €.

Die historische Migrationsforschung hat in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der vorliegende Band der „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ trägt dem Rechnung. Jochen Oltmer präsentiert darin einen Überblick über das Wanderungsgeschehen der letzten beiden Jahrhunderte in Deutschland. Dies ist sowohl im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit des historischen Phänomens Migration selbst und dessen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Hintergründen, als auch hinsichtlich der Begrenzung auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland eine große Herausforderung.

Dem üblichen Gliederungsschema der Reihe folgend, beginnt der Autor mit einem darstellenden Teil zu den Migrationsprozessen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, gefolgt von einem zweiten Teil zum Forschungsstand. Letzterer enthält eine entsprechend gegliederte Auswahlbibliografie. Nach einer kurzen Einführung zu den Bedingungen, Formen und Folgen von Migration, gliedert sich der enzyklopädische Überblick in mehrere Unterkapitel. Es werden darin die verschiedenen grundlegenden Prozesse im Wanderungsgeschehen Deutschlands in chronologischer Reihenfolge beschrieben.

Beginnend mit dem späten 18. Jahrhundert änderte sich das Auswanderungsverhalten der Deutschen. Die kontinentale Auswanderung nach Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa nahm ab und die Auswanderer zog es zunehmend über den Atlantik. Angesichts wachsender Zahlen transatlantischer Migration stellten die Deutschen im 19. Jahrhundert eine der größten beziehungsweise zeitweise sogar die größte Einwanderergruppe in den USA. Neben der Fernwanderung kam es durch Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarmodernisierung im 19. Jahrhundert und dem damit einhergehenden Strukturwandel auch zu beachtlichen intra- und interregionalen Arbeitswanderungen. Als Beispiel nennt Oltmer unter anderem die Wanderung von Fachkräften im stark expandierenden Baugewerbe. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lassen sich vor dem Hintergrund des grundlegenden Umbaus von Staatlichkeit im 19. Jahrhundert hin zum Nationalstaat und des Auf- und Ausbaus des Interventions- und Sozialstaats erstmals Ansätze aktiver migrationspolitischer Steuerung erkennen. Oltmer verweist hier auf die Einführung von gesetzlichen und administrativen Zugangsbarrieren gegenüber bestimmten Zuwanderergruppen, die als weniger erwünscht galten. In diesem Zusammenhang wird die antipolnische Politik als Beispiel genannt. Die Zeit nach dem Ersten und bis nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland geprägt durch Zwangs- und Kriegsfolgenwanderungen. Deportation, Zwangsarbeit in den Kriegswirtschaften, die Evakuierung und Flucht vor Kampfhandlungen und Vertreibung nach Kriegsende waren Gründe dafür, dass Deutschland zum Zentrum des europäischen Zwangswanderungsgeschehens wurde. In den 1950er Jahren begann sich in Deutschland in der wachsenden Wirtschaft Arbeitskräftemangel abzuzeichnen. Mit dem Deutsch-Italienischen Anwerbevertrag von 1955 begann die offizielle Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, die dann verstärkt und mit verschiedenen Herkunftsstaaten in den 1960er Jahren fortgesetzt wurde. Entgegen der Annahme eines befristeten Aufenthalts blieben viele der sogenannten Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland und holten ihre Familien nach. In der DDR war die Ausländerbeschäftigung sehr viel geringer und stärker reglementiert. Am Ende dieses ersten Teils geht Oltmer zudem auf die Entwicklung der Asyl- und Aussiedlerzahlen seit der Wiedervereinigung ein.

Die Übersicht zum Forschungsstand ist ähnlich gegliedert wie der enzyklopädische Teil. Nach einer kurzen Einführung in die theoretische und methodologische Diskussion der historischen Migrationsforschung werden zu jedem Themenfeld bestehende Forschungsarbeiten vorgestellt und gleichzeitig auf Forschungslücken und -desiderata verwiesen. Beispielsweise nennt Oltmer als Bereich, in dem bisher nur spärlich Informationen vorliegen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte während des Ersten Weltkriegs. Er mahnt außerdem an, dass es auch bei der Untersuchung der Arbeitsmigration während der Weimarer Republik an Regionalstudien zu Lebens- und Arbeitsverhältnissen mangele. Darüber hinaus steht eine Synthese des Zwangswanderungsgeschehens nach 1945 seiner Ansicht nach noch aus. Abschließend folgt eine ausführliche Auflistung von Quellen und Literatur sowie ein Personen- und Ortsregister.

Die schwierige Aufgabe, ein so vielfältiges und räumlich schwer abgrenzbares geschichtliches Phänomen wie das Migrationsgeschehen Deutschlands über zwei Jahrhunderte hinweg zu beschreiben, hat der Autor hervorragend gemeistert. Sicherlich wünscht sich der Leser an der einen oder anderen Stelle eine ausführlichere Darstellung, beispielsweise beim Migrationsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies ist jedoch nicht Zielsetzung des vorliegenden Bandes, der angesichts der Komplexität des Themas und des langen Betrachtungszeitraums nur einen Überblick über zentrale Strukturmuster und grundlegende Entwicklungen im Wanderungsgeschehen geben kann. So erfüllt Oltmer, nicht zuletzt durch die ausführliche Angabe von Quellen und Literatur, den Anspruch der Reihe, Einstiegslektüre und Nachschlagewerk zugleich und Ausgangspunkt für eine tiefere Beschäftigung mit den einzelnen Themenbereichen zu sein. Der Band ist somit bestens geeignet, die breite Leserschaft der Reihe „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ anzusprechen und wird wärmstens zur Lektüre empfohlen.

Désirée Kleiner-Liebau, Freiburg im Breisgau


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