ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Arnold Bartetzky/Marc Schalenberg (Hrsg.), Urban Planning and the Pursuit of Happiness. European Variations on a Universal Theme (18th-21st Centuries), Jovis Verlag, Berlin 2009, 223 S., kart., 28,00 €.

Seit jeher geht Stadtplanung mit dem Versprechen der guten (oder zumindest einer besseren als der bestehenden) Gesellschaft einher - ob nun vollmundig, wie dies etwa bei den großen Stadtvisionen des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall war, oder eher zurückhaltend, wie in manchen eher pragmatisch ausgerichteten Entwürfen nach dem Ende der großen Erzählungen. Öffentliches beziehungsweise kollektives Glück ist ein Leitmotiv vor allem der modernen europäischen Stadtentwicklung. Deshalb, so die These der Herausgeber dieses englischsprachigen Sammelbands, kann man die je dominierenden gesellschaftlichen Glücksvorstellungen - ebenso wie deren Wandel - an konkreten Stadtkonzepten, -strukturen und Wohnarchitekturen sowie den sie begleitenden Planungsdiskursen und Werbekampagnen besonders gut ablesen.

In diesem Sinne versammelt das vorliegende Buch elf Fallstudien, die eine Reihe von zeitlich und räumlich ganz unterschiedlich verorteten Entwicklungsprojekten im Hinblick auf die ihnen zugrundliegenden expliziten und impliziten Glücksversprechen untersuchen. Besonders interessant werden die Beiträge da, wo die Autorinnen und Autoren zeigen, wie sich die Glückskonzepte der professionellen Beglücker, der Planer, zu denen der zu Beglückenden, der Stadtbewohner und -nutzer, verhalten. Nicht selten bilden letztere alltägliche Verhaltensmuster und Gebrauchsweisen aus, die mit den vorausgedachten Vorstellungen der Planer wenig gemein haben beziehungsweise ihnen sogar zuwiderlaufen.

Die Beiträge des Bands sind chronologisch angeordnet, sie reichen von der Aufklärung bis in die heutige Zeit. Gleich im ersten Aufsatz, Mascha Bispings Auseinandersetzung mit Johann Peter Willebrands „Grundriss einer schönen Stadt“ (1775/76), klingt ein Motiv an, das in mehreren Beiträgen wiederkehrt: Ein idealer Bauplan macht noch kein ideales Zusammenleben. Zwar werden in Stadtentwürfen in aller Regel hohe Ansprüche an die Funktionalität und Ästhetik der gebauten Umwelt gestellt. Die ihr zugesprochene didaktische Kraft allein reicht zur Schaffung der glücklichen Stadtgemeinschaft aber nicht aus, so dass planerische Visionen häufig mit (Um-)Erziehungsmaßnahmen einhergehen, die nicht selten auch massiven Druck und Zwang beinhalten.

Willebrands „glückselige“ war eine staatlich und polizeilich verregelte und durchregulierte Stadt, in der fügsame Bürger den Vorgaben der „weisen Regenten“ Folge leisteten. Auch die Bürger der nach der bolschewistischen Revolution zu Stätten kollektiven Glücks radikal umgebauten sowjetischen Städte waren Gegenstand rigider obrigkeitlicher Normalisierungs- und Disziplinierungsstrategien. In ihrer schönen Analyse von Reiseberichten westlicher Linksintellektueller, die in die sowjetischen Metropolen der 1920er und 1930er Jahren auf der Suche nach einer Alternative zum ungeliebten kapitalistischen System pilgerten, beleuchtet Marina Dmitrieva die Reaktionen auf die offensichtliche Kluft zwischen der allumfassenden staatlichen Glücksverordnung und der vorgefundenen Realität.

Diese Diskrepanz ist Thema auch des gelungenen Beitrags von Clarisse Lauras. Sie beschäftigt sich mit einem Vorzeigeprojekt des fortschrittlichen Städtebaus à la CIAM, dem zentralfranzösischen Firminy-Vert. Als Antithese zur alten, dunklen Industriestadt sollte hier eine helle, gesunde, durchgrünte neue Stadt entstehen. Eine Broschüre, die den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt ausgehändigt wurde, sollte diesen die angemessenen Nutzungs- und Verhaltensweisen nahebringen. Viele Erziehungsmaßnahmen aber scheiterten am Unwillen der Beplanten, alte und vertraute Gewohnheiten und Werthaltungen aufzugeben.

Auch andere, hier nicht namentlich genannte Autorinnen und Autoren machen einmal mehr deutlich, dass Stadtplanung als Glücksverordnung, insbesondere in ihrer staatlichen Variante, immer auch eine sozialtechnokratische und autoritäre bis totalitäre Unterseite hat. Das ist zwar beileibe keine neue Erkenntnis, sie wird aber in den ganz überwiegend mit Gewinn zu lesenden Fallstudien des Bands an zahlreichen Beispielen noch einmal anschaulich illustriert.

Die letzten beiden Beiträge sind anders gelagert; hier wird das Augenmerk auf private Entwicklungsprojekte gelenkt. Bruno Bonomo betrachtet den römischen Suburb Casalpalocco in der Zeit von 1955 bis 1980; Jacek Gądecki und Christian Smigiel beschäftigen sich mit der aktuellen Verbreitung von „Gated Communities“ in Bulgarien und Polen. Da die verantwortlichen privaten Developer eine klar definierte, in sich relativ homogene Zielgruppe im Visier haben (im Unterschied zu den staatlichen Institutionen, die meist ‚das ganze Volk‘ oder ‚die breite Masse‘ beglücken wollen), können sie gezielt an die Träume und Sehnsüchte der umworbenen Klientel anknüpfen. Wie das geschieht und welche mittel- und oberschichtspezifischen Glücksvorstellungen hier bedient werden, wird in beiden Beiträgen anhand von Werbematerialien überzeugend illustriert. In den untersuchten Fällen scheint es eine weitgehende Deckung zu geben zwischen dem von den Planern versprochenen und dem von den Nutzerinnen und Nutzern gefundenen Glück. Im Fall Casalpalocco kann Bonomo aber auch zeigen, dass sich im Laufe der Zeit Konflikte zwischen sozialen Gruppen mit eher individualistischem und solchen mit eher gemeinschaftsorientiertem Freiheitsverständnis entwickeln.

In der Dramaturgie des Bands stehen die letztgenannten Arbeiten auch deshalb am Schluss, weil sie, wie die Herausgeber in ihrer rahmengebenden Einleitung konstatieren, Schlaglichter werfen auf den gegenwärtigen Trend der Stadtentwicklung hin zur Privatisierung und Fragmentierung städtischer Räume. Urbane Utopien, die sich um das Wohl aller Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner sorgen, stehen in Politik und Planung aktuell nicht hoch im Kurs. Wenn der Abschied von der ‚von oben‘ operierenden sozialtechnokratischen Stadt als Glücksplanung auch kaum zu bedauern ist: Die Tatsache, dass sich städtische Glücksverheißungen heute bewusst und gewollt nur an ausgewählte (und das heißt meist: zahlungskräftige) Gruppen von Stadtnutzern richten, kann mit guten Gründen als ein (zu) hoher Preis für den vorherrschenden Pragmatismus betrachtet werden.

Insgesamt liegt hier ein empfehlenswertes Buch vor, das viele lesenswerte und aussagekräftig bebilderte Studien zu einem alten, aber immer wieder interessanten Thema beinhaltet.

Susanne Frank, Dortmund


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