Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegung in der Bundesrepublik und Dänemark (Campus Forschung, Bd. 927), Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2007, 376 S., kart., 39,90 €.
Die Geschichtswissenschaft gleicht häufig einem behäbigen Tanker, der aktuelle gesellschaftliche Trends verspätet und dann eher zögerlich aufnimmt. So beginnt sich auch eine neue Sozial- und Konfliktgeschichte erst ganz allmählich herauszubilden, obgleich sich die soziale Polarisierung während der letzten ein bis zwei Jahrzehnte in ziemlich allen europäischen Ländern teilweise dramatisch verschärft hat und Massenerwerbslosigkeit sowie prekäre Arbeitsverhältnisse zur ‚postmodernen‘ Normalität zählen. Zugleich beginnen sich neue Formen des Sozialprotests auszubilden. Statt sich diesen Themen in historischer Perspektive (und mit neuen Konzepten) zuzuwenden, verharrt der Mainstream der bundesdeutschen Historiografie in einem oft genug faden Kulturalismus. Das hier vorzustellende Buch markiert demgegenüber eine wohltuende Ausnahme und ist innovativ genug, eine Wende der alt gewordenen Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte hin zu einer modernen und kritischen Sozialgeschichte der proletarischen Unterschichten auszulösen.
Die sehr gut lesbare - und allein deshalb auch für Nicht-Historiker empfehlenswerte - Dissertation von Peter Birke vergleicht wilde Streiks in der Bundesrepublik Deutschland und in Dänemark über den langen Zeitraum von 1949 bis 1974. Sie ist in insgesamt sechs große Kapitel gegliedert: Einem Abschnitt über Fragestellungen, Konzepte, Methoden, Forschungsstand und -kontroversen folgen fünf chronologisch abgegrenzte Kapitel über den Kalten Krieg am Arbeitsplatz 1950 bis 1957, Wilde Streiks in ‚dynamischen Zeiten‘ 1958 bis 1963 sowie vor 1968, die europäische Streikwelle Ende der 1960er Jahre und die wilden Streiks am Ende des Goldenen Zeitalters bis 1974. Zu den zahlreichen Vorzügen dieser Arbeit gehören die umsichtige Diskussion der Probleme der kategorialen Eingrenzung und statistischen Erfassung gewerkschaftlich nicht legitimierter Arbeitskämpfe, der reflektierte Umgang mit zentralen Begriffen wie wilder Streik und eine gründliche Kontextualisierung der spontanen Streikbewegungen. Über den Vergleich zwischen der stark großindustriell geprägten Bundesrepublik und dem jedenfalls anfangs stärker kleingewerblich strukturierten Dänemark (das im Unterschied zu Deutschland relativ starke Kontinuitäten im Arbeitsrecht und in der Arbeitsverfassung vor und nach 1945 besaß) gelingt es Birke nationale Spezifika, ebenso aber auch generellere Trends überzeugend herauszuarbeiten. Die Arbeitskämpfe selbst werden in ihrem ganzen Facettenreichtum vorgestellt, ohne dass sich der Autor in Details verliert oder in Gefahr gerät, in seiner Darstellung einem wie auch immer gearteten ‚Proletkult‘ aufzusitzen. Ausführlich widmet sich Birke dem für wilde Streiks wichtigen Thema des Gendering der Arbeitskämpfe und ebenso spezifischen Arbeitskampfformen von Migranten, die sich oft besonders massiv gegen den betrieblichen Fordismus richteten und nicht unwesentlich dazu beitrugen, dieses Produktionsregime Mitte der 1970er Jahre in die Krise zu treiben. Ebenso wenig ausgespart werden die ausländerfeindlichen und mitunter die Belegschaften spaltenden Ressentiments, die schnell aufflackerten, wenn ‚Gastarbeiter‘ führend an Arbeitskämpfen beteiligt waren (mit Blick auf die Streikwelle von 1973 vergleiche S. 274ff.).
Auch nur den größeren Teil der wichtigen Ergebnisse der Dissertation Birkes hier vorzustellen, würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Wenige Schlaglichter, beschränkt zudem auf die Bundesrepublik, müssen genügen, den hohen Stellenwert der Arbeit deutlich zu machen. Mit Blick auf die 1950er Jahre und die Konstellationen in der ersten Phase des Kalten Kriegs resümiert Birke unter anderem, dass das, was namentlich in der Bundesrepublik als ‚wild‘ und bedrohlich angesehen wurde, sich gerade nicht dadurch aus[zeichnete], dass es in Moskau oder Pankow ‚ausgeheckt‘ worden, sondern vordergründig unpolitisch, nämlich eine Reaktion auf die Defizite der lokalen, betrieblichen Situation war (S. 66). Deshalb, aber auch aufgrund der politischen Großwetterlage, wurden die entgegen mancher Legende durchaus zahlreichen, indes überwiegend kurzen wilden Streiks seit Ende der 1950er Jahre fast völlig in die ‚Unsichtbarkeit‘ der betrieblichen Sphäre abgedrängt (S. 154, 334). Erst mit der Rezession von 1966/67 löste sich die lokalistische Arbeitskampfkultur allmählich auf.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch Birkes Ausführungen zum Verhältnis von akademischer Neuer Linke und wilden Streiks beziehungsweise deren Trägergruppen. Bis Ende der 1960er Jahre blieb die Neue Linke akademisch-bürgerlich geprägt. Wilde Streiks lagen abseits der Bühne, auf der sich die Studentenrevolte abspielte, Fragen nach der Bedeutung sozialer Klassen, betrieblichen Interessenantagonismen und ihrer Eskalation zu Arbeitskämpfen blieben zunächst so gut wie völlig abwesend (S. 180, 212). In Dänemark waren Arbeiterbewegung und antiautoritäre Jugendbewegung dagegen nicht so scharf getrennt; hier ging die Lehrlingsbewegung der Studentenbewegung sogar voraus (S. 209). In Westdeutschland wurden Arbeiterklasse und ‚Massenarbeiter‘ erst im Zusammenhang mit den Suchbewegungen der Neuen Linken angesichts des Zerfalls des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds und der Außerparlamentarischen Opposition entdeckt.
Auch das Verhältnis der Gewerkschaften zu spontanen Arbeitskämpfen wandelte sich. Bis Mitte der 1960er Jahre blieb die Haltung der Gewerkschaftsbürokratie gegenüber wilden Streiks von scharfer Distanz geprägt. Verwundern kann dies nicht. Denn tatsächlich waren die wilden Streiks tendenziell eine praktische Kritik an einer als unzureichend wahrgenommenen gewerkschaftlichen Tarifpolitik (S. 155). Überraschend ist eher, dass sich dies nach 1967 änderte. Namentlich die IG Metall begann, wilde Streiks teilweise offen zu fördern (S. 179), nachdem sich auch innergewerkschaftlich am zentralistischen Politikstil (S. 222) sowie den niedrigen Tarifabschlüssen während der ersten bundesdeutschen Krise zunehmend Kritik entzündet und, ausgehend vom September-Streik 1969 bei Hoesch, eine auch politisch und medial vielbeachtete - von Birke ausführlich dargestellte - Streikwelle eingesetzt hatte.
Ausführlich geht Birke auf die Binnenstruktur und Besonderheiten der wilden Streiks ein. So hebt er das Unsichtbarmachen der inneren Kommunikation und die Informalität von Organisation als typische Merkmale hervor, um drohender Repression - vor allem Entlassungen sowie Schadenersatzforderungen - zu entgehen. Charakteristisch seien außerdem das rollende System der Auslösung von Streiks, die Praxis der Demonstrationen durch den Betrieb oder das offene Mikrofon gewesen - alles Aspekte, die der Verwischung von Spuren dienten (S. 244). Kritisch äußert sich Birke zu Thesen, die für die Zeit Ende der 1960er Jahre von einer transnationalen Streikwelle sprechen und eine transnationale Kommunikation der Träger der Arbeitskämpfe suggerieren (S. 272). Tatsächlich waren es vor allem vergleichbare ökonomische und sozialkulturelle Strukturen und Umbrüche, die ähnliche Reaktionen der betroffenen Subjekte provozierten, mit den wilden Streiks als Kulminationspunkten. Überregionale oder gar transnationale Netzwerke der Träger spontaner Arbeitskämpfe entstanden nicht. Gleichwohl ist die - oft genug unfreiwillige - Rolle der Medien und hier insbesondere die der kleinen linken Publikationsorgane als überregionale, vielleicht sogar transnationale Kommunikationskanäle, die Orientierung boten, ohne dass es zu einer förmlichen Koordination kam, nicht zu unterschätzen.
Kritisch fällt die Darstellung der Organisationspolitik der Arbeitnehmerverbände durch Birke aus. Gleichwohl sind auch in dieser Hinsicht viele seiner Bemerkungen und Zuspitzungen diskutierenswert, etwa seine Feststellung, dass breite (Mehrheits-)Strömungen im Deutschen Gewerkschaftsbund und in seinen Einzelgewerkschaften den Fordismus als repressives Produktionsregime und Herrschaftstechnik weitgehend ignorierten; infolgedessen wurden Bedürfnisse, die sich gegen Fabrikdisziplin wandten, um 1960 von den Arbeitsmarktparteien im Konsens diskursiv abgewehrt, wie überhaupt ‚Disziplinlosigkeit‘ als residuales Phänomen gesehen wurde, das mit den Auswüchsen der Modernisierung verschwinden würde. Und auch die betriebliche Organisierung der Gewerkschaften sollte (folgt man Birke) de facto dem Prinzip der Massenfertigung folgen, nämlich nach einheitlichem Schema klar und logisch wie der Aufbau einer technischen Anlage geordnet sein (S. 99). Das affirmative Verhältnis zur modernen, tayloristisch und fordistisch durchsetzten Fabrikdisziplin begann sich erst Anfang der 1970er Jahre abzukühlen und kritischen Positionen zu weichen. Angestoßen wurde das gewerkschaftliche Umdenken maßgeblich durch die zunehmend gegen hohe Bandgeschwindigkeit wie überhaupt ein fordistisches Produktionsregime gerichteten betrieblichen Basis-Aktivitäten, die ihre besondere Zuspitzung in eben wilden Streiks, aber auch in der Besetzung von Betriebs- und Verwaltungsgebäuden fanden.
Ein nicht geringzuschätzender Vorzug der Monografie Birkes ist die gute Lesbarkeit, die das Buch zu einer passagenweise geradezu spannenden Lektüre werden lässt. Die Darstellung allgemeiner Entwicklungen (inklusive Statistiken) und die Skizze typischer Fallbeispiele werden geschickt miteinander verwoben. Auch konzeptionell ist die Arbeit von Birke vorbildlich. Sie fordert nicht nur zu einer vergleichbaren Studie über wilde Streiks und spontane betriebliche Protestbewegungen ab 1975 heraus. Sie zeigt zudem, wie fruchtbar nationale Vergleiche sowie Studien zu transnationalen Entwicklungen in einer globalökonomisch zunehmend verketteten Welt sein können - und weitet auch hier die Perspektiven. Die bahnbrechende Studie von Birke steht für eine kritische ‚Neue Sozialgeschichte‘, der durch die Arbeiten von Dietmar Süß, Thomas Welskopp und wenigen anderen eine erste Bresche geschlagen worden sind - und deren Stellenwert in den nächsten Jahrzehnten angesichts einer wachsenden sozialen Polarisierung und zunehmender Konflikte und Krisen erheblich zunehmen dürfte.
Rüdiger Hachtmann, Berlin/Potsdam