ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 75), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 670 S., geb., 42,90 €.

Percy Ernst Schramm, 1894 in Hamburg geboren, 1970 in Göttingen gestorben, war einer der international renommiertesten deutschen Mittelalterhistoriker des 20. Jahrhunderts. In seinem Fachgebiet ist er bis heute durch grundlegende Forschungen zu Symbolen und Ritualen von Herrschaft, zum ottonischen Kaisertum und zur politischen Ikonografie präsent. Im Gegensatz zu den Studien von Kollegen, die zu Schramms Lebzeiten ebenso bekannt waren wie er, heute aber allenfalls noch in forschungsgeschichtlichen Einleitungen auftauchen, erfreuen sich Schramms Werke anhaltender Benutzung. Bücher wie „Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit“ (I. Teil, 2 Bde., 1928), „Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit“ (1929), „Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates“ (2 Bde., 1939, 2., verm. Aufl. 1960), „Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert“ (3 Bde., 1954 bis 1956) oder „Denkmale der deutschen Könige und Kaiser. Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis Friedrich II. 768-1250“ (mit Florentine Mütherich, 1962) werden heute immer noch gelesen. Sie sind gewiss nicht frei von zeitgebundenen Perspektiven der Weimarer Republik, des ‚Dritten Reichs‘ oder der jungen Bundesrepublik. Ihre Aktualität verdanken sie Schramms Mut zu großen Themen in langer Dauer, vor allem aber der produktiven Überschreitung etablierter Fachgrenzen in Zeiten, in denen der heutige stereotype Anspruch auf Interdisziplinarität noch nicht üblich war.

Das Forschungsprogramm, das Schramm in seiner Heidelberger Zeit entwickelte und als Göttinger Ordinarius entfaltete, stand in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zum Mainstream von positivistischer Kaiserhistorie, völkischer Wende oder mittelalterlicher Verfassungsgeschichte. Trotzdem arbeitete auch Schramm zwischen 1933 und 1939 an genehmen Themen der NS-Zeit und brach aus politischem Opportunismus mit den ihm vorher so eng vertrauten Menschen der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW).

Breitere Bekanntheit erlangte der Mediävist in den 1950er und 1960er Jahren durch seine Studien zum Zweiten Weltkrieg. Im Rang eines Majors d. R. hatte Schramm von 1943 bis 1945 als Kriegstagebuchschreiber im Führerhauptquartier gewirkt und bei Kriegsende für die Erhaltung der Dokumente gesorgt, die in erster Linie operative Einträge enthielten. Seit der Jugendzeit galt sein besonderes Interesse darüber hinaus der Geschichte der eigenen Hamburger Kaufmannsfamilie wie dem hanseatischen Bürgertum insgesamt.

In seiner sorgfältigen und gut geschriebenen Gießener Dissertation konzentriert sich David Thimme ganz auf Percy Ernst Schramm als Mediävist, ohne dessen Arbeiten zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs oder zum hanseatischen Bürgertum völlig zu vernachlässigen. Dafür nutzt Thimme neben dem reichen gedruckten Werk mit Fleiß und Umsicht den beträchtlichen Nachlass im Staatsarchiv Hamburg, den Schramm selbst in der ihm eigenen Art des Historikers geordnet hatte. Ausgewertet wurden darüber hinaus Akten des Universitätsarchivs Göttingen, des Warburg Institute Archive in London und des Monumenta Germaniae Historica Archivs, München. Hinzu traten Gespräche mit Zeitgenossen und Schülern. Auf diesen Grundlagen wird - ohne reißerische Besserwisserei - ein Gelehrtenleben entworfen, das Schramm sicher anders beschrieben hätte als sein Biograf Thimme. In unveröffentlichten biografischen Aufzeichnungen zum Jahrgang 1894 hatte Schramm wie so viele seiner Generation dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs entscheidende Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung zugewiesen. Später begriff er sein wissenschaftliches Werk über alle Brüche der deutschen Geschichte hinweg als kontinuierliche Entfaltung. Thimme macht dagegen das Geflecht von Abhängigkeiten wie Eigenständigkeiten der wissenschaftlichen Produktion Schramms in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik deutlich. Von großem Gewicht sind die Ausführungen und Urteile zu den entscheidenden Impulsen, die der junge Schramm von Aby Warburg oder Fritz Saxl empfing, wie zum endgültigen Bruch mit der KBW 1935, begleitet von verbalen Attacken gegen Raymond Klibansky. Fast unerklärlich mutet heute die offenbar gänzlich fehlende Reflexion Schramms auf diese Geschehnisse nach 1945 an. Selbst mit dem Warburg Institute begann er so zu kommunizieren, als hätte es die alten Verletzungen gar nicht gegeben.

Gewiss sah sich Schramm nach 1933 wegen seiner internationalen Kontakte und Interessen durchaus bedrohlichen Angriffen von Nationalsozialisten ausgesetzt. Gewiss geriet seine Familie im Zusammenhang mit der Hinrichtung seiner Schwägerin Elisabeth von Thadden wegen deren Verbindungen zum Widerstand 1944 in nicht geringe Nöte. Doch Schramm, durch seine junge Familie verletzbar und vorsichtig, hatte rasch gegengesteuert, war 1934 bis1938 Mitglied des SA-Reitersturms und betrieb gegen den Widerstand örtlicher Parteistellen seine Aufnahme in die NSDAP 1939. Am Zweiten Weltkrieg nahm er von Beginn an teil, wurde 1939 zum Rittmeister, 1943 zum Major befördert. Damit knüpfte er im eigenen Bewusstsein nahtlos an seine militärische Karriere als Kriegsfreiwilliger von 1914 und als Kavallerieleutnant im Ersten Weltkrieg an. Wiederholt kokettierte er später mit seinem militärischen Rang als Rittmeister, dessen Verankerung in der Kavallerie elitäres Selbstbewusstsein transportierte (S. 66, 518).

Das über ihn verhängte Lehrverbot von 1946 bis 1948 empfand Schramm als bitteres Unrecht und er stilisierte sich wie so viele andere zum Gelehrten, der von den verbrecherischen Verstrickungen der NS-Zeit unberührt geblieben war. Deshalb gelang es ihm wie dem Großteil seiner Generation auch leicht, die demokratische Entwicklung nach 1949 zu bejahen und mit zu gestalten. Dabei halfen manche Kontakte zu Kollegen, die Schramm bei ihrer Flucht aus Deutschland unterstützt hatte. Ernst Kantorowicz beispielsweise hatte sich von sich aus für Schramm verwendet. Doch wie belastet das Verhältnis zu den engen Weggefährten der KBW aus frühen Jahren blieb, zeigt Schramms unsensibles Verhalten als Kanzler des Ordens „Pour le mérite“ bei der Ordensverleihung an Erwin Panofsky. Thimme konnte dafür das ungedruckte Manuskript einer „Chronique scandaleuse du Pour le mérite“ von Gerda Panofsky auswerten.

Percy Ernst Schramm brachte viele bedeutende Schüler hervor, ohne dass er sich in ihnen klonen wollte. Er förderte frühe Selbstständigkeit und Grenzgängertum in einer Zeit, als andere deutsche Ordinarien Schulen bildeten. Wie stolz der Doktor- und Habilitations-,,Vater“ aber auf seine Lehrerfolge war, zeigen Bleistiftanmerkungen, mit denen in der ihm gewidmeten Festschrift die beruflichen Stellungen der ‚Schüler‘ festgehalten wurden. Thimme konnte dieses Exemplar ebenso wenig auswerten wie die private Fachbibliothek Schramms mit vielen aufschlussreichen Randbemerkungen zur Rezeption der eigenen Werke durch andere (heute im Historischen Seminar der Technischen Universität Braunschweig).

Der kluge Autor räumt in seinem gelungenen Buch wiederholt ein, wie schwer ihm die Herauslösung des mediävistischen Teils aus dem Gesamtwerk Schramms fiel. Vielleicht hätte er die großbürgerlichen Selbstverständlichkeiten deutscher Ordinarien vor 1960 noch etwas deutlicher würdigen können. Weitgehende soziale Homogenität, die Percy Ernst Schramm sogar noch ‚nach oben‘ durchbrach, wirkte auf Kommunikationsstrukturen und Publikationen weitaus stärker, als es im heutigen Interesse für Wissenschaftsgeschichte deutlich wird. Mediävisten wie Schramm wussten aus jahrelangem Training noch, was ein Pferd im Alltag bedeutete und welche Kommandostrukturen in Reiterverbänden nötig waren. Solche Vertrautheit wirkte auf die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Kriegergesellschaft. Es war keine Nebensächlichkeit, wie Percy Ernst Schramm im November/Dezember 1918 den Rückmarsch seiner Schwadron von der Westfront in die Heimatkaserne kommandierte: „Als Ende November in Köln ein Weitertransport per Bahn nicht organisiert werden konnte, wurde der Entschluß gefaßt, den Rest der Strecke bis Schleswig reitend zu bewältigen. Nach rund drei Wochen [...] traf die Schwadron in der Kaserne in Schleswig ein“ (S. 65). Am Tag danach wurde Percy Ernst Schramm aus der Armee entlassen. Unterbrochen von vier Kriegsjahren, setzte er das im Sommersemester 1914 in Freiburg begonnene Studium mit seinem zweiten Semester fort.

David Thimme hat ein wichtiges Buch über einen bedeutenden Mediävisten, aber auch über Leistungen und Anfechtungen deutscher Gelehrter im 20. Jahrhundert geschrieben.

Bernd Schneidmüller, Heidelberg


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