ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Iris Gusner/Helke Sander, Fantasie und Arbeit. Biografische Zwiesprache, Schüren Verlag, Marburg 2009, 291 S., brosch., 19,90 €.

20 Jahre nach dem Mauerfall haben die beiden deutschen Filmemacherinnen Iris Gusner (DDR) und Helke Sander (BRD), die in unterschiedlichen politischen Systemen aufgewachsen sind, in 30 Kapiteln eine deutsch-deutsche Doppelbiografie geschrieben. Den Gedanken zu dem Buch hatte Iris Gusner, als sie bemerkte, wie wenig ihre heranwachsenden Enkelkinder über die Zeit vor der ‚Wende‘ wissen, und dass die plötzlich verschwundene DDR ihnen so fern war wie die Napoleonischen Kriege und ungefähr genauso interessant. Sie wollte aber nicht von der DDR erzählen, ohne auf die vielfältig mit ihr verbundene BRD einzugehen. In Helke Sander fand sie eine Frau ihrer Generation als Gegenüber. Die Suche nach dem schärferen Bild von sich selbst durch einen Blick „hinter den Spiegel“ hat sich erfüllt.

Deutlich werden sowohl die Ähnlichkeiten ihrer außergewöhnlichen Lebensläufe als auch die (nicht immer nur) systembedingten Unterschiede. So wird ein Stück Geschichte lebendig. Zumindest für Westdeutschland ist das auch ein Stück Frauengeschichte, aus der Sicht einer der wichtigsten Aktivistinnen. Helke Sander berichtet ihre „politische Geschichte“. Frauenrechtlerin zu werden, wäre das letzte gewesen, was sie wollte, schreibt sie im letzten Teil des Buches, indem sie aus erster Hand noch einmal erklärt, wie es im September 1968 zu den sattsam bekannten Tomatenwürfen der SDS-Frauen als immer wieder zitiertes Urerlebnis (1) kam und warum sie keine „hauptberufliche Frauenrechtlerin“ hat werden wollen, obwohl sie mit ihren Werken, besonders mit ihrer weniger „sattsam bekannten“ provokativen Rede, die den Tomatenwürfen vorausging, viel zur Problematisierung und teilweisen Durchsetzung von Frauenrechten beigetragen hat. Schließlich war sie zudem 1968 Mitbegründerin des „Aktionsrats zur Befreiung der Frau“ und der Kinderladenbewegung. Sie gehörte etwas später der Gruppe „Brot und Rosen“ an und war 1974 Initiatorin der Zeitschrift „Frauen und Film“, die im Gegensatz zu anderen während der 1970er Jahre gegründeten Frauenzeitschriften heute noch (unter anderer Leitung) existiert. Dass feministische Filme in den westdeutschen Kinos einen Platz finden konnten, war vor allem ihr Verdienst. Eindrucksvoll ist das Zwiegespräch über die Entstehung des Films „BeFreier und BeFreite“, mit dem Helke Sander und Barbara Johr eindrucksvolles Material über die Nachkriegsvergewaltigungen vorgelegt haben. Der Film wurde bei der Berlinale im Februar 1992 uraufgeführt und zog eine Reihe anderer Filme über diese Nachkriegsgeschichte und später über die Vergewaltigungen in Jugoslawien nach sich. Das gleichnamige Buch der Autorinnen hat mehrere Auflagen erlebt und - ins Japanische übersetzt - die Diskussion um die ‚Comfort-Women‘ begleitet.

Das Werk ist kein Geschichtsbuch und doch auch ein Geschichtsbuch, denn besonders für jüngere Leserinnen und Leser beschreibt es - wenn auch aus einer subjektiven Perspektive - ein Stück verallgemeinerbarer Ost-West Zeitgeschichte. „Die Geldknappheit, das ewige Rechnen und Zählen“ und „dass wir im Alltag zuverlässig nur auf weibliche Solidarität bauen konnten: Nimmst du mir mal das Kind ab? Kannst du für mich schnell mal das oder jenes tun?“, gehörten zu den Gemeinsamkeiten, obwohl die zwei Frauen „doch in zwei verschiedenen Systemen gelebt und gearbeitet haben“. Beide Biografien wurden durch die Arbeit, die ihnen wichtig war, geprägt, denn sie wollten nicht nur irgendwie Geld verdienen, sondern sich in ihrem Beruf und durch die Kinder, deren optimale Versorgung viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm, verwirklichen.

,,Fantasie und Arbeit“ besticht durch den methodischen Wechsel zwischen Gesprächen der beiden Autorinnen, biografischen Erinnerungen, welche die Familiengeschichten und vor allem die Kinder mit einbeziehen, Briefauszügen, Beschreibungen von veröffentlichten und nicht veröffentlichten Filmen im Zusammenhang mit Personen, die die Arbeit gefördert oder behindert haben, und das Erinnern an Menschen, die Leben und Wirken der beiden Frauen beeinflussten. In dem teilweise spannend geschriebenen, teilweise durch sachliche Diskussion bestechenden Buch wird das Ringen um Anerkennung in zwei patriarchalen Systemen deutlich, die beide von ihrem jeweiligen Anspruch, demokratisch beziehungsweise sozialistisch sein zu wollen - zumindest soweit das die Geschlechterfrage betrifft -, entfernt waren. Beide Autorinnen sind als Filmregisseurinnen in einen ‚Männerklub‘ eingebrochen. So konnten beide Frauen weder ohne materielle Nöte arbeiten, noch alle ihre politischen Vorhaben verwirklichen, denn nicht ins Klischee passende Frauen hatten es da wie dort schwer. Beide waren allein erziehende Mütter und sie haben einiges erreicht, ohne zu dem Ruhm zu gelangen, der ihnen eigentlich zugestanden hätte. Die Leserinnen und Leser bekommen Einblicke hinter die Kulissen des traditionellen und alternativen Filmgeschäfts. Ohne Bitterkeit gestehen sie selbstkritisch Fehler ein und bewundern sich gegenseitig, wie sie es geschafft haben, sich selbst und ihrem Anliegen treu zu bleiben und ihren Alltag zu bewältigen.

Iris Gusner studierte in Moskau Filmregie und Helke Sander konnte, nachdem sie sich bereits in Finnland eine frühe Karriere als Theater- und Fernsehregisseurin erkämpft hatte, an der deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin ihr Studium absolvieren. Sie setzte sich zur Zeit der westdeutschen Studentenbewegung nicht nur mit dem bundesdeutschen Establishment auseinander, sondern auch mit der Arroganz der 68er-Genossen, die sich selbst als Avantgarde begriffen, gegen Unterdrückung und Unrecht kämpften und die Emanzipation der Arbeiterklasse forderten, sich aber den Genossinnen und ihren Partnerinnen gegenüber reichlich autoritär verhielten und die Unterdrückung der Frauen nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Auch Iris Gusner erfuhr sowohl im eigenen Alltag als auch durch die Schwierigkeiten, die man ihr in ihrer filmischen Arbeit bereitete, dass die Gleichberechtigung auch in der DDR oft nur eine papierene war.

Während die eine (Helke Sander) mit den Jahren politisch immer aktiver wurde, hat die andere (Iris Gusner) - wie sie selbst schreibt - Schritt für Schritt den Rückzug aus ihrem politischen Engagement angetreten. Die Frage, wie eine gesamtdeutsche demokratische und sozialistische oder sozialistisch-demokratische Gesellschaft aussehen kann, die sich aus den unterschiedlichen Erbschaften der beiden Systeme ergibt, wird auch in diesem Buch nicht hinreichend beantwortet, aber das war vielleicht auch gar nicht beabsichtigt. Die Deutsche Kinemathek hat das Buch im August 2009 zum Buch des Monats erklärt. Es ist (nicht nur) für junge und alte Feministinnen ein lesenswertes Buch.

Gisela Notz, Berlin

Fußnoten:


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