ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Birke/Bernd Hüttner/Gottfried Oy (Hrsg.), Alte Linke - Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion (Texte/Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bd. 57), Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, 241 S., kart., 14,90 €.

Die historiografische Aufarbeitung des „magischen Datums 1968“ (Wolfgang Kraushaar) ist in den letzten Jahren deutlich vorangekommen. Zum 30. Jubiläum der Revolte wurde die „Entzauberung des Mythos“ (Franz-Werner Kersting) gefordert und der Übergang „vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft“ (Ingrid Gilcher-Holtey) auf die Agenda der Forschung gesetzt. Weitere zehn Jahre später ist eine Neuperspektivierung des Gegenstands in vielfältiger Hinsicht zu beobachten. Mit der Betonung der 1960er Jahre als „dynamische Zeiten“ (Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers) wird ‚1968‘ zunehmend in längerfristige historische Transformationsprozesse eingebettet, die weit bis in das vorangegangene beziehungsweise anschließende Jahrzehnt reichen. Verschiedene Untersuchungen beschäftigen sich unter den Schlagworten „Demokratisierung“, „Liberalisierung“, „Modernisierung“ und „Westernisierung“ mit dem sich in den ‚langen 1960er Jahren‘ vollziehenden Wertewandel oder sehen ‚1968‘ als Ausdruck einer „Kulturrevolution“ (Arthur Marwick), die traditionelle Werte radikal in Frage stellte, kulturelle Hierarchien angriff und neue Lebensstile entwickelte. In der jüngeren Forschung ist zudem die globale Dimension von ‚1968‘ (Immanuel Wallerstein) herausgearbeitet worden, was die transnationale Orientierung und Vernetzung der 1968er-Akteure ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt hat.

Der hier anzuzeigende, von Peter Birke, Bernd Hüttner und Gottfried Oy herausgegebene Sammelband, der auf eine Tagung zurückgeht, die der Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Fachschaftsrat Psychologie der Universität Hamburg im April 2008 veranstaltet haben, greift manche dieser Erweiterungen des Blickwinkels auf. Die offene Konzeption des Bands folgt keinem speziellen thematischen Schwerpunkt, sondern bringt äußerst unterschiedliche Aspekte der 68er-Bewegungen zusammen. Insgesamt 14 Einzelbeiträge sind dabei vier Themenkomplexen zugeordnet, die überschrieben sind mit „1968 weltweit“, „Soziale Kämpfe“, „Neue Linke“ sowie „Kultur und Revolution“. Dabei geht es den Herausgebern um den Versuch, „die Risse und Brüche zu erweitern, die in dem vermeintlich homogenen Bild aufscheinen, das in den diversen Filmen und Debatten, Texten und Thesen [im Jubiläumsjahr; P.B.] 2008 über die [...] Revolte produziert wurde“ (S. 9).

Dieser etwas vage formulierten Zielsetzung entsprechend wirken die thematische Auswahl und Gliederung der Beiträge, wie die Herausgeber einleitend selbst einräumen, etwas willkürlich zusammengewürfelt. Ähnliches gilt für die in den Titel des Bands aufgenommenen Begriffe „Alte Linke“ und „Neue Linke“, die zumindest im letzten Fall auf eine fluide Gruppe zielen und daher schärfer hätten konturiert werden können. Gleichwohl greifen die Einzelbeiträge bestimmte Leitfragen auf, die den Band zum einen konzeptionell zusammenhalten, und zum anderen den für das schillernde Ereignisbündel ‚1968‘ so charakteristischen Facettenreichtum deutlich werden lassen: Für den ersten Themenkomplex „1968 weltweit“ ist die Frage nach der Transnationalität beziehungsweise Globalität der Revolten zentral. Einleitend definiert Angelika Ebbinghaus ein „globales 1968“, welches mit Etienne François als „plurale Einheit“ verstanden werden müsse (S. 22f.). Juliane Schumacher und Armin Kuhn widmen sich einem von der Forschung bislang wenig beachteten Aspekt. Ihr Beitrag zur mexikanischen Studentenbewegung stellt die Bedeutung heraus, die ‚1968‘ in der von den klerikal-konservativen Machthabern dominierten Erinnerungskultur des heutigen Mexiko zukommt, und plädiert dafür, „der herrschenden Deutung nicht das Feld [zu] überlassen [...], der zufolge das Land [seit 1968, P.B.] sicher in den Schoß einer stabilen Demokratie gleitet, während das Gegenteil der Fall ist und Repression, Einschüchterung und die Militarisierung des Landes zunehmen“ (S. 38). Dass „die jeweils spezifischen nationalstaatlichen Kontexte [...] nicht nur in den westlichen, sondern auch in den östlichen Ländern sehr unterschiedliche Protestbewegungen hervor[brachten]“ (S. 39), verdeutlicht Boris Kanzleiters Beitrag zu ‚1968‘ in Jugoslawien. Anhand einer Betrachtung der Zeitschrift „Praxis“, welche ein wichtiges Forum des Austauschs zwischen kritischen Intellektuellen aus West und Ost darstellte, wird gleichzeitig die Bedeutung der transnationalen Vernetzung der Akteure für die 68er-Proteste und damit die These vom „globalen 1968“ untermauert. Dass diese „globale Revolution“ allerdings durch markante „Ungleichzeitigkeiten“ im Weltsystem geprägt war, vermag Christian Frings am Beispiel der Arbeitskämpfe um 1968, die in die lange Geschichte der Arbeitskämpfe seit Ende des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden, zu zeigen.

Im Mittelpunkt des zweiten Themenkomplexes stehen die „Sozialen Kämpfe“ um 1968. Ausgehend von einer Betrachtung der Streiks im Pariser Mai und in der Bundesrepublik der 1960er Jahre arbeitet Peter Birke in seinen „Überlegungen zu den Arbeitskämpfen der 1968er Jahre“ heraus, wie eine seit längerer Zeit latent vorhandene, sich zunächst in lokalen Protesten manifestierende Unruhe in den Betrieben Ausgangspunkt für massenhafte Arbeitskämpfe werden konnte, welche vor allem als Artikulation einer Unzufriedenheit mit der Lohnarbeit verstanden werden können. Mit seiner Betrachtung der „bundesdeutschen Lehrlingsbewegung von 1968 bis 1972“ wendet sich Knud Andresen, wie der Untertitel seines Beitrags treffend zum Ausdruck bringt, einem gerade von der jüngeren Forschung „vernachlässigtem Phänomen“ zu. Die Ende 1969 - auf der Grundlage einer sich an der Reformbedürftigkeit der Ausbildungsbedingungen entzündenden Politisierung - entstandene Lehrlingsbewegung bildete im Unterschied zur antiautoritären Studentenbewegung eher eine systemimmanente Opposition, deren Aktivisten die bestehende Ordnung zu reformieren gedachten und sich als „Antreiber und Kritiker der Gewerkschaften und auch der sozialliberalen Koalition“ verstanden (S. 101). Der sich anschließende Aufsatz von Raquel Varela über die „Alte Linke in der Nelkenrevolution“ wirkt an dieser Stelle nicht nur in thematischer Hinsicht deplatziert. So erfährt der Leser zwar einiges zur Rolle der kommunistischen Partei Portugals (PCP) in der ‚Nelkenrevolution`. Inwiefern die portugiesischen Ereignisse im Jahr 1974 mit den europäischen 68er-Protesten in Verbindung stehen, mit anderen Worten, ob und inwieweit sich die Nelkenrevolution in die „sozialen Kämpfe der 1968er Jahre“ einreiht, bleibt jedoch weitgehend im Unklaren. Dass die verschiedenartigen sozialen Kämpfe der ‚langen 1960er Jahre‘ durchaus „als Ausdruck eines großen transnationalen Konfrontationszyklus“ (S. 115) zu begreifen sind, in welchem sich separate Bewegungen gegenseitig beeinflussten, kann Marcel van der Linden am Beispiel der Diffusion der Arbeiterinnen- und Arbeiter- sowie der Jugend- und Frauenbewegungen in Frankreich, der Bundesrepublik, Italien und Großbritannien überzeugend darlegen.

Der dritte Themenkomplex befasst sich mit der ‚Neuen Linken‘ als eine der maßgeblichen Trägergruppen der sozialen Kämpfe. Auf der Grundlage der Theorie des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, die von der ‚Neuen Linken‘ rezipiert und in „revolutionäre Praxis“ überführt wurde, analysiert Kristina Schulz die Geschichte der ‚sexuellen Revolution‘ aus einer ideengeschichtlichen Perspektive. Anschließend spürt Gerhard Hanloser in seinem Beitrag „Zwischen Klassenkampf und Autonomie - Die Neue Linke und die soziale Frage“ den Gründen dafür nach, weshalb der Versuch der radikalen ‚Neuen Linken‘ in der Bundesrepublik, die Dynamik des antiautoritären Protests in die Arbeitskämpfe zu transformieren, letztlich auf der Strecke geblieben ist. Das Kapitel schließt mit Markus Mohrs Beitrag „Die Erben der Scherben - Eine Performance zum Thema ‚Rezeption der 1968er Jahre`“.

Für den vierten Themenkomplex zentral ist schließlich der kulturrevolutionäre Impetus der Revolte von 1968. Arndt Neumann geht der Frage nach, wie gegenkulturelle Impulse die Entwicklung des Films bis hin zur Etablierung des interaktiven Videoportals „YouTube“ beeinflusst haben, und kommt zu dem Ergebnis, dass „subkulturelle Praxen und intellektuelle Entwürfe, die am Rande der fordistischen Gesellschaft entstanden, [...] heute im Zentrum der postfordistischen Gesellschaft wieder [zu finden sind]“ (S. 182). Dies verweist einmal mehr auf jene manchmal paradox erscheinende „Kernfusion von Gegenkultur und Kulturindustrie“ (Walter Grasskamp) im Zuge der Herausbildung einer flexibleren Variante des Kapitalismus, mit welcher die „1968er Jahre“ zweifellos auch in Verbindung zu bringen sind. Bernd Hüttner und Gottfried Oy befassen sich im anschließenden Beitrag mit dem ambivalenten Verhältnis der 68er-Akteure zu den Medien. Demnach ging es den 68ern um den Zugang zur bestehenden Öffentlichkeit; gleichzeitig waren sie aber um eine Kritik derselben und um die Schaffung einer alternativen Gegenöffentlichkeit bemüht. Indessen darf etwa angesichts der „Kommune 1“, die die massenmediale Aufmerksamkeit allzu oft für ihre eigenen, rein kommerziellen Zwecke zu nutzen wusste - wie die jüngere Forschung betont hat -, bezweifelt werden, ob das Bild der medienkritischen 68er in dieser Pauschalität aufrechterhalten werden kann. In ihrer Betrachtung der Frauenbewegungen sowie der Alternativbewegungen befasst sich Gisela Notz sodann exemplarisch mit der Wirkmächtigkeit von ‚1968`, die in den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre zum Ausdruck kommt.

Der Band schließt mit einem knappen, deshalb stark selektiven Literaturbericht, der wichtige, um 2008 zu ‚1968‘ erschienene Publikationen bespricht (Hartmut Rübner), gefolgt von einem kurzen Schlussartikel von Gerd-Rainer Horn. Den Zusammenhang von Kultur und Politik betonend, plädiert Horn dafür, der politischen Dimension von ‚1968‘ gegenüber der von der Forschung stark kulturgeschichtlich akzentuierten Lesart der Revolte wieder eine größere Bedeutung beizumessen. Dass dabei anstelle von „1968“ mehr als einmal „1989“ zu lesen ist, sorgt überflüssigerweise für Verwirrung.

Solche Kleinigkeiten können den positiven Gesamteindruck, den der Band am Ende hinterlässt, genauso wenig schmälern wie die in der Einleitung aufgemachten, mitunter konstruiert wirkenden Aktualitätsbezüge, die einer historiografischen Aufarbeitung der bis heute umkämpften Ereignisse wenig zuträglich sind. Am Ende bleibt der Eindruck eines Sammelbands, der neue Anregungen zur Beschäftigung mit Einzelaspekten der „1968er Jahre“ liefert, die bislang nur am Rande behandelt wurden. Diesen sollte die Forschung zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken.

Peter Beule, Bonn


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