ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2009, 367 S., geb., 39,90 €.

Dieser Publikation liegt die politikwissenschaftliche Dissertation des Verfassers an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn zugrunde, betreut von Professor Tilman Mayer. Es ist die erste wissenschaftliche Monografie über Gustav Heinemann seit langer Zeit, die zudem dessen gesamte Lebensspanne (1899-1976) umfasst. Der Verfasser grenzt sich ab von den bisherigen Publikationen über Heinemann, die zumeist „zu einer verklärenden Apotheose seiner Person tendieren“ (S. 15). Umso mehr ist er um den wissenschaftlichen Charakter seiner Arbeit bemüht: Seine Fußnoten, die oft lexikalischen Charakter haben, umfassen im Petit-Druck mehr als 90 Seiten, das eng gedruckte Literaturverzeichnis beansprucht 25 Seiten und sein detaillierter Bericht über die Quellenlage ist beachtlich.

Im Kapitel „Stand der Forschung“ lässt Treffke allein vier Monografien als wissenschaftlich gelten, die jeweils nur einen Bereich von Heinemanns Wirken behandeln: die Pionierstudie von Diether Koch über die Deutschlandpolitik, Uwe Schütz über das Friedensproblem, Josef Müller über die GVP und Karl-Ludwig Sommer über Heinemann in der SPD. Die biografische Literatur über Gustav Heinemann ist in der Tat weitgehend im Umfeld von Heinemanns Präsidentschaft und deren Ausstrahlung entstanden. Ist das aber ein Hinderungsgrund für gute Erkenntnisse? Es bleibt vielmehr festzuhalten, dass mit den Biografien von Helmut Lindemann (1978) und Hermann Vinke (1979, 1986) eine verlässliche Grundinformation über das Leben von Gustav Heinemann vorliegt.

Der Autor versteht seine Arbeit jedoch nicht als eine Biografie im engeren Sinn. Im Titel wird sie als „politische Biographie“ bezeichnet, und auch dieser Begriff wird noch erheblich eingegrenzt. Treffke benennt die Lebensbereiche Heinemanns, die er nicht behandelt, und charakterisiert sein Projekt schließlich als eine Darstellung von „Heinemanns parteipolitischer Karriere“ (S. 12). In seiner Magisterarbeit bearbeitete er das Thema „Gustav W. Heinemann und die CDU. 1945-1952“, und das hat wohl zu der Thematik seiner Dissertation geführt: eine Untersuchung über Heinemanns „wechselhaften parteipolitischen Lebenslauf“, der ihn von 1919 bis 1969 durch insgesamt fünf Parteien geführt hat. So erklärt sich der erste, sachlogisch, indes problematische Untertitel des Buchs „Wanderer zwischen den Parteien“.

,,Ein Leben - fünf Parteien“ so lautet dann auch die Überschrift des Darstellungsteils. Der wiederholte Wechsel der Parteimitgliedschaft wird damit als das Charakteristikum Gustav Heinemanns herausgestellt, das Fragen aufwirft und untersucht werden soll. Das Titelfoto auf dem Umschlag zeigt den „Wanderer zwischen den Parteien“ mit abgewandtem Blick (obwohl für Heinemann ein offener, frontaler Blick typisch gewesen ist), und hinter ihm schattenhaft eine Person im Zwielicht. In der Einleitung wird Heinemann unter dem Titel „Ein politischer Solist“ als „vielschichtig und kontrovers“, als der „Antityp eines Politikers“ beschrieben, der „polarisierte [...] wie kaum ein zweiter in der deutschen Nachkriegsgeschichte“ (S. 11). Man fragt sich, warum der Autor sich auf diese Person eingelassen hat.

Es ist nach solchen Charakterisierungen jedoch überraschend, dass der Hauptteil des Werks in einem sachlich gehaltenen Berichtsstil geschrieben ist. In acht großen Kapiteln, die wiederum mehrfach untergliedert sind, wird die parteipolitische Biografie Gustav Heinemanns dargestellt, reich garniert mit kurzen Zitaten und Anmerkungen. Zu fragen ist im Folgenden vor allem danach, was Treffke über die vorliegende Literatur hinaus an neuen Erkenntnissen beiträgt.

Er beginnt mit den Grundlagen und „Lehrjahren“ dieses politischen Lebens, Heinemanns Herkunft und seine Schulzeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Eingehend werden hier die demokratisch-republikanische Tradition seines Elternhauses sowie die antiwilhelminische Einstellung des Vaters herausgestellt, und ein besonderes Kapitel informiert über das Weltbild des Monismus, von dem Heinemann in seinem Elternhaus geprägt wurde. Der nationale Patriotismus, der im Weltkrieg aufblühte und für Heinemann grundlegend blieb, wird durch das extensive Zitieren von Schülerversen (S. 31ff.) allerdings nicht adäquat verdeutlicht.

Das folgende Kapitel behandelt Heinemanns erste Parteimitgliedschaft. Zunächst werden die neuen demokratischen und sozialen Grundüberzeugungen des jungen Jurastudenten überzeugend analysiert. Sein wehrhaftes Engagement für die Durchsetzung der jungen Republik führte ihn 1920 in Marburg in einen Freundeskreis von Mitbegründern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP); deren Entstehung, Struktur und Programmatik ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Dieses Kapitel endet - wie auch die folgenden - mit der Frage nach Heinemanns Verhalten zu den anderen zeitgenössischen Parteien, unter anderem wird erwähnt, wie er Hitler bei einer Versammlung in München erlebte.

Mit einem biografischen Sprung von acht Jahren erreicht die Darstellung dann Heinemanns nächste Partei-Aktivität. Deren Darstellung steht auf einer schwachen Grundlage; denn erst nach 1945 hat Heinemann erwähnt, dass er Mitglied des Christlich-Sozialen Volksdienstes (CSV) gewesen ist. Diese im evangelischen Württemberg beheimatete Partei konnte sich im Jahr 1930 reichsweit verbreiten und bei der Reichstagswahl auch Mandate erobern. In Essen war Pfarrer Friedrich Graeber, der großen Einfluss auf Gustav und Hilda Heinemann gewonnen hatte, ein aktiver Agitator dieser Partei, und so erklärt sich Heinemanns Mitgliedschaft im CSV. Treffke ist es gelungen, auf der Basis einiger Tagebuch-Notizen und ergänzender Mitteilungen über den CSV eine überzeugende Interpretation dieses neuen, aus christlicher Verantwortung geborenen Partei-Engagements von Heinemann vorzulegen.

Obwohl Gustav Heinemann in der NS-Zeit nicht parteipolitisch engagiert war, lässt der Autor ein Kapitel „Heinemann und das Dritte Reich“ folgen. Hier wird Heinemanns parteipolitische Abstinenz zunächst festgehalten, dann jedoch ausführlich nachgewiesen, dass er „als Mitglied in insgesamt drei NS-Organisationen [...] zu einer partiellen Kooperation mit dem NS-Regime bereit“ (S. 75) gewesen sei und auch beruflich davon profitierte. (Die Zurücksetzung, die er hinnehmen musste, wird erst vier Seiten später erwähnt!) Gewiss: Die Erfolge von Hitlers Außenpolitik haben auch den jungen Heinemann beeindruckt, und im ‚Bombenkrieg‘ stand er auf der Seite der deutschen Wehrmacht. Es ist ein Verdienst des Verfassers, auf die Kompromisse hingewiesen zu haben, die Heinemann damals eingegangen ist. Wer aber konnte im NS-Staat leben, ohne dienstlich den Hitler-Gruß zu gebrauchen oder Mitglied in einer Massenorganisation zu sein? Ist es wirklich gerechtfertigt, hier von „Kooperation mit dem Regime“ und von „Opportunismus“ zu sprechen und Heinemanns Verhalten mit dem von Globke, Kiesinger und Filbinger in eine Reihe zu stellen?

Bei der Behandlung von Heinemanns Beteiligung am Kirchenkampf gegen die NS-Bewegung „Deutsche Christen“ will Treffke sodann nachweisen, dass es sich hier allein um den Kampf gegen eine Glaubensbewegung, nicht aber um politischen Widerstand gehandelt habe - als wenn die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus nicht ein zentraler Teil der Innenpolitik unter Hitlers persönlicher Leitung gewesen ist. In einer merkwürdigen Verkennung der Sachverhalte wie auch der Forschungsdiskussion über Widerstand wird unter dem Titel „Widerstandskämpfer oder Opportunist?“ schließlich behauptet, das Verhalten der Bekennenden Kirche sei kein Widerstand gewesen und Heinemann vielmehr ein „opportunistischer Mitläufer“ (S. 84). Kann der abschließende Hinweis auf Heinemanns persönliche Identifikation mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 (S. 85) in diesem Sinne als ein ihn belastendes Argument verstanden werden?

Mit dem Jahr 1945 erst kommt die Untersuchung zu ihrem eigentlichen Thema: drei Parteimitgliedschaften Heinemanns bis 1957. Das Kapitel über Heinemanns Aktivität in der jungen CDU, vorbereitet durch die Magisterarbeit, ist besonders ertragreich und ausgearbeitet. Nicht die Alltagsarbeit als Oberbürgermeister von Essen, sondern die Entwicklung der CDU-Programmatik und Heinemanns Verhältnis zu Konrad Adenauer stehen im Mittelpunkt. Unter dem Titel „Antipode Adenauers“ werden die von Anfang an belasteten Beziehungen der beiden grundverschiedenen Politiker mit vielen neuen Details dargestellt. Bemerkenswert ist hier die kritische Distanz des Autors zu Adenauers politischer Taktik, die Ausgrenzung Heinemanns aus der CDU (S. 96-116). Die Entwicklung einer deutschlandpolitischen Alternativ-Konzeption und deren organisatorische Umsetzung seit 1951 (Notgemeinschaft für den Frieden Europas, Kontakte zur SPD) werden umsichtig analysiert.

Im folgenden Kapitel wird nachgewiesen, dass sich Gustav Heinemann (warum wird er zu Beginn als „politische Unperson“ bezeichnet?) zur Gründung der Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) nur schwer entschließen konnte. Der Autor betont die aktive Rolle von Adolf Scheu, und erarbeitet in einem eigenen Abschnitt das Selbstverständnis dieser neuen Partei überzeugend heraus. Der überwiegende Teil dieses Kapitels ist dann den Problemen gewidmet, vor denen die GVP angesichts der Fünf-Prozent-Klausel und ihrer desolaten Finanzlage im Wahljahr 1953 gestanden hat. Ein Wahlbündnis mit dem „Bund der Deutschen“ schien die Lösung zu sein, auch in finanzieller Hinsicht. Ein Finanztransfer von einer halben Million D-Mark, der geheim bleiben musste, ist seitdem ein Streitthema in der Presse und in der Forschung. Auch Treffke hat sich hier engagiert und im Archiv der Ost-CDU Berichte entdeckt, aus denen hervorgeht, dass drei Vertreter der GVP nach dem Verlust der Bundestagswahl bei der CDU in Ost-Berlin um finanzielle Unterstützung nachsuchten. Wiederholt räumt er jedoch ein, dass konkrete Belege für Zahlungen an die GVP nicht vorliegen. Dennoch behauptet er unter der Überschrift „Von Moskau bezahlt?“, dass Heinemann „bereit war, sich in die Abhängigkeit der DDR-Machthaber zu begeben“, und mit einer leichtfertigen Übernahme von Formulierungen der Gegenseite kommt er zu der Feststellung, dass „eine politische Anleitung und eine direkte Finanzierung der GVP durch die westdeutsche KPD stattgefunden hat“ (S. 147f. und S. 152). Die Aussagen über Heinemanns Verhalten in diesem Zusammenhang stehen häufig in einem Licht antikommunistischer Verdächtigung.

In arrogantem Ton über die Erfolglosigkeit der GVP (S. 154f.) beginnt das Kapitel, das Heinemanns „letztem Ausweg“ gewidmet ist, seinem Übergang zur SPD. Wiederum wird der Vorgeschichte breiten Raum gegeben: mit einem flotten Abriss der SPD-Nachkriegsentwicklung und einer Darstellung des schwierigen Prozesses der GVP-Auflösung. Dann kommt Heinemanns „Parteikarriere“ zum Zuge: seine Annäherung an die SPD, wobei die Rolle Fritz Erlers unterbelichtet bleibt, und der ungewöhnlich schnelle Aufstieg in den Parteigremien nach der Bundestagswahl von 1957. Ohne dass die politischen Hintergründe näher beleuchtet werden, kommen hier die Beiträge zur Geltung, die Heinemann zu dem großen Prozess der Neuorientierung der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren 1957 bis 1960 geleistet hat. Wenig beachtet bleiben indes die Umorientierungen, die für Heinemann in seinem persönlichen Weltbild in diesen Jahren anstanden. Zunehmend betont der Verfasser nun auch eine Distanz Heinemanns zu der SPD Willy Brandts (vgl. bereits die Kapitel-Überschrift „Niemandes Genosse“ sowie zuletzt S. 206f. und S. 213f.).

Mit einem Sprung zum Bundesjustizminister der Großen Koalition wendet sich der Autor dem letzten Jahrzehnt dieses politischen Lebens zu, das noch einmal von einer großen Aktivität geprägt war, aber nicht mehr im Zeichen der Parteipolitik stand. Eingehend werden die einzelnen Schritte der denkwürdigen Reform des Strafrechts dargestellt, die Heinemann zusammen mit seinem tatkräftigen Staatssekretär Horst Ehmke auf den Weg gebracht hat, und dazu gehörte auch die Initiative, die Verjährungsfrist für Mord und NS-Verbrechen aufzuheben. Schließlich wird Heinemanns Verhalten in der Frage der Zulassung einer kommunistischen Partei eingehend untersucht (S. 184ff.).

Das Ansehen, das sich der Justizminister erwarb, empfahl ihn 1969 als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Jenseits des Endes von Heinemanns parteipolitischer Biografie werden die Vorgeschichte und zentrale Dimensionen von Heinemanns Präsidentschaft knapp und respektvoll skizziert. Ein Forschungsbeitrag des Verfassers ist die Klärung des Wahlverhaltens von Ernst Lemmer am 5. März 1969 (S. 194f.). Als Tenor der Amtsführung Heinemanns wird seine Rolle als Brückenbauer herausgestellt, im Dienste der Versöhnung der Generationen in Deutschland und der Verständigung mit den Nachbarn in Europa. Aber auch die „freimütige Kritik“ des Alt-Präsidenten (S. 207ff.) wird nicht übersehen.

Am Ende der politischen Biografie von Gustav Heinemann angelangt, betrachtet Jörg Treffke seine Arbeit jedoch noch nicht als beendet. Er sieht sich vielmehr veranlasst, rückblickend danach zu fragen, auf welchen geistigen Grundlagen Gustav Heinemann als Politiker gestanden hat. Angeregt wohl durch die Studie von Martin Rupps über Helmut Schmidt, thematisiert Treffke in einem neunten Kapitel das „Politikverständnis“ Gustav Heinemanns in fünf Richtungen. Das „Menschenbild“ Heinemanns sei lutherisch geprägt und frei von Zynismus, wie in Abgrenzung zu Konrad Adenauer betont wird (S. 216f.). Der Mensch habe einen freien Willen und sei befähigt, Verantwortung zu übernehmen. Der „Kampf gegen Hunger und Krieg“ sei der Inbegriff von Heinemanns Verantwortungsethik. - Das „Staatsverständnis“ Heinemanns war pragmatisch, rational und gegen jede Überhöhung des Staats gerichtet. Mit der Schwertgewalt auch von Gott ausgerüstet, habe der Staat die Aufgabe, das Böse abzuwehren und das Gute zu fördern. Er stehe nicht über den Bürgern, sondern sei deren gemeinsame Organisation und Aufgabe. - Das „Demokratieverständnis“ Heinemanns bildete den Kern seines politischen Credo. Demokratie sei für ihn nicht nur als Staats- und Gemeinschaftsform ohne Alternative gewesen, sondern auch das wahre Lebenselement eines mündigen Bürgers. - Das „Parteienverständnis“ Heinemanns war bestimmt von deren nüchterner Einschätzung als Zweckinstrumente zur Erreichung politischer Ziele und von der Freiheit jedes Abgeordneten als Vertreter des Volks. - Auch das „Amtsverständnis“ Heinemanns war lutherisch geprägt: Der Christ sei zum Dienst für seine Mitmenschen verpflichtet, habe in Politik und Gesellschaft eine Aufgabe zu suchen und diese als ein Amt zu verstehen, für dessen Wahrnehmung er gegenüber Gott und den Mitmenschen Verantwortung und Rechenschaft schulde. - Treffkes Ausführungen in diesem Kapitel sind durch Zitate reich belegt und zeigen noch einmal, in welchem Maße er in den Schriften und Äußerungen Heinemanns sowie der Literatur über ihn - einschließlich der Presse - bewandert ist. Und man kann ihm attestieren, dass es ihm gelungen ist, ein korrektes, überzeugendes Bild von den Grundlagen und dem principium movens dieses politischen Denkens und Handelns zu zeichnen.

Daher kommt der Autor in seiner „Zusammenfassung und Schlussbetrachtung“ zu einem bemerkenswerten Resümee. Er greift seine zentrale Fragestellung nach dem „Fünf-Parteien-Politiker Heinemann“ (S. 228) auf und stellt fest: Im Wechsel der Parteien, in denen Heinemann aktiv gewesen ist, sei doch „ein roter Faden“ seines politischen Lebens zu erkennen: der Ernst und die „Bedingungslosigkeit“, mit denen er seine große Parteien übergreifenden politischen Ziele verfolgte (S. 233). Um diese zu erreichen, konnte er die Partei wechseln, da sie ihm stets nur Mittel zum Zweck war. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich Treffke veranlasst gesehen, den vierfachen Parteiwechsel Heinemanns auf einen einzigen zu reduzieren und zu erklären, dass „lediglich der Wechsel von der CDU zur GVP ein klassischer Parteiwechsel war, der aufgrund politischer bzw. programmatischer Differenzen vollzogen wurde“ (S. 234). Im Lichte dieser Einsicht geht er dann noch einmal die Stationen von Heinemanns Weg durch, stellt „die Idee des Ausgleichs in den Mittelpunkt seines politischen Handelns“ (S. 235) und betrachtet das Amt des Bundespräsidenten als die Krönung seines Wegs einer „ideologiefreien und versöhnenden Politik“ (S. 237). Für Heinemann, der auch „innerparteilich nie ein Alphatier oder ein Machtmensch“ gewesen sei, war „Politik kein Selbstzweck, [...] sie diente stets einer höheren Aufgabe - der Freiheit und der Demokratie“ (S. 238).

Mit diesen Sätzen schließt die Darstellung, und der Rezensent steht am Ende einer Lektüre, die von einer distanzierenden Einleitung über wechselnd nachzuvollziehende Interpretationen zu einer überzeugenden Interpretation von Heinemanns Politikverständnis geführt hat. Die bleibende Aktualität von Gustav Heinemanns politischem Leben ist damit erneut deutlich gemacht worden. Treffke hat letztlich gezeigt, dass Heinemanns Parteiwechsel nicht das wichtigste Thema seines politischen Lebens gewesen ist, vielmehr waren es die großen Probleme seiner Zeit, die ihn umtrieben, etwa: die Durchsetzung einer demokratischen Gesellschaft in Staat und Kirche, die Vereinigung der deutschen Nation, die Sicherung des Friedens im geteilten Europa, eine humanitäre Modernisierung des Rechtssystems.

Zur Verfolgung dieser Themen im Leben Heinemanns bleibt noch viel zu tun. Jörg Treffke hat zum Verständnis von Gustav Heinemann, nicht zuletzt auch durch kritische Fragen, neue Kenntnisse und Einsichten vermittelt, etwa zur Rolle des monistischen Weltbilds in seiner Jugend, über sein Engagement im Christlich-Sozialen Volksdienst, zur Bewertung seines Verhaltens in der Zeit des Nationalsozialismus, über seinen Konflikt mit Konrad Adenauer, über die Ostbeziehungen der GVP, zu den Grundlagen seines Politikverständnisses.

Wer bei der Beurteilung dieses Buches von der Einleitung und den Kapitel-Überschriften ausgeht, gerät leicht in eine Spur, die dem Ganzen nicht gerecht wird. Verfolgt man aber Treffkes Argumentationen bis zum Ende, kann man zu einer anderen Einschätzung kommen: dass hier ein Politikwissenschaftler mit einem kritischen Ansatz an eine politische Biografie Gustav Heinemanns herangegangen und schließlich zu einer positiven Würdigung von Heinemanns Grundposition gelangt ist. Da sollte man bei aller Kritik im Einzelnen den Hut ziehen. Der Rezensent erlebte ein work in progress des Autors und er bleibt beeindruckt von der Intensität seiner Recherche und der Quellennähe seiner Darstellung.

Otto Dann, Köln


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 18. Mai 2010