ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Roland Thimme (Hrsg.), Schwarzmondnacht. Authentische Tagebücher berichten (1933-1953). Nazidiktatur - Sowjetische Besatzerwillkür, Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 359 S., geb., 26,80 €.

Auf den ersten Blick vereint dieser Band historische Dokumente zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen - zur Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und zu der des Anfangs der sowjetischen Besatzungsherrschaft in der Region Potsdam. Doch bei genauerem Zusehen stellt sich heraus, dass es für diejenigen, deren Erlebnisse in den Jahren von 1933 bis 1953 hier dokumentiert werden, um die systemübergreifende Erfahrung der Zerstörung ihres gewohnten ‚bürgerlichen‘ Lebensumfelds und zugleich um das Überleben im Ausnahmezustand ging. Der Titel „Schwarzmondnacht“, übernommen von einem auf dem Umschlag abgedruckten Bild Karl Hofers, das vom Maler mit der Zuschreibung „Potsdam 1944“ versehen wurde, unterstreicht die dem Buch eigene bedrückende Aura von Diktatur, Kriegsendzeit und Besatzungsherrschaft.

Der Band ist in vier Kapitel gegliedert, die jeweils durch einen Beitrag des Herausgebers eingeleitet werden. Im ersten Kapitel geht es um die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur. Präsentiert werden Auszüge aus dem Tagebuch von Hans Thimme, des Vaters des Herausgebers: Hans Thimme, dessen Lebensweg einleitend kurz nachgezeichnet wird, war seit 1920 Archivrat im Potsdamer Reichsarchiv. In der Einführung wird vermerkt, dass er - wie viele Teilnehmer am Ersten Weltkrieg und als Bildungsbürger - ein distanziertes Verhältnis zur Weimarer Republik, insbesondere zu den Parteien hatte. So erwartete er von der ‚Machtübernahme‘ der Nationalsozialisten, Hitler werde den Versailler Vertrag friedlich revidieren, eine Reichsreform mit dem Ziel einer straffen Staatsaufsicht durchführen und eine Volksgemeinschaft ohne Parteien herstellen (S. 21ff.). Zudem aber markierte Hans Thimme, wie sich in den ab dem 18. Februar 1933 dokumentierten Tagebucheinträgen zeigt, von Anfang an kritisch die Mobilisierung „der Verbrecher“, die „Entwicklung der Diktatur nach bewährtem Muster“; vor allem „die Maßnahmen der Nazis gegen Juden“ galten ihm als „verwerflich und unklug, weil sie die Einheit der Nation zerstören, einen falschen Rassebegriff anstelle der Nation setzen, zwei Klassen von ungleich berechtigten Staatsbürgern schaffen“ (Februar und April 1933). Deutlich wird, dass partielle Zustimmung zu Einzelmaßnahmen des NS-Regimes und grundsätzliche Ablehnung der Diktatur eng miteinander verzahnt waren: So begrüßte Thimme einerseits das „Wegräumen“ von Parteien, Ländern und Klassen durch die zu bejahende Revolution der Nationalsozialisten (7. Mai 1933) und - durchaus verknüpft mit antisemitischen Stereotypen - die Eindämmung des Einflusses „der“ Juden (18. April 1933, 12. August 1935, 21. März 1940); auch äußerte er mehrfach Bewunderung für Hitlers Reden (11. März 1933, 6. November 1933, 4. Februar 1934, 7. März 1936, 27. März 1936, 28. März1936). Doch andererseits zeigt sich grundsätzliche Ablehnung der menschenverachtenden und willkürlichen Herrschaft des Nationalsozialismus und der unverantwortlichen Kriegstreiberei (7. September 1935, 19. Dezember 1941); und in zunehmendem Maße distanzierte sich Thimme von der Ausgrenzung und schließlich mörderischen Verfolgung der Juden (21. Januar 1942, 3. April 1943). So heißt es am 26. Januar 1945: „Wir sind alle schuldig, hätten laut protestieren müssen gegen die Massenvernichtung, haben es aus Feigheit nicht getan, so kommt das Blut mit Recht über uns. Es waren unsere Nächsten.“

Im zweiten Kapitel wird die „brutale Wirklichkeit der sowjetischen Eroberung Ostdeutschlands 1945“ - das heißt konkret die Eroberung und Besetzung der Region von Potsdam - geschildert, wobei zeitgenössische Tagebuchaufzeichnungen oder auf deren Basis entstandene Kurzberichte die Grundlage der Dokumentation bieten. Ein besonderer Aspekt der Erfahrungsgeschichte wird im dritten Kapitel entfaltet: Hier geht es um „Frauen im Ausnahmezustand“, also um die „Erfahrungen mit sowjetischen Siegersoldaten“. Die Tagebucheintragungen von Marianne Vogt aus dem Jahr 1945, die Aufzeichnungen nach täglichen Notizen über die Jahre 1945 bis 1949 in Potsdam von Ellen Gräfin Poninski und die Tagebuchnotizen von Katharina Wille über die Erlebnisse in der Zeit von 1944 bis 1950 lassen das Bild einer furchtbaren Realität entstehen, das von Kampf um das Überleben in einer Zeit von allgegenwärtiger Bedrohung durch Erniedrigung, Vergewaltigung und Tod geprägt war. Im vierten Kapitel wird dem Gesamtbild mit dem Blick auf die Erlebnisse Hans Chemin-Petits, eines „integeren Musikers im politischen Spannungsfeld“, eine weitere Facette hinzugefügt. Die im Anhang gebotenen, erst 2009 entstandenen Aufzeichnungen von Werner Schrank „Die Russen in Potsdam“ runden den Band ab.

Die einzelnen Kapitel beziehungsweise Dokumente werden vom Herausgeber jeweils durch knappe Einleitungen in den historischen Kontext eingebettet; dabei werden nicht nur die Lebensgeschichten der Verfasserinnen respektive Verfasser der jeweiligen Aufzeichnungen skizziert, sondern zudem wird mit einer Art von ‚Lesehilfe‘ ein Interpretationsangebot gemacht. Außerdem wird manche ansonsten unverständliche Eintragung in den einzelnen Dokumenten durch knappe Anmerkungen des Herausgebers erläutert.

In den Tagebucheinträgen aus der Zeit der NS-Diktatur und in den vielfach kurz nach den dramatischen Ereignissen des ‚Zusammenbruchs‘ entstandenen Aufzeichnungen gewinnt die authentische Schilderung der damaligen Erlebnisse eine eindrucksvolle emotionale Dichte, die die heutigen Leserinnen und Leser gewissermaßen zu ‚Zeitgenossen‘ macht, zumindest aber die damalige Situation nachempfinden lässt. Die schonungslos offenen Berichte über Ereignisse und Gefühle führen nicht nur die reale Bedrohung, nicht nur Unterdrückung, Erniedrigung, Vergewaltigung und Tod vor Augen, sondern eben auch Angst und Verzweiflung sowie Mut und trotzigen Überlebenswillen - unter den Bedingungen der NS-Diktatur ebenso wie unter denen der frühen sowjetischen Besatzungsherrschaft. Und sie dokumentieren, dass ‚Zusammenbruch‘ und Kriegsende von den damals Lebenden keineswegs uneingeschränkt als Befreiung empfunden wurden - und dass auch Ende der 1940er Jahre noch keine ‚neue‘ Normalität der Lebensverhältnisse in Sicht war. Der Band bietet damit insgesamt weitere Mosaiksteine für ein noch zu entwerfendes Gesamtbild der Erfahrungsgeschichte der Deutschen in nationalsozialistischer Diktatur und Nachkriegszeit.

Michael Schneider, Kalenborn


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