ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft - Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918-1933/39) (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 77), Oldenbourg Verlag, München 2010, IX + 1245 S., geb., 128,00 €.

Mit ihrer monumentalen Darstellung, die mit mehr als 1.100 Textseiten und einem 100-seitigen Quellen- und Literaturverzeichnis alle für historische Spezialstudien normalerweise gültigen Umfangsgrenzen souverän missachtet, will die Autorin für eine Schlüsselperiode des 20. Jahrhunderts neue Akzente setzen. Konsequent vollzieht Frau Weber den viel geforderten, aber selten überzeugend geglückten Abschied von einer national orientierten Geschichtsschreibung und wendet sich einem transnationalen Vergleich zu, der mittlerweile als ein Signum für innovative Forschung gilt. Methodisch und inhaltlich steht also auch in diesem Werk nicht mehr die Singularität von nationalen Entwicklungsprozessen im Mittelpunkt, die viele Historiker, beschränkt auf das eigene Land, häufig als Königswege adelten oder als Sonderwege anprangerten. Vielmehr geht es der Verfasserin um die komparative Untersuchung von Problemen, die parallel in zwei Staaten zu bewältigen waren und die zu konvergenten oder divergenten Lösungen führten. Mit der Weimarer Republik und der späten Dritten Republik in Frankreich hat sie zwei Länder für ihren Vergleich ausgewählt, die im ersten Jahrzehnt der Zwischenkriegszeit vor ähnlichen sozialstaatlichen Herausforderungen standen, bevor beide in den 1930er Jahren - allerdings auf verschiedene Weise - scheiterten.

Die von Frau Weber unter einem etwas zu verschachtelten Titel vorgelegte Monografie ist im Rahmen eines im Institut für Zeitgeschichte konzipierten und breit angelegten Forschungsprojekts entstanden, aus dem bereits drei exemplarische Analysen zur deutsch-französischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit hervorgegangen sind. Während in diesen Arbeiten der politische Extremismus in den Metropolen Paris und Berlin, die provinziellen Mentalitäten der Landbevölkerung in ausgewählten französischen Departements und deutschen Regionen sowie die Funktionsdefizite des französischen und deutschen Parlamentarismus in den Inflationskrisen der 1920er Jahre analysiert werden (1), rückt Frau Weber mit ihrer Darstellung die unterschiedlichen Traditionen und Praktiken auf dem Feld der industriellen Beziehungen in Deutschland und Frankreich für die beiden Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg in das Blickfeld. Sie versteht ihr Werk als einen Beitrag zur Interdependenz von Politik- und Sozialgeschichte, wobei es ihr darauf ankommt, die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der Entwicklungen in den beiden Ländern aus struktur- und ereignisgeschichtlicher Sicht herauszuarbeiten. Sie will also zum einen die spezifischen nationalen Reaktionen auf die Krisenerfahrungen der Zwischenkriegszeit beleuchten, zum anderen aber auch die wechselseitige Perzeption von Ideen und Argumentationsmustern berücksichtigen. Der im Untertitel auftauchende Begriff „Sozialstaat“ zielt vor allem auf die politische Praxis in den Beziehungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften und weniger oder kaum auf die gesetzgeberische Ebene, also auf die parlamentarischen Auseinandersetzungen um den Ausbau der sozialen Demokratie. So bleibt beispielsweise für die Weimarer Republik der Kampf um die Einführung der Arbeitslosenversicherung ausgeblendet, mit der ein entscheidender Schritt zum Ausbau des Sozialstaats getan wurde.

Die Tatsache, dass gerade für einen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland die ineinander verschränkte und miteinander verzahnte Behandlung von unterschiedlichen und vergleichbaren Entwicklungsprozessen auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsmarktpolitik ein schwieriges Unterfangen ist, war der Autorin bewusst. Deshalb betont sie einleitend, dass die wirtschaftlichen Krisenprozesse in beiden Ländern zeitversetzt einsetzten und dass die große sozialpolitische Zäsur in Deutschland bereits 1918/19 zu verzeichnen ist, während der reformpolitische Durchbruch in Frankreich erst 1936 erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland das während der Weimarer Republik geschaffene moderne kollektive Arbeitsrecht vom NS-Regime bereits wieder beseitigt worden war, die Gewerkschaftsbewegung zerschlagen und der Parteienstaat liquidiert war. In beiden Ländern zeichneten sich somit die Bruchlinien in der sozialstaatlichen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg nicht deckungsgleich durch. Aber auch die Kontinuitätslinien, die man bis zum Beginn der Industrialisierung zurückverfolgen kann, waren in Frankreich und Deutschland unterschiedlich geprägt, wie die Autorin in einem umfangreichen einleitenden Kapitel mit Blick auf die völlig verschiedenen Weichenstellungen in der Vorkriegszeit betont.

In den dann folgenden noch breiter angelegten Hauptkapiteln des Werks werden die Etappen der sozialstaatlichen Konflikte, der industriellen Beziehungen und der Arbeitskämpfe in Deutschland und Frankreich ausführlich behandelt, wobei auf ein Land konzentrierte Abschnitte und komparative Textpassagen miteinander verknüpft sind. Aus guten Gründen beginnt die detaillierte Darstellung mit dem Ersten Weltkrieg, der zugleich ein Schrittmacher der Reform und ein Motor der Radikalisierung war, wie die Autorin betont. Allerdings mit dem deutsch-französischen Unterschied, dass der französische Staat im und nach dem Krieg eine Republik war und blieb, während das deutsche Kaiserreich im Herbst 1918 revolutionär überwunden wurde. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist Gegenstand des nächsten Kapitels, in dem zunächst die bald gescheiterte Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit in Deutschland und die stecken gebliebene Reformpolitik in Frankreich beleuchtet werden. Beide Länder durchlebten eine Nachkriegskrise, die von Lohnkonflikten, Hungerunruhen und politischer Gewalt geprägt war. Während in der Weimarer Republik bereits im März 1920 mit dem Kapp-Putsch „das unheilvolle deutsche Wechselspiel von Revolution und Konterrevolution“ (S. 385) einen ersten Höhepunkt erreichte, der mit einem Pyrrhussieg der Gewerkschaften endete, erlitt die Confédération Générale du Travail (CGT) in Frankreich im Mai 1920 eine vernichtenden Streikniederlage, von der sie sich zehn Jahre lang nicht mehr erholen sollte. Anschließend folgten bis zum Ende der Hyperinflation und Währungsstabilisierung „unvergleichbare Zeiten“ (S. 558), die das vierte Kapitel behandelt. In dieser Phase bis 1924 drifteten die Arbeitsbeziehungen, die Lebenshaltung und die Lohnkonflikte in beiden Ländern oft weit auseinander. Der Kampf um den Achtstundentag, den die Gewerkschaften diesseits und jenseits des Rheins auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ging in beiden Ländern verloren. Was blieb, war die gemeinsame gewerkschaftliche Hoffnung auf eine Modernisierung und Rationalisierung der Wirtschaft, die man auch in Arbeitszeitverkürzungen umsetzen wollte.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, denen das fünfte Hauptkapitel gewidmet ist, folgte auf die kurzen „goldenen Jahre“ des Wirtschaftsaufschwungs in Deutschland bereits 1929 der Einbruch der Weltwirtschaftskrise, die Frankreich erst später, dafür aber länger erfasste. Sie entwickelte sich in der Weimarer Republik im rasanten Tempo zu einer Staatskrise, in deren Verlauf soziale Sicherungssysteme ausgehöhlt und abgebaut wurden. In Frankreich wurde hingegen noch 1930 ein Sozialversicherungssystem durchgesetzt, das zwar nur geringe Leistungen garantierte, die weit hinter den von Bismarck in Deutschland begründeten Versorgungssystem zurückblieben, dennoch aber einen deutlichen Fortschritt auf dem Weg zum Ausbau des französischen Sozialstaats markierte. Hinzu kam, und dies betont die Autorin mit guten Gründen, dass die französischen Unternehmer zwar - wie ihre deutschen Kollegen - ebenfalls permanent über die Belastungen des Sozialstaats klagten, aber keinen Frontalangriff auf ihn starteten: Die Großindustriellen in Frankreich rüttelten, dies unterschied sie von den deutschen Unternehmern, 1930 nicht an den Grundfesten der Republik, auch wenn sie diese nicht aktiv verteidigen wollten (S. 838). Diesen feinen, aber wichtigen Unterschied veranschaulicht die Verfasserin mit vielen Fakten sowie mit einer nüchternen Analyse, die sich mit der staatlichen Zwangsschlichtung in Deutschland und der Politisierung der Tarifkonflikte befasst. Den in der Forschung immer wieder erhobene Vorwurf, in Deutschland habe es wegen der staatlichen Schlichtung zu hohe, von der Politik diktierte Löhne gegeben, bezeichnet Frau Weber als eine „Mär“ (S. 755ff.). Weshalb sie zu diesem Urteil kommt, belegt sie mit einer Reihe von mikroökonomischen Daten und Argumenten, die in der auf der Makroebene geführten ‚Borchardt-Kontroverse‘ kaum beachtet wurden.

Das sechste Kapitel konzentriert sich auf die Phase der Agonie der Weimarer Republik, die mit dem Bündnis der konservativen Eliten mit dem Nationalsozialismus und der Demontage von tragenden Säulen der industriellen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit im Frühjahr 1933 endete. Die Preisgabe der Demokratie in Deutschland, die - mit Blick auf die Arbeiterbewegung - oft auch als Selbstpreisgabe bezeichnet worden ist, verfolgte man in Frankreich mit großem Interesse. Die Franzosen hatten das Gefühl, wie Harry Graf Kessler im September 1932 in seinem Tagebuch festhielt, dass sich in ihrer „nächsten Nachbarschaft ein Vulkan aufgetan hätte, dessen Ausbruch jeden Augenblick auch ihre Felder und Städte verwüsten könnte“ (S. 973). Die Zerschlagung der Gewerkschaften war für den Deutschlandexperten des Gewerkschaftsverbands CGT mehr als eine Niederlage: Diese Katastrophe war, wie er schrieb, ein „Zusammensturz“, den der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund mit seiner illusionären Annäherungspolitik an den Nationalsozialismus im Frühjahr 1933 nicht hatte verhindern können (S. 978).

Im abschließenden siebten Hauptkapitel konzentriert sich die Autorin auf die französische Entwicklung in den 1930er Jahren, die im Februar 1934 in einer scharfen Konfrontation zwischen Unternehmern und Gewerkschaften eskalierte. Die in der Forschung viel diskutierte Frage, ob die politische Polarisierung der französischen Gesellschaft nach der antidemokratischen Pariser Februarrevolte von 1934 auch vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung interpretiert werden muss, beantwortet Frau Weber mit dem Diktum: „War die Geschichte des Nationalsozialismus die Geschichte seiner Unterschätzung, so war die Geschichte des Faschismus in Frankreich die Geschichte seiner Überschätzung, die der Lektion, die die nationalsozialistische Schreckensherrschaft in Deutschland erteilt hatte, geschuldet war“ (S. 996). Die Spaltung der französischen Nation, die in der Ära der Volksfrontregierung ihren Höhepunkt erreichte, mündete 1936 im Triumph der sozialen Demokratie in Frankreich, der aber bald schon die Tragödie folgte: Im Juni 1936 erzwang die Regierung von Léon Blum, getragen von einer Streikwelle, einen grundlegenden Wandel der industriellen Beziehungen; seit Herbst 1936 bahnten sich eine Krise und eine wechselseitige Lähmung des politischen Systems an, auf die 1938 die Renaissance einer autoritären Republik folgte. Sie war von sozialpolitischer Immobilität geprägt und konzentrierte sich darauf, die dramatisch anwachsenden Kosten für die Landesverteidigung zu sichern. Mit dem deutschen Einmarsch im Sommer 1940 war dann das Ende der Dritten Republik gekommen.

Der hier notwendigerweise nur knapp zusammengefasste Aufbau der Untersuchung blendet eine Vielzahl von detaillierten Befunden und Beobachtungen aus, die sich in diesem umfangreichen Buch finden. Frau Weber hat die Interdependenzen zwischen Sozialstaat und parlamentarischer Demokratie ebenso in das Blickfeld gerückt wie das Beziehungsgeflecht zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden in beiden Ländern. In Frankreich prägte auch noch in der Zwischenkriegszeit eine sozialpaternalistische Tradition, die in der weit verzweigten Kleinindustrie ihren stärksten Rückhalt hatte, die Arbeitsbeziehungen, während in Deutschland die Großindustrie an Rhein und Ruhr, im Berliner Raum oder in Sachsen den Ton angab. Um die unterschiedlichen Interessen des Unternehmerlagers, das in Frankreich heterogener als in Deutschland war, differenzierter nachzeichnen zu können, und um das Arbeitermilieu und die Gewerkschaftspolitik in verschiedenen Industriesektoren präziser erfassen zu können, weitet die Autorin ihre komparatistische Analyse regional aus und zentriert sie nicht nur auf die großen Metropolen. Die Arbeitskämpfe, in denen sich das Ausmaß der gewerkschaftlichen und unternehmerischen Konfliktbereitschaft widerspiegelte, werden branchenbezogen beleuchtet, wobei auch immer wieder die Mikroebene der Betriebe sichtbar gemacht wird. Schließlich finden sich in der Arbeit wiederholt Beobachtungen zum Arbeiteralltag sowie tabellarische Angaben zu den Lebensverhältnissen, Haushaltsbudgets, Krankheits- und Sterblichkeitsdaten der Beschäftigten, um viele generelle Einschätzungen auch mit Zahlen zu unterfüttern.

Natürlich kann eine Autorin oder ein Autor das Material für eine derart breit und facettenreich angelegte Monografie, in der die Geschichte der industriellen Beziehungen in zwei Nachbarländern für den Zeitraum von rund 20 Jahren rekonstruiert wird, nicht allein erarbeiten. Deshalb stützt sich Frau Weber auf eine Fülle von einschlägigen Studien, die sie sorgfältig und souverän zu Rate gezogen hat. Hinzukommen ihre eigenen Forschungen in französischen und deutschen Archiven, die systematische Auswertung zahlreicher Zeitungen und die Einbeziehung einer großen Fülle von gedruckten Quellen aus den Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden. Dem Leser wird viel Geduld und viel Zeit für die Lektüre dieses voluminösen Werks abgefordert. Aber er wird belohnt mit einer komparatistisch angelegten Gesamtdarstellung der industriellen Beziehungen in der Weimarer Republik und der späten Dritten Republik in Frankreich, die für grenzüberschreitende Forschungsprojekte Maßstäbe setzt und die für die von der Autorin ausgewählten Themenfelder nicht mehr zu übertreffen ist. Ihren einleitend formulierten Satz „Jeder transnationaler Vergleich erfordert ein Opfer an Differenziertheit“ kann man mit Blick auf diesen Befund deshalb nur als eine Captatio benevolentiae bewerten.

Klaus Schönhoven, Reichenberg

Fußnoten:


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