ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniela Münkel, Bemerkungen zu Willy Brandt, vorwärts buch verlagsgesellschaft (mbH), Berlin 2005, 256 S., kart., 24,00 €.

Über Willy Brandt wurde schon sehr viel gesagt. Offensichtlich aber gibt es immer wieder Gelegenheit, etwas mehr über ihn zu sagen. Und vielleicht ist es Teil seines Mythos, seiner nachhaltigen Bedeutung auch für nachfolgende Generationen, dass alles, was über ihn gesagt und geschrieben wird, auch immer wieder gern gelesen wird.

Die Historikerin Daniela Münkel hat einige ihrer Reflexionen über Willy Brandt veröffentlicht. Im Vorwort des Buchs verweist auch sie auf die umfassende Literatur über den prominenten Sozialdemokraten, die aber, so Münkel weiter, trotz allem noch nicht erschöpfend sei. Noch immer gebe es unbeleuchtete Winkel und Nischen im (politischen) Leben Willy Brandts. Diese Einschätzung ist wohl in der Tat richtig, trotz der zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre. So konzentrierten sich zum Beispiel die Forschungen zu Brandts außenpolitischem Wirken auf die Jahre 1966 bis 1974, auf seine Amtszeit als Außenminister der Großen Koalition und Bundeskanzler. Sein politisches Schaffen in den Jahren danach - vor allem auf internationaler Ebene - könnte aber einen intensiveren Blick durchaus vertragen. Zu nennen wären hier Brandts Rolle in der Sozialistischen Internationale, sein entwicklungspolitisches Konzept und seine Perzeption durch Politiker und Bevölkerung in den ‚Dritte Welt‘-Staaten, für die er wohl ein ähnliches Vorbild war wie für Sozialdemokraten in Deutschland oder seinen politischen Ziehsohn, Felipe González, in Spanien. Daniela Münkel widmet sich hingegen anderen Forschungsdesideraten. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle das Kapitel zur sozialdemokratischen Wählerinitiative, das zum Beraterstab Brandts und nicht zuletzt das zur Nachwuchspolitik des Parteivorsitzenden Willy Brandt, der spätestens in den 1980er Jahren die Notwendigkeit eines Generationswechsels sah und motivierte.

Der Begriff der „Enkel“ Brandts als Generationszuschreibung der politischen Alterskohorte um Gerhard Schröder hat sich längst in der publizistischen und auch in der wissenschaftlichen Debatte festgesetzt, doch blieb der Begriff als solcher bisher stets vage und wurde wissenschaftlich auf seine Stichhaltigkeit noch kaum geprüft. Die Frage, warum eigentlich von den ‚Enkeln‘ und nicht von den ‚Söhnen‘ die Rede ist, wurde bisher ebenso wenig beantwortet wie auf wissenschaftlicher Ebene nach den Gründen gesucht wurde, warum die ‚Söhne-Generation‘ in der Sozialdemokratie, nennen wir sie die Generation von Hans-Jochen Vogel (1), niemals zu voller gestalterischer Kraft und Entfaltung ihrer Machtposition gelangen konnte. Und warum wollte Brandt eigentlich die politische Macht an seine Enkel vererben und damit eine mögliche ‚Söhne-Generation‘ um Vogel und Johannes Rau, die sich dann auch entsprechend gegen seine Pläne zur Wehr setzten, umgehen?

Aus zwei Gründen ist es außerordentlich wichtig, dass sich Daniela Münkel nun endlich dieser Frage angenommen hat. Zum einen ist die Forschung zu den politischen Generationen in der Arbeiterbewegung - im Gegensatz zur gesamten bundesdeutschen Generationenforschung - bisher nur bis zur „Generation Schumacher“ gekommen. Diesen Forschungsbereich weiter voranzutreiben, ist ein verdienstvolles Unterfangen, nicht zuletzt, weil die Analyse der spezifischen politischen Ideale der einzelnen Generationen Wesentliches über die Gestalt der SPD offenbart - damals wie heute. (2) Zum anderen hat die gerade stattfindende Suche der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nach sich selbst auch etwas mit Generationen und ihren Zielen sowie mit einem Generationswechsel zu tun. Dementsprechend nimmt Münkel immer wieder Rekurs auf die Ära Schröder und deren politisches Erbe.

Sie schildert, dass Brandt die Juso-Funktionäre der 1970er Jahre, namhafte Personen wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Herta Däubler-Gmelin, schon in den 1980er Jahren um sich gescharrt hatte und ihnen den Weg an die Macht ebnen wollte. Dass Oskar Lafontaine auf dem Norderstedter Treffen 1987 die übertragene Verantwortung ablehnte und sich gegen eine Kandidatur als Parteivorsitzender entschied, ist bekannt, ebenso wie die Entfremdung von Brandt und seinen Enkeln im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1989/90. Münkel schließt sich dem Votum vieler Zeitgenossen an, dass es besonders die Unwilligkeit Lafontaines, Verantwortung zu übernehmen, war, die den Generationswechsel in den 1980er Jahren zum Scheitern brachte. Sie lenkt aber auch den Blick auf die beiden exponierten Repräsentanten der ‚Söhne-Generation‘, Vogel und Rau, und gibt zu bedenken, dass diese beiden mit Macht Brandts Ansinnen widerstanden, sie in der Erbfolge zu übergehen. Die Frage, warum Brandt im Generationswechsel eine Generation überspringen wollte, wird noch zu beantworten sein. Traute er Vogel und Rau nicht genügend Gestaltungskraft und programmatische Deutungshoheit zu? Sah er, dass diese Generation, die bereits in den Kabinetten Brandt und Schmidt Regierungsverantwortung übernehmen musste, nun ihrerseits bereits den politischen Zenit überschritten hatte und nicht mehr in der Lage sein würde, eine eigene Generation zu formieren? In der Tat waren viele mögliche Protagonisten dieser ‚Generation Vogel' bereits von 1969 bis 1982 in wichtigen Regierungsämtern eingebunden gewesen, zu nennen sind die Justizminister Gerhard Jahn und Vogel selbst sowie Egon Bahr, Horst Ehmke und viele andere. Da Generationswechsel in Machtzusammenhängen oft schwimmend sind, ist eine solche Konstellation nicht zwingend problematisch. Die Schwierigkeit bestand wohl eher darin, dass diese Generation von den politischen Zielen der sozial-liberalen Koalition so eingenommen war und diese eben auch in Regierungsverantwortung mit vertreten hatte, dass ihnen - in Abgrenzung zu den politischen ‚Vätern‘ Brandt, Schmidt und Wehner - die Formulierung eigener politischer Inhalte schwer gefallen wäre. Brandt, der Visionär, war wohl weitsichtig genug, um zu sehen, dass die nötigen Antworten auf die Fragen der Zukunft von einer anderen Generation formuliert werden müssten.

Die Sozialdemokratie hat zu Beginn der 1970er Jahre zahlreiche wichtige Debatten in der Gesellschaft angestoßen. Die Reformen des Abtreibungsparagrafen und des Eherechts hatten das Verhältnis der Geschlechter zueinander verändern und das Selbstbestimmungsrecht der Frau politisch befördern wollen. Die sozial-liberale Koalition scheiterte in diesen Fragen aber an der eigenen Progressivität und an einer bundesdeutschen Gesellschaft, die keine einheitlichen Antworten formulieren konnte. Im Gegenteil: Die politisch-gesellschaftlichen Akteure standen sich in der Debatte teilweise konträr gegenüber. Die Reformen konnten nur halbherzig und unter großen politischen Kosten vollzogen werden. Es ist bekannt, dass es der Sozialdemokratie nicht gelang, die neuen ‚Ismen‘ wie den Feminismus, den Globalismus oder den Ökologismus als Zeitgeistströmungen in die Partei zu transportieren und eine eigene politische Sprache dafür zu entwickeln. Die ‚Enkel' aber waren nun maßgeblich durch die 68er-Bewegung und die politischen und gesellschaftlichen Kontroversen jener Zeit geprägt und als homogene politische Gruppe konstituiert worden, wie Münkel ausführt. Aber wäre die Zeit für sie 1987 schon reif gewesen, nur fünf Jahre nach der von Helmut Kohl propagierten „geistig-moralischen Wende“? Wo wären die Partner gewesen? Die ‚Enkel‘ haben vielleicht einen gesunden Instinkt bewiesen, als sie abwarteten und sich zu Beginn der 1990er Jahre langsam aber sicher zu sammeln begannen. Das Projekt Rot-Grün muss noch vor dem Hintergrund dieser Gesichtspunkte näher betrachtet werden, als eine Art Sammlungsbewegung der politischen 68er-Jahre, die mit neuem Reformeifer, getragen von neuer gesellschaftlicher Aufbruchsstimmung, ins Amt gelangte.

Brandt mag das alles gesehen und aus diesem Grund an den ‚Söhnen‘ vorbei den Generationswechsel forciert haben. Vielleicht waren ihm diese nicht rebellisch, nicht zukunftsweisend genug. All dies sind spannende Fragen, die dank des Buchs von Daniela Münkel angestoßen sind und hoffentlich bald weitere Aufmerksamkeit in der Forschung finden werden.

Die politische und zeitgenössische Betrachtung hat die ‚Enkel‘ um Gerhard Schröder oft als eitle Karrieristen charakterisiert, denen es weniger um die SPD als um ihre eigene Macht bestellt war. Diese Einschätzung wird von der Forschung in den kommenden Jahren noch genauer betrachtet werden müssen. Bedauerlicherweise schließt sich die Münkel diesem Urteil an, eben ohne es zu hinterfragen, und verschenkt damit die Möglichkeit, nach den übergeordneten Zielen der ‚Generation Schröder‘ zu fragen.

Daniela Münkel hat ein eingängiges Buch geschrieben, jedoch eines mit einem populärwissenschaftlichen Anspruch. Sie benutzt nicht zu viele Wörter, die transportierten Inhalte sind gut in einzelne Kapitel portioniert und regen zum Weiterdenken an. Manche Themen des Buchs, etwa das Engagement von Intellektuellen für die SPD, sind nicht erschöpfend behandelt worden, sondern vielmehr als erste Anstöße zu verstehen. Daher sind diese „Bemerkungen zu Willy Brandt“ sicherlich nicht die letzten Wörter, die über die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt gesagt worden sind.

Sonja Profittlich, Bonn

Fußnoten:


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