ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hilary Earl, The Nuremberg SS-Einsatzgruppen Trial, 1945-1958. Atrocity, Law, and History, Cambridge University Press, Cambridge/New York 2009, XV + 336 S., geb., 85,00 $.

Mit ihrer Studie über Entstehung, Verlauf und Nachwirkungen des Nürnberger Prozesses gegen 24 Offiziere der SS-Einsatzgruppen betritt die kanadische Historikerin Hilary Earl Neuland. Dieser Prozess war der einzige der zwölf von den USA durchgeführten Nachfolgeprozesse, bei dem es ausschließlich um die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ ging (S. 179, 253). Zum ersten Mal wird der „größte Mordprozess der Geschichte“ (S. 49, 79, 95, 296) eingehend untersucht. In den ersten beiden von sechs Hauptkapiteln verfolgt Earl die Entstehung der Nürnberger Nachfolgeprozesse im Allgemeinen (S. 19-45) und des Einsatzgruppen-Prozesses im Besonderen (S. 46-95). Den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof hält Earl nicht für den letzten großen Akt der alliierten Zusammenarbeit, sondern für das erste Schlachtfeld des Kalten Kriegs (S. 24). Vor diesem Hintergrund beschlossen die USA kurzfristig, Nachfolgeprozesse in ihrer Besatzungszone selbstständig vorzubereiten und durchzuführen (S. 26, 35-39). Dabei ging es nicht darum, Nationalsozialisten, die vielleicht oder vielleicht nicht Verbrechen begangen hatten, vor Gericht zu stellen, sondern mutmaßliche Verbrecher, die vielleicht oder vielleicht nicht gleichzeitig Nazis waren (S. 41, 48).

Der Hauptangeklagte im Einsatzgruppen-Prozess war der ehemalige Chef der „Einsatzgruppe D“ Otto Ohlendorf, der schon als Zeuge der Anklage im Hauptkriegsverbrecherprozess seine Verantwortung für die Ermordung von ungefähr 90.000 Menschen, überwiegend Juden, in der südlichen Sowjetunion zugegeben hatte. Während seiner Kriegsgefangenschaft wurde Ohlendorf mindestens 42 Mal verhört und seine Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Vernehmungsbeamten war für die Entwicklung des Strafverfahrens gegen Mitglieder der Einsatzgruppen entscheidend (S. 54). Eindrucksvoll untersucht Earl im dritten Kapitel die Angeklagten anhand von Alter, geografischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, Bildungsgrad, beruflichem Werdegang und Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen Organisationen der Partei (S. 96-134). Es entsteht ein Bild von großer Homogenität. Ohne Ausnahme haben während der Gerichtsverhandlungen alle Angeklagten betont, dass der Erste Weltkrieg samt Niederlage und unmittelbaren Nachwirkungen eine große Auswirkung auf ihr Leben gehabt hätte, obwohl die große Mehrheit zu jung war, den Krieg aus erster Hand zu erleben (S. 105f., 112, 134). Die angeklagten Einsatzgruppenoffiziere stellten eine „hochgebildete Elitengruppe“ dar. Sie waren „außergewöhnlich“ und „die Elite ihrer Generation“. Als solche hätten sie laut Earl wegen ihres Bildungsgrads in jeder Gesellschaft wichtige Stellen innegehabt (S. 120, 134), was aber nicht heißt, dass sie unbedingt zu Verbrechern geworden wären.

Im vierten und fünften Kapitel werden einerseits die verschiedenen Verteidigungsstrategien (S. 135-178) und andererseits der Verlauf des Prozesses selbst untersucht (S. 179-216). Beim Letzteren wird der Kontroverse um den Zeitpunkt und Inhalt des sogenannten ,Führerbefehls' zum unterschiedslosen Mord an den sowjetischen Juden besondere Aufmerksamkeit geschenkt (S. 182-210). Earl vertritt die Auffassung, dass man die Aussage Ohlendorfs, er habe schon vor dem Einmarsch in die Sowjetunion den Befehl zum unterschiedslosen Mord an den sowjetischen Juden erhalten, nicht unbedingt als meineidiger Versuch verstehen soll, eine Handlung unter Befehlsnotstand nachzuweisen und somit seine individuelle Schuld zu widerlegen. Nach Earl hatte Ohlendorf in diesem Punkt keinen Anlass zu lügen, weil er diese Aussage schon bei dem Verhör unmittelbar nach seiner Festnahme gemacht hatte, als er noch nicht hätte ahnen können, dass er angeklagt werden würde. Allerdings kann diese Argumentation nicht allein genügen, um nachzuweisen, dass Ohlendorf in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Schließlich hat er als Verantwortlicher für die Ermordung von circa 90.000 Menschen nicht ausschließen können, dass die Alliierten beziehungsweise die US-Amerikaner auch ihn anklagen würden.

Im sechsten Kapitel zur Person des vorsitzenden Richters und zum Gerichtsurteil (S. 217-264) liefert die Autorin eine lebendige Darstellung des Richters Michael Musmanno. Von den 22 verurteilten Einsatzgruppenoffizieren (Otto Rasch schied wegen Krankheit aus dem Verfahren aus, während Emil Haussmann sich dem Prozess durch Selbstmord entzog) wurden am 10. April 1949 14 zum Tode verurteilt. Diese Zahl war zwei höher als beim Hauptkriegsverbrecherprozess und insgesamt höher als bei jedem anderen Nachfolgeprozess (S. 264), wodurch sie den ungeheuerlichen Charakter der Verbrechen bezeugte. Allerdings war Musmanno wegen der Möglichkeit eines Fehlurteils schon immer ein Gegner des Todesurteils gewesen (S. 233f., 253, 262ff.). Deshalb bestand der Gerichtshof im Einsatzgruppen-Prozess auf ein öffentliches Eingeständnis von Schuld. Kein Angeklagter, dessen Verteidigungsstrategie es gewesen war, alles zu bestreiten, wurde zum Tode verurteilt (S. 141, 263).

Das Nachspiel zum Einsatzgruppen-Prozess ist Gegenstand des letzten Kapitels (S. 265-295). Sobald der Prozess geendet hatte, wurden Berufungen eingelegt und zahlreiche Beschwerden seitens deutscher Nationalisten eingereicht. Besonders aktiv und effektiv in ihrer Unterstützung von nationalsozialistischen Kriegsverbrechern waren hochrangige Kleriker, sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche. Ohne die Bemühungen dieser Geistlichen wäre es wahrscheinlich nicht zu einem Wiederaufnahmeverfahren und einer Strafmilderung im Fall der Einsatzgruppenoffiziere gekommen (S. 270). Unter erheblichem politischem Druck setzte der US-amerikanische Hochkommissar in Deutschland, John J. McCloy, die Urteile drastisch herab. Am 31. Januar 1951 wurden neun der 13 Todesurteile (Eduard Strauch war inzwischen nach Belgien ausgeliefert und auch dort zum Tode verurteilt worden) auf Haftstrafen reduziert (S. 285ff.). Diese Minderung der Strafen erfolgte, obwohl die Kommission, die McCloy einige Monate zuvor Empfehlungen vorgelegt hatte, feststellte, dass die Mehrheit der Verurteilten immer noch der Meinung war, dass sie in ihrer Eigenschaft als Einsatzgruppenoffiziere richtig gehandelt hätten (S. 283). Der Hauptankläger in Nürnberg, Telford Taylor, hielt die Entscheidungen McCloys für den „Inbegriff der politischen Zweckmäßigkeit“ (S. 286). Letztendlich wurden nur Paul Blobel, Werner Braune, Erich Naumann und Otto Ohlendorf tatsächlich am 7. Juni 1951 (S. 292) hingerichtet. Schon am 9. Mai 1958 wurden die letzten Verurteilten des Einsatzgruppen-Prozesses aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg am Lech entlassen (S. 295). In ihrer abschließenden Beurteilung des Prozesses merkt Earl an, dass, obwohl es für die Misshandlung der Angeklagten keine Anhaltspunkte gibt und der Prozess im Großen und Ganzen als „fair“ betrachtet werden kann, die frühzeitige Entlassung dieser Massenmörder in erster Linie für die US-amerikanischen politischen Entscheidungsträger „die schlimmste Schande“ ist (S. 299, auch 83-88, 273).

Die Primärbedeutung des Einsatzgruppen-Prozesses besteht darin, die Abläufe des „schlimmsten Völkermords des 20. Jahrhunderts“ offen gelegt zu haben (S. 302). Die vorliegende Studie ist eine gründlich erforschte, flüssig erzählte und sehr wichtige Analyse dieses Prozesses.

Alex J. Kay, Frankfurt am Main/Berlin


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