ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, begründet von Peter Rassow und Karl Erich Born, hrsg. von Hansjoachim Henning und Florian Tennstedt, II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890), Bd. 4: Arbeiterrecht, bearb. von Wilfried Rudloff unter Mitarbeit von Jens Flemming, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, LIV + 630 S., geb., 99,90 €.

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, begründet von Peter Rassow und Karl Erich Born, hrsg. von Hansjoachim Henning und Florian Tennstedt, II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890), Bd. 6: Die gesetzliche Invaliditäts- und Altersversicherung und die Alternativen auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Grundlage, bearb. von Ulrike Haerendel unter Mitarbeit von Margit Peterle, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, L + 910 S., geb., 126,00 €.

Mit bewundernswerter Beharrlichkeit schreitet das Unternehmen der Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik voran. Die Leistung der Bearbeiter der hier zu besprechenden Bände ist beeindruckend; die Bände bieten nicht nur eingehend kommentierte und sorgfältig eingeordnete Quellen, sie sind auch aufgrund des vorzüglichen Orts-, Personen-, Firmen- und Sachregisters zugleich Nachschlagewerk zum jeweiligen Sammelgebiet. Wer in das Thema einsteigen möchte, findet in den Einleitungen eine konzise Zusammenfassung und über die Anmerkungen Zugang zu einer reichen Literatur. Allerdings verzahnen sich mit dem Fortschreiten der Edition die Bände immer stärker miteinander; Verweisungen werden häufiger und sind unvermeidlich, will man nicht Quellen mehrfach abdrucken. Das schränkt den Gebrauchswert jedes einzelnen Bandes etwas ein.

Mit dem Erscheinen der hier anzuzeigenden Bände ist die Zeit der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung jetzt fast vollständig dokumentiert. Im Mittelpunkt von Band 6 stehen Entscheidungen über die Finanzierung und Organisation der Altersversicherung, mit denen wir bis heute leben und die auch die tiefsten politischen Einschnitte überdauert haben. Die Frage, wie das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, von 1889 zustande kam, ist schon deshalb mehr als berechtigt; manche Debatten der 1880er Jahre besitzen eine bedrückende Aktualität. Die grundsätzliche Entscheidung, eine gesetzliche Altersversorgung zu schaffen, war allerdings 1881 bereits gefallen; die kaiserliche Sozialbotschaft ist Ausgangs- und Referenzpunkt aller Debatten. Spannend bleibt der Prozess, an dessen Ende ein Gesetz stand, das in vielen Punkten Bismarcks Absichten zuwiderlief.

Obwohl Politiker und Ministerialbeamte den „Gedankenbann“ (Nr. 44, S. 207) beklagten, den Bismarcks politischer Wille über die Diskussion gelegt hat, entwickelten diejenigen, die das Gesetz ausarbeiteten, viel Selbstständigkeit und Kreativität. Doch während die Auseinandersetzung in diesem kleinen, überschaubaren Personenkreis gut dokumentiert ist, bleibt die gesellschaftliche Debatte zur Versorgung alter und invalider Arbeiter blass, anders als in Band 6 der I. Abteilung der Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik. Das dort dargestellte Kassenwesen der 1870er Jahre ließ noch viele Alternativen zu, auch betriebliche und freie, von Arbeitern organisierte Kassen. Die Diskussion um das Für und Wider staatlicher Intervention war entsprechend lebhaft. Ab 1881 ist das nicht mehr der Fall, und der von Ulrike Haerendel gewählte Untertitel „die Alternativen auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Grundlage“ insofern irreführend. Nicht nur hatte sich durch die kaiserliche Sozialbotschaft die Debatte verengt, auch waren die ‚Alternativen‘, nämlich betriebliche Alterskassen in Gestalt der Knappschaftskassen der Bergleute und das Experiment der Invalidenkasse der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine gründlich diskreditiert. Die Unfähigkeit beider, der betrieblichen wie der freien Kasse, die Renten der Beitragszahler zu sichern, gab vielmehr der Arbeit an einer gesetzlichen Versicherung Antrieb und ständig Nahrung. Der ausführlich dargestellte Rechtsstreit um die Kürzung von Invalidengeldern durch die Knappschaftskassen fügt der im sechsten Band der I. Abteilung wiedergegebenen Kritik an den Knappschaften wenig Neues hinzu. Interessant ist aber, wie viele invalide Bergleute die Knappschaften verklagten, weil sich darin der Rechtsanspruch und das Rechtsempfinden der Bergleute spiegelten. Selbst für den Saarindustriellen Stumm waren 1887 die Knappschaften kein Vorbild eines zukünftigen Altersversicherungssystems mehr; die Großindustrie vertrat nicht länger die Idee einer betrieblichen Altersversorgung, wie die Diskussionen im Zentralverband Deutscher Industrieller belegen.

Auch in den Vorgängen um die Invalidenkasse der Gewerkvereine ging es schon längst nicht mehr darum, diese als Modell für eine freie, von den Arbeitern selbst verwaltete Alterskasse zu präsentieren, sondern nur noch darum, den Abwärtstrend zu stoppen, der bereits im Vorgängerband dokumentiert wurde. Die abgedruckten Protokolle zeigen im Übrigen, wie sehr die Gewerkvereine in dieser Frage von den Positionen ihres Versicherungsmathematikers sowie ihres Gründers und Verbandanwalts, Max Hirsch, dominiert wurden. Deren Rat folgend handelte die Invalidenkasse „wie eine kapitalistische Versicherungsgesellschaft“ (Abt. I, Bd. 6, S. XXVI).

Aus Mangel an Alternativen schlief die große politische Diskussion um Staatshilfe und Selbsthilfe, Staatssozialismus und freie Wohltätigkeit ein und flammte nur zum Schluss des Gesetzgebungsprozesses noch einmal auf, als der Zentrumspolitiker Georg von Hertling vergeblich versuchte, seine Fraktion zur geschlossenen Ablehnung des Gesetzentwurfs zu führen. Das gespaltene Abstimmungsverhalten der Zentrumsfraktion zeigt, dass der Reichszuschuss auch aus Sicht des Sozialkatholizismus kein Sündenfall mehr war.

Von politisch-ideologischen Fragen getrennt wurde die Debatte um die Altersversorgung nach 1881 zunehmend technischer und pragmatischer. In den hier versammelten Quellen dreht sie sich fast ausschließlich um Probleme der Organisation und Finanzierung. Haerendel kann aber zeigen, wie in der Beratung der Details dann plötzlich fundamentale Fragen der sozialen Gerechtigkeit wieder auftauchen. Hoch aktuell ist die Debatte um die Definition des Begriffs der „dauernden Erwerbsunfähigkeit“, die im Bundesrat abgewürgt wurde, obwohl der badische Gesandte Marschall von Bieberstein vermerkte, es komme hier „nicht nur die körperliche und geistige Fähigkeit des Betreffenden, sondern auch die Arbeitsgelegenheit in Betracht“ (Nr. 86, S. 450). In der Reichstagskommission schlug der nationalliberale Abgeordnete Struckmann dann vor, „dass der Arbeiter als invalid gilt, wenn er an seinem Wohnort keine Arbeit findet, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht“ (Nr. 100, S. 567). Die Petitionen, die die Abgeordneten erhielten, machten ihnen deutlich, dass die Invalidenrente und nicht die Altersrente mit 70 Jahren für die Arbeiter von existenzieller Bedeutung war. Damit rückte der Maßstab der Invalidität plötzlich in den Mittelpunkt der Diskussion, denn laut Gesetzentwurf galt derjenige als invalide, der nicht mehr imstande war, die Minimalrente zu erwerben, also einen Betrag, der immer nur als Zuschuss zum Lebensunterhalt gedacht war, nie aber als ausreichend zur Deckung des Lebensunterhaltes betrachtet wurde. Den Antrag der deutschkonservativen Abgeordneten, als erwerbsunfähig denjenigen zu betrachten, der nicht imstande sei, „den für sich und seine nicht erwerbsfähigen Familienmitglieder notwendigen Unterhalt zu erwerben“, konterte der freisinnige Abgeordnete Schrader mit dem auch heute noch gültigem Einwand: „Es stehe zu befürchten, daß in diesem Fall die Unterstützung als ein Beitrag zu dem Arbeitslohn betrachtet werde und das von den Arbeitgebern mißbräuchlich angewendet würde.“(Nr. 100, S. 567). Vor den Kosten des eigentlich als gerecht und notwendig Empfundenen schreckte der Reichstag zurück.

Die soziale Notlagen alter und invalider Arbeiter und die Unzulänglichkeit der kommunalen Armenpflege spielten im Gesetzgebungsprozess kaum eine Rolle. Wie Haerendel zu Recht betont, wurde wenig Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt, adäquate Lösungen zu finden (S. XXIII). Die Altersversicherung war ein politisches Projekt der Regierung, nicht aber die Antwort auf ein Problem, das nach einer Lösung geschrieen hätte. Nicht die realen Bedürfnisse alter Arbeiter, sondern die erhoffte politische Wirkung des Gesetzes stand im Vordergrund: die konservative, staatstreue Gesinnung kleiner Rentner und aller, die eine solche Rente erwarten. Das erklärt unter anderem, weshalb sich die Sozialreformer in dieser Debatte kaum zu Wort meldeten. Die Entscheidung der Bearbeiterin, nur ungedruckte Quellen wiederzugeben, lässt allerdings die Kritik am Gesetzentwurf der Regierung noch blasser erscheinen, als sie tatsächlich war. Viel interessanter als der Brief Richard Roesickes an Lujo Brentano, die einzige Quelle aus dem Kreis der liberalen Sozialreformer, die aufgenommen wurde, wäre die Druckschrift Brentanos gewesen, auf die sich Roesicke bezieht. Der Brief selbst ist auch deshalb nicht sehr aufschlussreich, weil die extrem knappe biografische Notiz nicht darüber informiert, welche Rolle Roesicke in der sozialreformatorischen Bewegung und der freisinnigen Politik spielte. Auch die biografische Notiz zu Albert Schäffle genügt nicht, um die durchschlagende Wirkung seiner Kritik zu erklären, die dazu führte, dass die Regierung die geplante Einheitsrente fallen ließ und stattdessen gestaffelte Beiträge und Leistungen vorschlug. Hier wird vorausgesetzt, dass der Leser mit Schäffles Rolle als ‚Berater‘ Bismarcks vertraut ist.

Insgesamt sind die Kritiker des Gesetzentwurfs nur schwach repräsentiert, mit einigen Auszügen aus der Tagespresse und zwei Berichten über Versammlungen sozialdemokratischer Arbeiter, die gegen den Entwurf protestierten. Ihre schärfste Kritik gilt den extrem niedrigen Mindestrenten und der hohen Altersgrenze von 70 Jahren - als „Renten für Tote“ wird die französische Arbeiterbewegung ähnliche Gesetzesprojekte später verdammen. Die geplanten Quittungsbücher erschienen den Sozialdemokraten als Neuauflage der verhassten Arbeitsbücher. Die Haltung der Wirtschaft wird durch die Beratungen des Volkswirtschaftsrats dokumentiert, der allerdings ein staatlich kontrolliertes Gremium war, das über wenig konkreten Einfluss verfügte, sowie durch Stellungnahmen des Verbands der Berufsgenossenschaften und des Zentralverbands Deutscher Industrieller. Die eine oder andere Eingabe einer Handelskammer hätte vielleicht das Bild ergänzen können, so dass nicht nur die Meinungsbildung auf Reichsebene dokumentiert worden wäre. Leider begründet die Bearbeiterin, die durch ihre Veröffentlichungen und die jahrelange Arbeit an der Quellensammlung mit der Materie bestens vertraut ist, ihre Quellenauswahl nur ganz knapp. Relativ ausführlich werden die technischen Vorarbeiten und Rechenmodelle dargestellt, die den Einfluss der Versicherungsmathematiker zeigen. Für den Kampf um die Position des Experten sind diese Quellen hochinteressant; im Allgemeinen werden aber wenige Leser diese Berechnungen nachvollziehen wollen.

Der Schwerpunkt des Bands liegt auf der Quellenüberlieferung der zuständigen Reichsorgane. Im Reichsamt des Innern fiel sehr früh schon die Entscheidung, statt einer steuerfinanzierten Altersversorgung, wie von Bismarck geplant, eine beitragsfinanzierte Versicherung vorzubereiten. Wie Theodor Lohmann seinem Vorgesetzten schon 1883 zwingend nachwies, muss die Versicherung die unstetige Erwerbsbiografie der Arbeiter berücksichtigen, die „bald in einer Fabrik, bald im Handwerk, in der Hausindustrie oder in der Landwirtschaft beschäftigt sind“, die „jährlich, vierteljährlich, monatlich, ja wöchentlich ihr Arbeitsverhältnis wechseln“ (Nr. 17, S. 64 und 66), und könne deshalb nicht an die Zugehörigkeit zu einer Berufsgenossenschaft gebunden werden. Lohmann, der ein entschiedener Gegner einer gesetzlichen Altersversicherung war, entwickelte so die Prinzipien, nach denen ein solches Gesetz überhaupt funktionieren kann. Er entwarf das System von Quittungsbüchern und Marken, das dem Arbeiter die Anwartschaft auf seine Rente erhielt, auch wenn er die versicherungspflichtige Beschäftigung und damit die Beitragszahlung unterbrochen hatte. Statt einer Organisation auf Grundlage der Berufsgenossenschaften setzten die Mittelstaaten im Bundesrat den Aufbau der Versicherung auf territorialer Grundlage durch, wobei die Versicherungsanstalten Sache der Länder sind. Diese Entscheidung stieß auf umso weniger Widerstand, als die Berufsgenossenschaften längst als ungeeignet, zum Teil auch unwillig, erkannt worden waren, neue Aufgaben zu übernehmen. Das ursprüngliche politische Projekt, in dem die Berufsgenossenschaften als „Keimzellen einer ständisch-organischen Volksvertretung“ (S. XXXVII) fungierten, hatten seine Befürworter zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben. Auch in dieser Hinsicht kann man von einer Entideologisierung der Debatte sprechen.

Statt einer Einheitsrente wurden im Bundesrat, auf Vorschlag des Reichsamts des Innern, Ortsklassen beschlossen. Der neue Entwurf nahm die Kritik Schäffles auf, gleiche Renten und Beiträge würden in Niedriglohngegenden „sozialpolitisch ungünstig“ wirken (Nr. 83, S. 441), brachte also das Lohnabstandsgebot ins Spiel. Lohnklassen wurden im Bundesrat als technisch zu schwierig abgelehnt, in der Reichstagskommission dann aber auf Antrag der Nationalliberalen angenommen. Leider ist ausgerechnet das Protokoll dieser Sitzung der Reichtagskommission nicht abgedruckt; es wäre interessant gewesen, zu verfolgen, mit welcher Idee von Gerechtigkeit hier argumentiert wurde, und wie dieser erste Ansatz zur Sicherung des Lebensstandards im Alter begründet wurde.

Statt des vorgeschlagenen Kapitaldeckungsverfahrens wurde, vor allem in Unternehmerkreisen, ein Umlageverfahren diskutiert; als Kompromiss wurde schließlich Kapitaldeckung für eine bestimmte Beitragsperiode vereinbart.

Den besten Überblick über alle Änderungen im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses, mit den jeweils ausschlaggebenden Argumenten, bietet der Bericht Bismarcks an Kaiser Wilhelm II. (Nr. 147) vom Juni 1889. Im Detail kann der Leser alle Entscheidungen über die aufwändigen und umfangreichen Synopsen verfolgen (Nr. 68 und 89), die die Bearbeiterin für die Beratungen im Bundesrat und in der Reichstagskommission angefertigt hat. Haerendel hat sich vor allem bemüht, den Anteil einzelner Personen an diesen Entscheidungen herauszuarbeiten, die bisher nicht im Fokus der Forschung standen, zum Beispiel die Rolle des bayrischen stellvertretenden Bundesratsbevollmächtigten Robert Landmann, der den Antrag zur territorialen Organisation der Versicherung im Bundesrat durchbrachte. Sie hat dazu sogar seinen privaten Briefwechsel herangezogen, verweist den Leser aber für die Biografie Landmanns auf dessen Personalakte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, obwohl der Sinn einer Quellensammlung ja eigentlich auch darin liegt, Nicht-Spezialisten den Weg ins Archiv zu ersparen. Zu Recht hat Haerendel zudem die Rolle der nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Oechelhäuser und Buhl hervorgehoben, deren Antrag das Quittungsbuch, gegen das die Arbeiterbewegung protestierte, durch Quittungskarten ersetzte. Damit konnte der Arbeitgeber nicht mehr jeden Stellenwechsel des Arbeitnehmers zurückverfolgen, also auch nicht mehr jede Teilnahme an einem Streik. Der Verzicht auf das Quittungsbuch war also eine hochpolitische Entscheidung: Der Reichstag lehnte es ab, die Altersversicherung zur engeren Kontrolle der Arbeitnehmer zu nutzen, und trennte die Sozialversicherung von den repressiven Maßnahmen zur Einschränkung der Koalitionsfreiheit.

Diese Repression gegen die Arbeiterbewegung steht im Mittelpunkt des von Wilfried Rudloff bearbeiteten Bands „Arbeiterrecht“, der so das notwendige Gegenstück zur Dokumentation der Sozialversicherungspolitik der 1880er Jahre bildet. „Arbeiterrecht“ ist ein zeitgenössischer Begriff, der darauf verweist, dass ein umfassendes Arbeitsrecht für alle abhängig Beschäftigten in diesem Zeitraum noch nicht existierte. Stattdessen bestanden separate Rechtsordnungen wie das Gesinderecht fort, das durch die Verpflichtung des Gesindes zur unbegrenzten Dienstleistung gekennzeichnet war. Das Gesinderecht kannte weder den freien Arbeitsvertrag noch die Koalitionsfreiheit, die die zentralen Elemente des hier dokumentierten Arbeiterrechts der gewerblichen Arbeiter waren. Die Bestimmungen der Gewerbeordnung, die zur Arbeiterschutzgesetzgebung gezählt werden und die Freiheit des Arbeitsvertrages einschränkten, sind im dritten Band jeder Abteilung dokumentiert.

Was zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern als Recht gelten soll, war im betrachteten Zeitraum Gegenstand einer breiten politischen Debatte und heftiger sozialer Konflikte. Diese Auseinandersetzung zwischen ganz unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen lief nicht auf ein Gesetz zu, wie die Debatte um die Alters- und Invaliditätsversicherung. Zwar steht am Ende des Bands als Ergebnis langjähriger Diskussionen der Gesetzentwurf, betreffend die Gewerbegerichte, als Grundlage einer einheitlichen Arbeitsgerichtsbarkeit für das ganze Reich. Die Mehrzahl der Quellen dokumentiert jedoch die Anwendung des bestehenden Rechtes.

Ein solcher „gesetzgebungsarmer Band“ (S. XXII), wie ihn die Einleitung halb bedauernd nennt, ist jedoch für die Geschichte des deutschen Arbeitsrechtes typisch: Insbesondere das kollektive Arbeitsrecht ist bis heute kaum durch Gesetze geregelt, sondern einerseits Richterrecht, andererseits die von den Arbeitsmarktparteien selbst geschaffene Rechtsordnung, wie die hier abgedruckten Quellen - Streikreglements, Tarifverträge - eindrucksvoll belegen. Obwohl eine Quellensammlung zur Sozialpolitik notwendigerweise staatslastig sein muss, findet sich hier reiches Material zur Geschichte der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Gleichzeitig macht Rudloff in den Anmerkungen darauf aufmerksam, wie stark die Akteure auf älteres Arbeitsrecht zurückgriffen, das nicht mehr gültig war, aber ihr Rechtsbewusstsein geprägt hat. Beispiele sind der von den Innungen örtlich festgesetzte Mindestlohn, der sogenannte „Polizeilohn“, oder der bis 1865 gesetzlich fixierte Bergmannslohn. Auch die Behörden waren mit der Institution eines „Normaltarifs“ wohlvertraut, so dass Tarifverträge keineswegs als umstürzende Neuerung erschienen. Rudloff geht in der Einleitung auf dieses „lebende Recht“ kaum ein und verspricht so weniger, als er bietet.

Tatsächlich ergibt der Blick auf die „vor- und außergesetzlichen Dimensionen des Gegenstandsfeldes“ (S. XXIII) eine besonders vielseitige und für die Forschung fruchtbare Zusammenstellung von Quellen, die vorzüglich kommentiert und erläutert sind, insbesondere auch die berufsspezifischen Fachbegriffe. Verwaltungspraxis und Rechtsprechung stehen im Vordergrund; die Quellen informieren jedoch nicht nur über die Anwendung der Gesetze durch staatliche Behörden, vor allem Polizeibehörden, und Gerichte, sondern auch über die alltägliche Praxis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die massenhafte Inanspruchnahme der wenigen bestehenden Gewerbegerichte (insbesondere der königlichen Gewerbegerichte in der preußischen Rheinprovinz, dargestellt am Beispiel von Elberfeld) durch Entschädigungsklagen dokumentiert das Rechtsbewusstsein der Arbeiter. Sie beharrten auf der 14-tägigen Kündigungsfrist als ihrem guten Recht, das nicht einseitig vom Arbeitgeber durch Aushang der Arbeitsordnung außer Kraft gesetzt werden könne. Die ‚Nachfrage‘ der Arbeiter (1) prägte die politische Diskussion um die Schaffung einer reichsweiten Arbeitsgerichtsbarkeit. Anders als in der Debatte um die Altersversicherung gab es sozialen Druck und eine breite Beteiligung aller politischen Kräfte, die sich vor allem in lokalen Initiativen niederschlug. Rudloff zeigt, wie die kommunale Sozialpolitik, der noch ein eigener Quellenband gewidmet sein wird, die Reichsgesetzgebung vorbereitet und herausfordert hat, nicht hinter dem in Frankfurt und Leipzig erprobten Wahlrecht zum Gewerbegericht zurückzubleiben. So weit wie die beiden Städte, die selbst Frauen das Wahlrecht gewährten, ging der Gesetzgeber 1890 freilich nicht.

Die 1880er Jahre waren geprägt vom Bemühen aller staatlichen Instanzen, die Koalitionsfreiheit zu beschränken und zu beschneiden. Die bereits existierenden Quelleneditionen zum ‚Sozialistengesetz‘ sinnvoll ergänzend, zeigen die hier abgedruckten Quellen deutlich das Ausmaß der Repression und die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Gerichten. Diese mobilisierten den § 153 der Gewerbeordnung, der ein Sonderstrafrecht für Streikende darstellte, das allgemeine Strafrecht, das einzelstaatliche Vereinsrecht und das ‚Sozialistengesetz‘, nicht zuletzt aber auch die Versicherungsgesetzgebung. Gerichte wurden zudem als Instrument im Kampf gegen die Gewerkschaften eingesetzt, nachdem die Polizei realisiert hatte, dass gewerkschaftliche Kassen insbesondere durch die Zahlung von Reiseunterstützung die Streikfähigkeit stärkten und die von den Gewerkschaften erkämpften Tariflöhne absichern halfen. Die Akten der Polizeibehörden dokumentieren, wie die Gewerkschaften trotz aller Beschränkungen und Verbote versuchten, ihre Streikfähigkeit zu erhalten, die Arbeiter zu organisieren und ein Mindestmaß an Koordination, wenn nicht Zentralisation, zu erreichen. Dieser zähe Kampf zwischen Gewerkschaften und Behörden fand zu einem erheblichen Teil auf dem Rechtsweg statt, denn auch die Repression unterliegt Regeln. Die Klage des Frankfurter Polizeipräsidenten über „schwankende und subtile Gerichtshöfe“ (Nr. 18, S. 53) verweist darauf, dass schlampig begründete Verbote von Fachvereinen in der Berufungsinstanz scheitern konnten. So weigerte sich die Reichskommission, die bei Arbeitskämpfen im Handwerk seit jeher gebräuchlichen Verrufserklärungen als „spezifisches [...] Agitationsmittel der sozialistischen [...] Parteibestrebungen“ anzuerkennen (Nr. 12, S. 37, und Nr. 14). Die ausgewählten Zeitungs- und Zeitschriftenartikel lassen erkennen, wie weit die Koalitionsfreiheit bereits als fester Bestandteil der bestehenden Rechts- und Wirtschaftsordnung anerkannt war. Selbst die Kreuzzeitung verfocht nicht die Vision einer Rückkehr zu patriarchalischen Verhältnissen, sondern die Organisation beider Parteien, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, zu starken Kampfverbänden.

Dennoch eskalierten die Maßnahmen zur Unterdrückung der Fachvereine 1886 in dem Streikerlass des preußischen Innenministers Robert von Puttkamer, veranlasst wohl durch den großen Berliner Maurerstreik 1885, im Mammutprozess gegen die Streikführung und einem totalen Versammlungsverbot für die Berliner Maurer. Das Baugewerbe mit seinen zahlreichen, öffentlich wirksamen und auch in den 1880er Jahren häufig erfolgreichen Streiks wird vom Bearbeiter zu Recht besonders berücksichtigt, zeigen doch die Reaktionen auf den Berliner Maurerstreik, das hier grundsätzliche Auseinandersetzungen um die Arbeiterpolitik des Reichs ausgefochten wurden. In der Kritik an Puttkamers Streikerlass zeichnete sich bereits das Scheitern der Repressionspolitik ab. Besonders aufschlussreich ist ein Artikel im Grenzboten, dessen anonymer Autor der Referent im Polizeipräsidium Georg Zacher ist: ein Beamter, der an dieser Politik zweifelte, machte seine Bedenken öffentlich, weil er mit seinen Zweifeln bei den Vorgesetzen nicht durchdrang.

Der Streik im Bergbau 1889 erscheint als große Herausforderung der Bismarckschen Politik. Anstelle der Sozialversicherungspolitik, die zehn Jahre lang als Antwort der Reichsregierung auf die soziale Frage gegolten hatte, standen plötzlich wieder Fragen des Arbeitsrechtes auf der Tagesordnung: Beteiligung der Arbeiter bei der Aufstellung der bisher einseitig vom Arbeitgeber erlassenen Arbeitsordnungen, betriebliche Vertretung in Arbeiterausschüssen, paritätisch mit Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzte Einigungsämter zur Streikschlichtung. Die Überzeugung, die Sozialpolitik des Reichs stecke in einer Krise, formulierte wie so oft am eindringlichsten und klarsten Theodor Lohmann, dessen Briefe zu den besten Quellen beider Bände gehören: „dass unsere ganze Sozialpolitik nicht zur Versöhnung der Arbeiterklasse und zur Anbahnung einer befriedigenden sozialen Entwicklung führen würde, wenn es uns nicht gelinge, den Arbeitern das Bewusstsein beizubringen, dass die im Prinzip anerkannte Rechtsgleichheit auch für sie praktisch anerkannt werde“ (Nr. 136, S. 538).

Im Unterschied zur Altersversicherung, die von der Schwerindustrie, wie gezeigt, mitgetragen wurde, erregten die Projekte zum Arbeitsrecht schon im Vorfeld heftigen Widerstand von Unternehmern wie Krupp. Selbst die Einrichtung eines Arbeiterausschusses, der nur die Möglichkeit gehabt hätte, zur Arbeitsordnung Stellung zu nehmen, wurde von Krupp schon als Machtfrage begriffen. Die Auseinandersetzung um die Konsequenzen aus dem Bergarbeiterstreik spaltete und lähmte die Reichsregierung, da niemand in der Ministerialbürokratie gegen Bismarcks erklärte Ansichten handeln wollte. Auch wer annimmt, dass zum Bergarbeiterstreik, zu Bismarcks Rücktritt und zum Beginn des „Neuen Kurses“ alles gesagt ist, wird die Dichte und Aussagekraft der hier versammelten Quellen verschiedenster Herkunft zu schätzen wissen. Spannend ist die Lektüre ohnehin.

Sabine Rudischhauser, Brüssel

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 22. April 2010