ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claus-Peter Clasen, Streikgeschichten. Die Augsburger Textilarbeiterstreiks 1868-1934 (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 1: Studien zur Geschichte der bayerischen Schwaben, Bd. 38), Wißner-Verlag, Augsburg 2008, 344 S., geb., 24,80 €.

Bereit seit einigen Jahren sind Monografien zur Streikgeschichtsforschung eher spärlich gesät. Der Bereich der Textilindustrie bildet hier keine Ausnahme, wenngleich der vielzitierte Crimmitschauer Textilarbeiterstreik zum integrativen Bestandteil der Arbeiterhistoriografie gehört und seine 100-jährige Wiederkehr 2003 erneut Anlass für publizistische Würdigung bot. (1)

Umso erfreulicher ist es, dass mit Claus-Peter Clasens Studie nun eine detaillierte Darstellung für eine textilindustrielle Schwerpunktregion vorliegt, die Ursache, Verlauf und Hintergründe der Arbeitsniederlegungen in der Augsburger Textilindustrie über den langen Zeitraum von fast sechs Jahrzehnten betrachtet. Beginnend mit den Anfängen der Streikbewegung in den 1860er Jahren, spannt sich der Bogen bis zum letzten Augsburger Textilarbeiterstreik, welcher unter nationalsozialistischer Herrschaft stattfand. Unabhängig von gesamtgesellschaftlichen, politischen und staatlichen Veränderungen kann Clasen für den gesamten Zeitraum mehrere Grundkonstanten der Arbeitskämpfe nachweisen: Neben dem friedlichen Charakter und der fehlenden politischen Motivation der Streiks gehörten dazu die Beschränkung auf mittlere und große Betriebe sowie die Forderungen nach höheren Löhnen und verbesserten Arbeitsbedingungen.

Clasen stützt seine Untersuchung dabei vorwiegend auf die Auswertung von Presseartikeln und die Durchsicht von Akten des Bezirksamts Augsburg und des Augsburger Magistrats, die zahlreiche Polizeiberichte enthalten und ausführlich über Probleme und Ziele der Streiks informieren, zugleich aber - wie der Autor selbst anmerkt - im Unterschied zu Crimmitschau wenig über die innere Organisation aussagen.

Die inhaltliche Gliederung des Buchs folgt der Chronologie der Streiks, aus welcher der Autor am Ende vier Streikperioden herauskristallisiert: Während die ersten drei Streikwellen zwischen 1869 und 1912 starke Parallelen hinsichtlich der Form des Arbeitskampfs aufweisen, tritt eine deutliche Zäsur mit der Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner der Arbeitgeber und der stärkeren Institutionalisierung des Streikablaufs nach dem Ersten Weltkrieg ein. Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, dass Clasen diese Periodisierung nicht erst im abschließenden Kapitel vorstellt. Einleitend formulierte Forschungsfragen und Zwischenresümees hätten hier sicherlich nicht nur einen Beitrag zur stärkeren Strukturierung der narrativen Geschehenswiedergabe leisten können, sondern von vornherein einen deutlicheren Hinweis auf die Zielsetzung der Untersuchung gegeben.

Mit Blick auf die immerhin etwa 20 Arbeitskämpfe vor 1914 kommt Clasen zu dem insgesamt eher ernüchternden Ergebnis, dass es den Textilarbeitern an Schlagkraft und Organisationsstruktur mangelte, weshalb sämtliche Streiks abgebrochen wurden, ohne sonderlich viel erreicht zu haben. Ein Hauptgrund für die Schwäche der Arbeiterschaft in den Auseinandersetzungen ist nach Auffassung des Verfassers in der organisatorischen Zersplitterung und dem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu suchen: 1912 gehörten erst 16 Prozent der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter einer gewerkschaftlichen Organisation an. Dabei konkurrierte der Deutsche Textilarbeiterverband mit dem Zentralverband Christlicher Textilarbeiter und dem Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein; politisch und religiös motivierte Streitereien schwächten - zum Bedauern der Gewerkschaftsführer - immer wieder die gewerkschaftliche Seite. Hinzu kam, dass seit 1905 die von Fabrikanten gegründeten „Gelben Vereine“ verstärkt an Einfluss gewannen. Eng damit verknüpft sieht Clasen in der Konzentration des Ausstands auf jeweils einen Betrieb einen weiteren Grund für die relative Erfolglosigkeit. Erst als die Gewerkschaften nach dem Ersten Weltkrieg ihre Position offiziell stärken konnten, gelang eine Vernetzung der Streikenden, woraufhin 1922 schließlich 15.000 Augsburger Textilarbeiter gleichzeitig die Arbeit niederlegten.

Auch wenn die frühen Streiks von der Arbeiterschaft selbst ausgingen und häufig lediglich ein einzelner Vorfall das Fass zum Überlaufen brachte, spielten gewerkschaftliche beziehungsweise sozialdemokratische Einflüsse durchaus eine Rolle. So wandten sich die Streikenden nach 1900 sogar regelmäßig an die Gewerkschaften und übertrugen ihnen die Führung des Arbeitskampfs. Nicht eindeutig zu klären sind hingegen die Wechselwirkungen mit Streiks in anderen Industriezweigen. Zumindest für die Jahre 1905/6 und 1912 vermutet Clasen jedoch Zusammenhänge mit allgemeinen Streikwellen.

Für die letzte und quantitativ umfangreichste Streikperiode zwischen 1919 und 1924 gelingt es dem Verfasser, auffällige Wandlungen bezüglich Streikcharakter und organisatorischem Verlauf herauszuarbeiten. Zwar sind die Quellenberichte - mit Ausnahme der Verhörprotokolle von 1920 - im Vergleich zu den Polizeiprotokollen der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg weniger detailliert, dennoch lassen sich Veränderungen erkennen. Der Streikaufruf ging nun von den Gewerkschaften aus, die auch zum alleinigen Verhandlungspartner geworden waren. Die Streiks wurden anonymer und zeitlich kürzer, die Behörden ergriffen nicht mehr Partei, Gerichtsverfahren gegen Streikende waren selten und Entlassungen von Anführern unüblich. Gleichzeitig stieg sowohl die Zahl der Streikenden als auch die der parallel bestreikten Betriebe stark an; ebenso war eine Radikalisierung der Arbeiterschaft bei sinkendem Einfluss der Gewerkschaften zu beobachten.

In den nachfolgenden Jahren 1925 bis 1930 traten Tarifverhandlungen an die Stelle von Streiks. Erst im Zuge des Konjunktureinbruchs nach der Weltwirtschaftskrise führten Lohnkürzungen zum erneuten Ausstand in zwei Betrieben. Trotz des nationalsozialistischen Streikverbots kam es 1934 noch einmal zu einer kurzfristigen Arbeitsniederlegung in einem Betrieb. Wie Clasen zeigt, stellte sich die NS-Presse in diesem Fall auf die Seite der Arbeiterschaft und wies dem ungeschickten Agieren des nationalsozialistischen Betriebsleiters die alleinige Schuld zu; keine Erwähnung findet in der gelenkten Berichterstattung hingegen die durch die nationalsozialistische Autarkiepolitik hervorgerufene Krise der Textilindustrie, welche mit Lohnabbau und Kurzarbeit einherging und für erheblichen Unmut unter den Arbeitern sorgte.

Mit seiner quellennahen Untersuchung der Augsburger Textilarbeiterstreiks leistet Clasen auf der Ebene der Mikrostudie einen wichtigen Beitrag zur lokalen Streikgeschichtsforschung. Bewusst nimmt er dabei die Einseitigkeit des Blickwinkels in Kauf, indem er sich auf eine eng umgrenzte Quellenbasis stützt. Auch verzichtet der Verfasser ausdrücklich auf eine Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Augsburger Textilarbeiterschaft, bezieht aber an einigen Stellen Statistiken zur sozialen Zusammensetzung und Geschlechterverteilung mit ein. Ingesamt nutzt Clasen den langen Untersuchungszeitraum zur komparativen Gesamtschau des Streikgeschehens, wobei er den Wandel der Streikkultur überzeugend herausarbeitet.

Christina Reinsch, Bonn

Fußnoten:


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