ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Schöning/Stefan Seidendorf (Hrsg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 227), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006, 293 S., geb., 35,00 €.

Der hier besprochene Band ging aus einer Tagung hervor, die am 18./19. Februar 2005 am Forschungszentrum für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Universität Kostanz stattgefunden hat. Er enthält neben der Einleitung der Herausgeber zwölf Beiträge, die in thematischer, zeitlicher und disziplinärer Hinsicht verschieden sind, sich jedoch alle die Aufgabe stellen, „Nationalisierung und Europäisierung intellektueller Kommunikationen synchron wie diachron zu analysieren“ (S. 13). Allerdings bleibt unklar, was hier mit „Nationalisierung“ und „Europäisierung“ von Intellektuellendiskurse gemeint ist und mit Hilfe welcher Kriterien sich diese Verlaufsprozesse beurteilen ließen. Es geht im Kern auch gar nicht um „Nationalisierung“ und „Europäisierung“ von Intellektuellendiskursen, denn das hätte verlangt, sich systematisch mit Fragen nach der Entstehung und Transformation von nationalen beziehungsweise europäischen Öffentlichkeiten auseinanderzusetzen, die Funktion der Intellektuellendiskurse für diese Prozesse zu bestimmen und vor allem den Begriff „Verständigung“ zu problematisieren. Statt mit der „Nationalisierung und Europäisierung intellektueller Kommunikation“ beschäftigen sich die meisten Beiträge dieses Bands mit der Frage, wie in analytisch nur unscharf bestimmten ‚Intellektuellendiskursen‘ Ordnungsvorstellungen von „Nation“ und „Europa“ in den wechselnden historischen Kontexten des 19. und 20. Jahrhunderts definiert und zueinander in ein Verhältnis gesetzt worden sind. Damit wandelt der Band insgesamt auf den inzwischen doch recht eingetretenen Pfaden der diskursiven Konstruktion imaginierter Gemeinschaften und thematisiert die zentrale Frage nach der Möglichkeit und Reichweite kommunikativer Verständigung im Spannungsfeld von Nation und Europa allenfalls am Rande.

Die zwölf Beiträge sind in drei thematischen, ähnlich strukturierten Blöcken angeordnet: Mit jeweils vier Aufsätzen werden „Transformationen des Nationalismus“, „Universalismus und Europäismus“ und die „Europäisierung nationaler Vergangenheiten“ erörtert, wobei Letztere von den Herausgebern zu Recht mit einem Fragezeichen versehen worden ist.

Im ersten der thematischen Blöcke untersucht der Politikwissenschaftler Daniele Caramani mit den Methoden der historisch-vergleichenden Wahlforschung die Transformation des politischen Feldes im Zuge der um 1830 einsetzenden Intensivierung des demokratischen Wettbewerbs in Europa. Die sich im Laufe dieser Entwicklung entfaltenden modernen Parteiensysteme hätten maßgeblich zur Nationalisierung und Homogenisierung der zuvor regional konditionierten politischen Konflikte auf einem Links-Rechts-Spektrum beigetragen. Anschließend arbeitet der Literaturwissenschaftler Matthias Schöning aus den Schriften Ernst Jüngers heraus, wie das Konzept der Nation durch den Ersten Weltkrieg in Deutschland problematisch wurde und in welchem Maße der „programmatische Gemeinschaftsradikalismus der zwanziger Jahre“ auf der kriegsbedingten Erfahrung ideologischer und sozialer Desintegration zwischen 1914 und 1918 gründete (S. 63). In seiner Schrift „Der Arbeiter“ habe Jünger das schwindende Inklusionspotenzial der Nation am klarsten diagnostiziert und den Nationalismus in der idiosynkratischen Lehre vom Arbeiter aufgehoben. Im dritten Aufsatz dieses Blocks verortet die Literaturwissenschaftlerin Cornelia Blasberg den George-Kreis im Kontext der europäischen Symbolismusbewegung, deren Credo des „l'art pour l'art“ gleichermaßen antibürgerlich und antinational gewesen sei. Zwar habe George sich in seiner post-symbolischen Phase von dem Projekt einer europäischen Poesie verabschiedet, doch habe die Tradition des George-Kreises den westdeutschen Literaten nach 1945 Anknüpfungspunkte für den Wiederanschluss an die symbolische Moderne geboten, der nun auch programmatisch transnational gewesen sei. Im letzten Beitrag untersucht der Literatur- und Medienwissenschaftler Heiko Christians die Konsequenzen ästhetischer Konzepte für das Denken über politische und soziale Ordnung in Deutschland. Dabei kontrastiert er Epos und Roman sowie Gemeinschaft und Individualismus. Während die Poetik des Epos an eine Politik der Gemeinschaft anschlussfähig sei, umreiße der Roman in seiner Thematisierung des Verhältnisses von Individuum und moderner Gesellschaft ein politisches Feld des Individualismus.

Der zweite thematische Block „Universalismus und Europäismus“ wird von dem Historiker Peter Hoeres eröffnet, der in seiner Analyse der Auseinandersetzung britischer und deutscher Intellektueller mit dem Ersten Weltkrieg zeigt, dass mit der Thematisierung der Erfahrungen des modernen Kriegs nicht nur nationalistische, sondern auch europäische und universale politische Ordnungsentwürfe in die Debatte um die Zukunft Europas eingespeist wurden. Danach analysiert der Literaturwissenschaftler Ingo Stöckmann Ernst Jüngers im Jahr 1960 erschienene Schrift „Der Weltstaat“ als „Teil eines kosmopolitischen Denkens [...], das die Relation von Europäisierung und Nationalisierung auf einen größeren Term - den Weltstaat - hin überschreitet“ (S. 136). Der Jüngersche Entwurf des Weltstaates gründe, so Stöckmann, in der Zeitdiagnostik der Posthistoire, die den entwickelten Industriestaat zu Beginn der 1960er Jahre in einer nachgeschichtlichen Phase angekommen sehe, in der auch der Nationalstaat überwunden sei. Ulrich Bielefeld steuert als Soziologe den dritten Beitrag zu dieser Sektion bei und untersucht die Thematisierung von Schuld und kollektiver Identität in Westdeutschland nach 1945. Ausgehend von der konzeptionellen Überlegung, dass Selbstthematisierung Kollektive produziere, die nur in der Selbstthematisierung selbst erreichbar seien, rekonstruiert Bielefeld die bundesrepublikanische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und stellt mit dem Schuld-, dem Täter- und dem Opferdiskurs drei Möglichkeiten der Thematisierung der Vergangenheit vor, die ihrerseits konstitutiv für die Identitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland seien. Ausgehend von der Bedeutung der Hermeneutik für die interpretative und konstruktive Dimension historischer Selbstvergewisserungsprozesse liest die Philosophin Heike Kämpf anschließend verschiedene Entwürfe europäischer Identität gegen den Fluchtpunkt eines „produktiven Scheitern[s]“, wonach „im Verlust der unbefragten Identität ein mögliches Selbstverständnis entstehen kann, das in der Überschreitung des Gegebenen und Erwarteten in einen dialogischen Prozess der Selbstverständigung führt, der die eigene Grenzziehung befragt und überschreitet“ (S. 177). Insofern gründeten Europadiskurse im Scheitern des Nationalismus und nationaler Ordnungsmodelle; europäische Identität ankere in einem fortlaufenden Dialog, der auf Verständigung ziele, aber diese nicht schon voraussetze. Jeder Versuch, „ein gewissermaßen historisch aufweisbares ‚Schon-Verständigtsein‘ zur Voraussetzung eines Selbstverständigungsprozesses europäischer Identität zu machen [...], scheint zwangsläufig zu scheitern“ (S. 189). Dieser sehr dichte Beitrag zum Problem der Verständigung und ihrer Reichweite aus Sicht der philosophischen Hermeneutik ist sehr lesenswert, reißt aber zugleich Dimensionen des Themas an, die in diesem Sammelband insgesamt viel zu kurz kommen.

Die Beiträge des dritten thematischen Blocks erörtern Probleme der diskursiven Konstruktion einer für das Projekt der europäischen Vereinigung ‚brauchbaren Vergangenheit‘ und betonen - jeder auf seine Art - die Konstruiertheit der Leitkategorien Europa, Kultur und Identität. Der Europawissenschaftler Volker Balli diskutiert drei Begründungszusammenhänge für ein europäisches Gemeinwesen, und zwar eine liberal-demokratische Konzeption politischer Legitimität, eine historisch-hermeneutische Konzeption von politischer Gemeinschaft und eine Rechtfertigung Europas durch ein auf ein imaginiertes europäisches Gemeinwesen hin orientiertes gemeinsames politisches Handeln der europäischen Staaten. Hagen Schulz-Forberg warnt als Historiker in seiner Auseinandersetzung mit Europas post-nationaler Legitimation vor einer Essentialisierung von Kultur und Identität. Der Politik- und Europawissenschaftler Fabrice Larat widmet sich den historischen Narrativen, die den europäischen Einigungsprozess legitimierten, und kommt zu dem Schluss, dass nur eine post-national re-interpretierte Vergangenheit den Integrationsprozess zu rechtfertigen vermochte. Nahtlos daran an schließen sich die Erörterungen des Politikwissenschaftlers Stefan Seidendorf, der die Stationen der Europäisierung der Erinnerung in Frankreich und Deutschland untersucht und dabei zeigt, wie die nationalen Sichtweisen auf die neuere und neueste Geschichte in beiden Ländern in einem phasenverschobenen Prozess nach und nach überwunden wurden, um einer Interpretation der Vergangenheit zu weichen, die die Zeit vor 1945 als das „gemeinsame ‚Andere‘“ (S. 286) identifizierte. Diese Geschichtskonstruktion habe ein politisches Selbstbewusstsein gestützt, das im integrierten Europa seinen Identitätsanker gefunden habe.

Insgesamt enthält der Band eine Vielzahl lesenswerter einzelner Beiträge und schreitet ungeachtet der klaren Konzentration auf Deutschland ein breites Spektrum von Themen und Aspekten ab. Es bleibt freilich unklar, was ihn im Kern zusammenhält.

Volker Depkat, Regensburg


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