Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Thüringer Landtag (Hrsg.), Die Runden Tische der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl als vorparlamentarische Gremien im Prozess der Friedlichen Revolution 1989/1990 (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Bd. 28), Wartburg Verlag, Weimar 2009, 500 S., geb., 19,90 €.
Der vom Thüringer Landtag herausgegebene Band nimmt einen wichtigen Forschungsgegenstand auf, der bisher nur unzureichend bearbeitet wurde, die Runden Tische in der Revolution 1989/90. Bislang sind neben der Dokumentation des Zentralen Runden Tisches in Berlin nur gut zehn Dokumentationen zu den Runden Tischen auf Kreis- und Bezirksebene erschienen. Es ist zu hoffen, dass das Buch auch andere ostdeutsche Bundesländer anregt, solche Projekte zu initiieren und zu fördern. Mit dem Band liegen nun detaillierte historische Darstellungen und Dokumentationen der Runden Tische der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl vor. Aus diesen Bezirken wurde 1990 das Land Thüringen neu gegründet. Insofern sind die Runden Tische dieser Bezirke Teil der Konstitution des Bundeslands.
Die Veröffentlichung ist aber nicht nur von landesgeschichtlicher Bedeutung. Sie veranschaulicht die enorme Energie der demokratischen Selbstorganisation der DDR-Gesellschaft während der Revolution. Abertausende Menschen haben von der Berliner Zentrale bis in die kleinen Kommunen mit hartnäckigem Engagement für die Demokratisierung und die Herauslösung der SED aus staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen gearbeitet. Fast überall spielten die Kirchen eine herausragende Rolle. Neben ihnen hatten die jungen Bürgerbewegungen, etwa das Neue Forum, und die sich gerade formierenden Oppositionsparteien, wie die Sozialdemokraten oder der Demokratische Aufbruch, sowie zahlreiche andere gesellschaftliche Gruppierungen die Hauptlast der Demokratisierung zu tragen. Ihnen wollten bald die ehemaligen von der SED abhängigen Blockparteien, vor allem die CDU und die LDPD, nicht nachstehen.
In welchem Maße die Demokratisierung durch die vielfältige und spontane Bürgerbeteiligung bestimmt war, zeigt auch der Umstand, dass es zwar eine gewisse Vorbildrolle des Zentralen Runden Tisches gegeben hat, aber fast überall eigenständige Wege gegangen wurden, sowohl in den Verfahren, den Geschäftsordnungen als auch in der Themenwahl. Das traf auch auf die drei Thüringer Bezirkstische zu.
Das Thema wird durch einen Grundsatzaufsatz von Francesca Weil eingeführt. Dem folgen Darstellungen über die Verläufe der Runden Tische; wieder Francesca Weil für den Bezirk Erfurt, Heinz Mestrup und Thomas Wenzel für Gera sowie Norbert Mocazarski für den Bezirk Suhl. Andrea Herz stellt in ihrem Beitrag die Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit dar, an der die Runden Tische großen Anteil besaßen. Für den Bezirk Erfurt folgt eine Reihe von Zeitzeugeninterviews. Die zweite Hälfte des Bands dokumentiert die Protokolle der drei Runden Tische.
Die Untersuchungen ergaben, dass bei allen drei Runden Tischen das Bemühen um Konsens eine große Rolle spielte. Den Akteuren war gemeinsam, ein Abgleiten in chaotische und unfriedfertige Zustände zu vermeiden und eine durch Wahlen legitimierte Neuordnung zu schaffen. Immer wieder greifen die Runden Tische ein, um akute Krisen zu meistern. So beschäftigen sie sich etwa mit der Energienot und dem desolaten Gesundheitswesen. Deutlich wird auch der Machtzuwachs der neuen Kräfte. So vermittelt das Buch anschaulich die revolutionären Machtkämpfe. Die kommunistische Partei, seit Dezember 1989 die SED-PDS, hat mit vielen Mitteln versucht, ihre Macht zu erhalten oder ihrer Klientel Ressourcen zu sichern. Die Machtkämpfe begannen schon mit dem Einladungsmodus für die Runden Tische. So hat der Erfurter Propst Heino Falcke eine Einladung des Bezirksrats durch eine mit den Bischöfen beider Kirchen abgestimmten eigenen Einladung unterlaufen. Eine Machtfrage war auch die Zulassung oder Verweigerung der Teilnahme von SED-nahen Massenorganisationen.
Zweifellos konnten sich die demokratischen Kräfte in diesen Machtkämpfen auf die Bevölkerung, auf Demonstrationen und Warnstreiks stützen. Zudem war das Ringen um die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes nur durch die Kooperation mit den sich aus den Bürgerbewegungen gebildeten Bürgerkomitees erfolgreich. Wie schwierig solche Prozesse waren, zeigt besonders der Fall Gera, wo das Ministerium für Staatssicherheit noch lange nahezu intakte Strukturen halten konnte.
Im Buch bieten die Akteure recht unterschiedliche Bewertungen der Arbeit der Runden Tische. Bei aller Würdigung des durch die Runden Tische mitgeprägten Demokratisierungsprozesses wird so deutlich, dass es sich um ein Übergangsphänomen in der Transformation der Diktatur zur Demokratie handelte. So bewahrt das Buch vor einer utopistischen Überhöhung der Runden Tische, wie es zugleich von der Kraft einer Revolution zeugt, in der die Bürger entschlossen waren, auf vielen Wegen Freiheit und Recht zu erkämpfen und sie schließlich durch gefestigte und demokratisch legitimierte Institutionen zu sichern.
Ehrhart Neubert, Erfurt