ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Malte Thießen, Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 19), Dölling und Galitz Verlag, München/Hamburg 2007, 506 S., geb., 30,00 €.

Spätestens nachdem rund zwölf Millionen Zuschauer (1) im März 2006 den zweiteiligen ZDF-Fernsehfilm „Dresden“ gesehen haben, kann von niemandem mehr behauptet werden, das Thema des Luftkriegs gegen deutsche Städte sei ein Tabu, werde beschwiegen oder es könne nicht offen darüber gesprochen werden. Die historische Fachwissenschaft hat sich schon früher, auch schon lange vor dem vermeintlichen Tabubrecher Jörg Friedrich, der Materie angenommen. In der Zwischenzeit diskutieren Historikerinnen und Historiker nicht mehr nur vorrangig Fragen des Ereignisses, der militärischen Vorgeschichte und der sozialhistorischen Folgen der Angriffe, vielmehr ist in jüngster Vergangenheit die Erinnerung an den Luftkrieg, die Art und Weise, wie in Deutschland mit dem Thema umgegangen wurde, wiederholt Gegenstand von Studien, bisher meist in Aufsätzen, gewesen. Die längste Zeit blieb die Erinnerung an den Luftkrieg auf städtische Räume begrenzt, weshalb ein Ansatz ,vor Ort' auch Sinn ergibt.

Malte Thießen hat nun mit seiner Studie über Hamburg die erste umfangreiche Analyse der Luftkriegserinnerung in einer Stadt vorgelegt. Die auf einer breiten Quellenbasis beruhende und sorgfältig argumentierende Arbeit ist die Drucklegung seiner mit dem Karl H. Ditze-Preis ausgezeichneten Dissertation, die an der Universität Hamburg eingereicht wurde, und betritt zwar mittlerweile nicht mehr gänzlich unbekanntes Terrain, ist aber in der Tat die erste fundierte Gedenkgeschichte (S. 11) und, so viel sei vorweggenommen, wegweisend für künftige Studien.

Wie die jeweiligen Luftangriffe in anderen Städten waren die schweren Angriffe auf Hamburg Ende Juli 1943 nicht nur in der Erinnerung der Zeitzeuginnen und -zeugen stets präsent, sondern wurden auch Teil der städtischen Erinnerungskultur. Die ,Operation Gomorrha' war und ist ein bedeutender Fixpunkt im städtischen Gedächtnis Hamburgs (S. 12).

Die Erinnerung an historische Ereignisse ist immer ein Spiegel der Zeit, in der sie stattfindet: Aktuelle Erfordernisse fließen ein und Bedürfnisse der Zukunftsorientierung finden ihren Ausdruck. Thießen interpretiert vor diesem Hintergrund das öffentliche Erinnern als „Aufladen von Vergangenheit mit einem gesellschaftlichen Sinn“ (S. 20). Man kann nach der Lektüre der vorliegenden Arbeit den in der Einleitung formulierten und zunächst überambitioniert erscheinenden Anspruch, die Analyse städtischer Erinnerungskultur sei „nicht nur eine Gedenkgeschichte, sondern auch eine Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte“ (S. 13), nachvollziehen und darf dem Verfasser attestieren, dass genau dies gelungen ist. Thießen betrachtet das Gedenken Hamburgs an die Luftangriffe 1943 und an das Kriegsende 1945 aus sozialhistorischer Perspektive, bettet die jeweils betrachteten Akteure genau in die Sozialgeschichte der Stadt und ihrer Zeit ein und stellt zudem überzeugende, wechselseitige Bezüge her zwischen den festgestellten Ausdrucksformen und -inhalten der Erinnerung, deren Trägern und den zeithistorischen Gegebenheiten vor Ort sowie bundesweit. Insofern ist dem Verfasser mit der Analyse der Gedenkgeschichte tatsächlich „zugleich eine Studie über die gesellschaftliche Entwicklung der Stadt“ (S. 460f.) gelungen.

Thießen interpretiert die Erinnerung an den Luftangriff sowie an das Kriegsende in der Hamburger Tagespresse, bei öffentlichen Veranstaltungen (wie Gedenkfeiern oder Ausstellungseröffnungen) sowie in kirchlichem Rahmen und greift dabei auf unterschiedliche Quellen zurück. Neben der Literatur, über die der Verfasser genaueste Kenntnisse verfügt, standen ihm Archivalien des Staatsarchivs Hamburg, der Senatskanzlei, verschiedener Parteien, der Kirchen und Vereinigungen wie der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) zur Verfügung.

Die Studie beginnt mit der frühesten Erinnerung an den Luftkrieg noch während des NS-Regimes, in dem die öffentlich gelenkte Deutung - nicht zuletzt wegen der überregionalen Bedeutung, die den schweren Schäden in Deutschlands zweitgrößter Stadt zuzumessen ist - auf „Normalisierung, Solidarisierung und Mobilisierung“ der Bevölkerung (S. 86) zielte. Durch die Einbeziehung der Erinnerung vor Kriegsende sensibilisiert die Studie für die Kontinuitäten, aber auch für die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Gedenken im bis zum bitteren Ende vom ,Endsieg' träumenden ,Dritten Reich' und im total besiegten Nachkriegsdeutschland. So wurde das später sehr beliebte Wiederaufbau-Motiv, die Unverzagtheit und der Fleiß, mit dem in den endlos scheinenden Trümmern an den Wiederaufbau gegangen wurde und den man noch lange Zeit rühmen sollte, schon 1943 geboren (S. 41).

Dass den nationalsozialistischen Machthabern wenig an Ursachenforschung für die Trümmerfelder gelegen war, ist selbstverständlich, doch war hiermit auch bereits der Boden bereitet für das spätere Gedenken, in dem man sich gern auf die Zerstörungen besonders von zivilen und kulturell bedeutenden Gebäuden konzentrierte und zuweilen dabei vergaß beziehungsweise nicht nachfragte, wie es dazu kommen konnte (S. 56).

Nach Kriegsende wurde aus der ,Volksgemeinschaft' der Nationalsozialisten eine Gemeinschaft der Ausdauernden, die nicht mehr die Welt erobern wollte, die aber den desolaten Zuständen der Nachkriegszeit trotzte und sich ,unverzagt' an den Wiederaufbau machte (S. 153). Dabei blieb kaum Zeit und man sah auch wenig Anlass für eine selbstkritische Auseinandersetzung, vielmehr orientierte man sich an den aktuellen Erfordernissen (S. 181).

Schon im ersten Nachkriegsjahrzehnt wurde der Wunsch eines eigenen, separaten Gedenkens an die Hamburger Bombenopfer deutlich artikuliert (S. 134), gleichzeitig diversifizierte sich das Erinnern vom frühen antifaschistischen Konsens 1945 zu mehreren Gedenkveranstaltungen und Denkmalen für deutsche beziehungsweise Hamburger Kriegsopfer (S. 173). Mehr und mehr rückte dabei die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt in den Vordergrund und verdrängte für die Hamburger das Kriegsende 1945 als symbolische ,Stunde Null', weil vor dem Hintergrund der Zerstörungen die große, zunächst wertneutrale oder vielmehr positive Wiederaufbautätigkeit betont werden konnte (S. 160).

Die konkurrierende Erinnerung an Kriegsende und Luftkrieg blieb auch in den ,langen 1960er' und den 1970er Jahren, das ist der Untersuchungszeitraum, dem sich Thießen im vierten Kapitel widmet, so sehr bestimmend, dass zum zweiten runden Jahrestag des Kriegsendes 1965 gar nicht in erster Linie an den Tag der bedingungslosen Kapitulation erinnert werden sollte, sondern an die Wiederaufbauleistung der Hamburger vor dem Hintergrund des Juli 1943 (S. 195). Fünf Jahre später hingegen rückte der Hamburger Senat den 8. Mai als „Befreiungstag“ in den Vordergrund öffentlichen Gedenkens (S. 202).

Dies war bereits Ausdruck einer in den 1970er Jahren prägend werdenden „Pädagogisierung“ der Erinnerung. Mit dem Erinnern sollten Lehren für Gegenwart und Zukunft gezogen werden. In diesem Zusammenhang wurde erstmals auch die Erinnerung an die Verfolgungspolitik in Hamburg-Neuengamme hervorgehoben (S. 208). Die Erinnerung an die ,Operation Gomorrha', so stellt der Verfasser fest, rückte etwas in den Hintergrund, doch blieb das Thema Luftkrieg ein „Dauerbrenner“ (S. 214).

In den 1980er Jahren wurde die Hamburger Bombennacht als eine Konsequenz moderner Kriegführung interpretiert und verurteilt. Hier lässt sich die gegenseitige Beeinflussung von Erinnerungspolitik und aktuellen politischen Auseinandersetzungen besonders gut nachweisen. Die Friedensbewegung und die Aufrüstungsdebatten beeinflussten zum einen die Erinnerung, zum anderen wurde gerade die Erinnerung an die ,Operation Gomorrha' auch als friedenspolitisches Signal verwendet (S. 256f.). Die Aktualisierung der Erinnerung an das eigene ,Schicksal' im Zweiten Weltkrieg anlässlich der Bedrohung durch Nuklearwaffen wirkte sich wiederum auf die Interpretation der eigenen Geschichte aus: So barg die Instrumentalisierung der Hamburger Erfahrung auch die Gefahr, dass die Opfer des Jahres 1943 mit den potenziellen Opfern eines zukünftigen atomaren Kriegs gleichgesetzt würden (S. 271). Aus den Toten der alliierten Luftangriffe wurde eine „passive Verfügungsmasse des Kriegsschicksals“, aus den Deutschen wurden in dieser Perspektive unschuldige Opfer, die nicht nur unter Hitler, sondern obendrein noch unter den alliierten Bomben zu leiden hatten (S. 276).

Ein Korrektiv erfuhr diese Sicht durch aktuelle Ereignisse im unmittelbaren Vorfeld der fünfzigsten Wiederkehr der ,Operation Gomorrha'. Die Häufung fremdenfeindlicher Überfälle in Deutschland im Jahr 1993 hatte auch in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Akzentverschiebung zur Folge. Der zuvor in den Hintergrund getretene Zusammenhang zwischen 1933, dem Jahr der ,Machtergreifung', und 1943, dem Jahr der Zerstörung Hamburgs, wurde deutlicher. Die Erinnerung an die Verfolgungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands und dessen regionale und lokale Ausprägung in Hamburg, die bisher eher unabhängig von der Erinnerung an den Luftkrieg an anderen Orten, wie etwa dem ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme, gepflegt wurde, brachte man nun in Zusammenhang mit dem Gedenken an andere Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Eine Lehre aus der ,Operation Gomorrha' war nun auch die „Bekämpfung von Rassismus und Gewalt“, nicht mehr nur ein „nie wieder Krieg!“ (S. 314).

Die Debatten um fremdenfeindliche Anschläge, die beiden Golfkriege und eine mittlerweile intensivierte und vielfältige lokalhistorische Forschung zur NS-Zeit und zum Zweiten Weltkrieg in Hamburg führten Anfang der 1990er Jahre zu Korrekturen der Kriegsgeschichte in Gedenkreden, in der Presse, aber auch in Museen. Gleichzeitig aber hatte dies eine Entfremdung vieler Hamburger mit der aktuellen Erinnerungspolitik zur Folge, weil viele Zeitzeuginnen und -zeugen ihr eigenes Leiden relativiert und nicht angemessen gewürdigt sahen (S. 326). Dass der Luftkrieg auch als Voraussetzung für die Befreiung und den Neuanfang in Deutschland interpretiert werden kann (S. 352), wurde von den Zeitzeugen, die nicht nur ihr Hab und Gut, sondern nächste Angehörige verloren hatten, nur schwer akzeptiert: „Die Erinnerungskultur des Luftkriegs wurde für einige der Betroffenen also nicht zu einem Problem, weil sie den ,Feuersturm' verschwieg, sondern weil sie ,das Falsche' erzählte.“ (S. 408).

In dieser Zeit, so fasst Thießen zusammen, „entstanden mit der Verschärfung des Generationsgegensatzes neue Narrative wie die des ,Tabus' oder ,Traumas', mit denen das Opfergedenken legitimiert werden sollte“ (S. 348). Nur so erklärt es sich, dass 2003 und 2005, den ,Supergedenkjahren' dieses Jahrhunderts, die These von Trauma und Tabu als verkaufsförderndes Moment genutzt werden konnte, obwohl man sich gleichzeitig ungeniert aus älteren Materialien bediente (S. 407).

Mit der vorliegenden Arbeit hat Malte Thießen nicht nur eindrucksvoll die Vielfalt der Erinnerung an den Luftkrieg vor diesen ,Supergedenkjahren' entfaltet, sondern liefert gleichzeitig den besten Beweis für die Fruchtbarkeit eines lokalhistorischen Ansatzes. Gedenken bleibt immer an Gemeinschaften oder Räume gebunden, die auf lokaler Ebene am besten zu untersuchen sind (S. 461). Dass er dabei die überregionalen politischen und sozialen Einflüsse überaus kenntnisreich in die Interpretation einbezieht, trägt nicht zuletzt dazu bei, etwaige aus der nationalen Sicht resultierende Fehleinschätzungen zu korrigieren beziehungsweise das Bild zu vervollständigen. So kam es 1968 in Hamburg nicht zu einem großen Umbruch im öffentlichen Gedenken; das Epochenjahr, dessen Bedeutung für die politische Kultur der Bundesrepublik zur vierzigsten Wiederkehr in zahlreichen Publikationen ausgelotet worden ist, hatte kaum Auswirkungen auf die Formen und Inhalte der Erinnerung an den Luftkrieg (S. 250).

Weitere auf lokaler Ebene argumentierende Studien der Erinnerungskultur, die Thießen selbst anregt (S. 462) und sich an dem besprochenen Werk werden orientieren müssen, könnten zu ähnlichen Korrekturen führen und in einer anschließenden vergleichenden Perspektive unser Bild von der Erinnerung ergänzen. Letztlich können sie helfen, die Erinnerungskultur der Zukunft zu prägen und bewusster zu machen, wie eine Gesellschaft erinnern will oder sollte.

Christian Groh, Pforzheim

Fußnoten: