ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Katrin Greiser, Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 544 S., brosch., 49,00 €.

Die Todesmärsche aus Konzentrationslagern im Frühjahr 1945 sind erst im letzten Jahrzehnt stärker in den Blickpunkt der historischen Forschung gerückt. Nach einer Reihe von Aufsätzen, vornehmlich zu Auschwitz, Sachsenhausen und Ravensbrück, liegt nun mit der Arbeit von Katrin Greiser, einer an der Universität Lüneburg eingereichten Dissertation, erstmals eine umfassende Monografie vor. Unter „Buchenwald“ versteht die Verfasserin dabei nicht nur die Geschichte des Stammlagers, sondern auch der zahlreichen Außen- und Nebenlager. Damit gewinnt die Arbeit an repräsentativem Charakter, zumal Katrin Greiser immer wieder einen vergleichenden Blick auf die Todesmärsche aus anderen Konzentrationslagern wirft.

Die Arbeit folgt dem Gliederungsprinzip von Raul Hilberg: Zunächst werden die Motive und Handlungen der nationalsozialistischen Täter erörtert, dann folgt die Perspektive der Opfer und schließlich wird nach den Reaktionen der Zuschauer gefragt. Gestützt auf einen reichen Quellenkorpus, insbesondere auf Gerichtsakten aus deutschen und amerikanischen Archiven, auf Erinnerungen von Überlebenden der Todesmärsche, aber auch auf Überlieferungen in Stadtarchiven und in der Lokalpresse gelingt der Verfasserin eine eindringliche Darstellung. Erschöpfende Fußmärsche oder überlange Fahrtzeiten in Güterwaggons, unzureichende Verpflegung, Krankheiten sowie das Verhalten der Wachmannschaften, die angesichts der herannahenden US-amerikanischen Truppen nervös und sadistisch zugleich rasch mit der Waffe zur Hand waren, führten dazu, dass nur ein kleiner Teil der Häftlinge die ,Evakuierung' überlebte. Von der deutschen Zivilbevölkerung war kaum Hilfe zu erwarten. Einschüchterung durch die Wachmannschaften der Todesmärsche, vor allem aber Desinteresse am Schicksal der Häftlinge, bestimmten das Bild.

Unausweichlich ist die Frage nach dem „Warum“. Die Verfasserin identifiziert mehrere Gründe für die Todesmärsche. In der Führungsebene des ,Dritten Reichs' lancierte Himmler die Idee, die überlebenden Juden in Theresienstadt zu konzentrieren und als Geiseln für Friedensverhandlungen mit den Westalliierten zu nutzen. Dem stand der fatalistische Plan Hitlers gegenüber, in den bevorstehenden Untergang des ,Dritten Reichs' auch alle „Feinde“ des ,Dritten Reichs' hineinzuziehen. Aus der Sicht von Lagerkommandanten und SS wiederum schien eine Verschleierungstaktik angezeigt: Die KZ-Häftlinge sollten auf den Todesmärschen dezentralisiert ermordet und die Lager den Alliierten in ,geordnetem' Zustand übergeben werden. Dieser Plan konnte aber nicht die erhoffte Wirkung erzielen, denn gerade durch die Todesmärsche „öffnete sich die Lagerwelt weit in die deutsche Gesellschaft hinein“ (S. 136). Am plausibelsten ist es wohl, die Todesmärsche als Aufrechterhaltung des KZ-Systems zu begreifen. Befehlsgehorsam und Brutalität des KZ-Personals ließen sich nicht einfach unterbinden, auch nicht kurz vor Ende des Kriegs.

Die Todesmärsche waren aber nicht nur ein letzter unmenschlicher Akt des ,Dritten Reichs', sondern sie prägten in ihren Wirkungen auch die frühe Nachkriegszeit. Diesbezüglich spielten die amerikanischen Besatzer eine aktive Rolle. Sie veranlassten die örtliche deutsche Bevölkerung, die in Wäldern und Straßengräben oft nur notdürftig verscharrten Leichen zu exhumieren, trugen für eine ordentliche Bestattung Sorge, vor allem aber versuchten sie, die Verbrechen gerichtlich zu ahnden. Viele Prozesse endeten zwar mit eher milden Strafen, Begnadigungen oder Freisprüchen, doch die Verfasserin entgeht dem Reflex, ein pauschales Scheitern des amerikanischen War Crimes Program zu konstatieren. Vielmehr hebt sie als langfristig bedeutsam hervor, dass diese Gerichtsverfahren, die auch Zweifel und Eingaben der Verteidigung zuließen, ein Gegenbeispiel zur Willkürjustiz der NS-Zeit verkörperten und ein Stück demokratischer Rechtskultur vermittelten.

Dem Text beigegeben sind rund 60 Schwarz-Weiß-Fotografien. Nicht nur die Aufnahmen von Leichenfunden, sondern auch die von den Gräbern der Häftlinge stimmen nachdenklich. Welchen Eindruck musste es auf die Nachkriegsgesellschaft machen, wenn etwa im ländlichen Raum Bayerns immer wieder große Holzkreuze aus Feldern ragten oder wenn bei vielen Dörfern oder Kleinstädten Friedhöfe für die KZ-Häftlinge neu eingerichtet wurden? Der Verdrängungsprozess setzte bald ein. Spätestens zu Beginn der 1950er Jahre kam es zur Auflösung der Einzelgräber und kleinen Friedhöfe; die Leichname wurden in Gedenkstätten überführt.

In den analytischen Teilen der Arbeit zeigen sich leider einige Schwächen. Die Suche nach individuellen psychologischen Motiven von Tätern und Zuschauern gerät mitunter allzu spekulativ. Mehrmals sind Aussagen unausgewogen: So legt Katrin Greiser in der Einleitung nahe, dass in Bayern weit stärker als in Mitteldeutschland Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit ausblieb; im Haupttext allerdings setzt sich die Verfasserin auch kritisch mit der „Entkonkretisierung“ Buchenwalds und der „Entdifferenzierung“ der Opfer in der DDR auseinander. In der Zusammenfassung konstatiert sie, dass ein Teil der KZ-Häftlinge angesichts ihrer bevorstehenden ,Evakuierung' wohl zunächst erleichtert war; dagegen steht die ausführliche Beschreibung des Widerstands gegen die ,Evakuierung': Insbesondere die organisierten politischen Häftlinge ahnten die Todesgefahr, die unterwegs drohte, und versuchten stattdessen, so lange im Lager zu überleben, bis amerikanische Truppen sie befreiten. Wiederholt werden Personen und Ereignisse, aber auch Thesen der Forschungsliteratur recht unvermittelt eingeführt; vor allem die Darstellung der Räumung des Stammlagers Buchenwald zum Kriegsende hätte stringenter ausfallen können. Insgesamt wäre der Arbeit ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen.

Die kritischen Anmerkungen sollen aber die große Forschungsleistung nicht schmälern. Neben der ausführlichen Rekonstruktion der Todesmärsche überzeugt vor allem, wie die Verfasserin den „Spuren der Erinnerung“ folgt. Hier wird deutlich, mit welchem moralischen Gepäck die deutsche Gesellschaft in die Nachkriegszeit ging. Wer die Geschichte der frühen Bundesrepublik und DDR besser verstehen will, wird an der Arbeit von Katrin Greiser kaum vorbeikommen.

Stephanie Zloch, Hamburg


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