ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Reulecke/Barbara Stambolis (Hrsg.), 100 Jahre Jugendherbergen. 1909-2009. Anfänge - Wandlungen - Rück- und Ausblicke, Klartext Verlag, Essen 2009, 443 S., geb., 24,90 €.

Dass sich aus den vagen Plänen für die Schaffung von „Volksschülerherbergen“ binnen weniger Jahrzehnte ein umfassendes Netz von mehreren 100 Jugendherbergen und einem mitgliederstarken Dachverband entwickeln würde, war zunächst keineswegs absehbar. Im Gegenteil: Als Richard Schirrmann, der ,Vater' der Jugendherbergsidee, im Herbst 1909 begann, seine Vorstellungen von Nachtherbergen für wandernde Schülergruppen zu bewerben, hielt sich das Interesse durchaus in Grenzen. Geradezu abenteuerlich erschien das Ansinnen, dass Volksschullehrer ihre Schulhäuser in den Ferien als Nachtunterkunft zur Verfügung stellen könnten. Dabei störte sich die angesprochene Lehrerschaft allerdings weniger an der in der Idee von der „wandernden Schule“ transportierten Kritik an „verkopften“ und „stadtverkäfigten“ Lehranstalten, sondern sah sich durch die (vermeintliche) Degradierung zum „Herbergsvater“ um ihre Reputation gebracht.

Gleichwohl: Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz setzte sich die Idee von billigen und erreichbaren Herbergen für alle Schüler (also unabhängig von Schulstufe und Herkunft) unaufhaltsam durch. Bereits ein Jahr nachdem die erste deutsche Jugendherberge 1912 im sauerländischen Altena gegründet wurde, waren im Herbergsverzeichnis 174 Einrichtungen registriert und schon 1914 hatte sich diese Zahl verdreifacht. Offensichtlich erwies sich die von Schirrmann propagierte Idee, dass jeder größere Ort eine Jugendherberge haben müsste, als hoch anschlussfähig, sowohl für die auf die Jugend gerichteten Aufbruchs- und Erneuerungshoffnungen des frühen 20. Jahrhunderts als auch für die damit korrespondierenden volkspädagogischen und jugendpflegerischen Vorstellungen.

Insbesondere nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte die Jugendherbergsbewegung einen ungeheuren Zuwachs. Die Zahl der Jugendherbergen stieg rapide an und erreichte Mitte der 1920er Jahre mit mehr als 2.000 Einrichtungen einen vorläufigen Höhepunkt. Damit war man zwar noch weit entfernt von den Wunschvorstellungen Schirrmanns, dem ein Netz von nicht weniger als 10.000 Einrichtungen vorschwebte, hatte aber die Jugendherbergen tief in der expandierenden Jugendfreizeitkultur und wohl auch in den Lebenshorizonten vieler Jugendlicher verankert. Mehr als drei Millionen Übernachtungen zwischen 1919 und 1932 legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Im Reichsverband für deutsche Jugendherbergen waren zu diesem Zeitpunkt mehr als 250 Organisationen und Vereine aus dem gesamten Spektrum des Weimarer Vereins- und Verbandswesen organisiert, was ebenfalls für die Wirksamkeit der Jugendherbergsidee spricht.

All dies und vieles mehr erfährt man in dem von Jürgen Reulecke und Barbara Stambolis edierten Sammelband „100 Jahre Jugendherbergen“, der Anfänge und Wandlungen der Jugendherbergen und ihres Dachverbands historisch ausleuchtet. In mehr als 30 Artikeln skizzieren nicht weniger als 19 Autorinnen und Autoren - darunter Wissenschaftler ebenso wie (ehemalige) Funktionsträger des Deutschen Jugendherbergswerks - unterschiedliche Aspekte und Facetten der Jugendherbergsentwicklung in den vergangenen zehn Jahrzehnten. Die Beiträge orientieren sich dabei an einer chronologischen Struktur und schlagen einen Bogen von den Anfängen und der Expansion des Jugendherbergswesens in den 1910er und 1920er Jahren über den „Zugriff des NS-Regimes“ auf die Jugendherbergen bis zum Wiederaufbau in der Nachkriegszeit und den Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit. Ein eigenes Kapitel widmet sich den Erfahrungen und Erinnerungen (meist älterer) Zeitzeugen, wobei allerdings primär die Perspektive von ,offiziellen' Vertretern des Herbergswesens und (von einer Ausnahme abgesehen) weniger die der Gäste eingeholt wird. Ein abschließender Block versucht unter der Überschrift „Analysen, Pläne und Perspektiven“ den Blick auch auf die Gegenwart und (mögliche) Zukunft der ,Marke' Jugendherbergen zu lenken.

Der Charakter der Beiträge reicht von eher essayistisch-impressionistisch angelegten Skizzen und persönlichen (Erinnerungs-)Berichten bis zu quellennah argumentierenden ideen-, organisations- und sozialgeschichtlichen Beiträgen mit einer klaren Belegstruktur. Diese Mischung mag für ein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch eher ungewöhnlich erscheinen, tut allerdings dem Ertrag keinen Abbruch, zumal sich eine allzu große Nähe zum Gegenstand trotz des unverkennbaren Festschriftcharakters im Großen und Ganzen in Grenzen hält.

Insgesamt liegt der Ertrag des Bands vor allem in der Breite und unterschiedlichen Perspektivierung der Darstellung. Obwohl verständlicher Weise nicht alle denkbaren Aspekte abgedeckt werden können und eine historisch-kritische Gesamtdarstellung des Jugendherbergswesens nach wie vor aussteht, ist es den Herausgebern gelungen, einen fundierten Überblick zu geben und viele Facetten der Geschichte in ihrem jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext zu beleuchten. Deutlich wird dabei, wie eng das Jugendherbergswerk und seine führenden Protagonisten mit der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben waren und wie wenig sich die widersprüchliche Entwicklung letztlich auf einen Nenner bringen lässt. Einerseits tief verwurzelt im kultur- und modernitätskritischen, oft nationalistisch grundierten und autoritätshörigen Ideenhorizont des frühen 20. Jahrhunderts, zum Ausbau des Verbands immer auf die enge Kooperation mit der Obrigkeit und einflussreichen Förderern bedacht, war man - selbst als dies notwendig gewesen wäre - weit davon entfernt, den jeweils herrschenden „Zeitgeist“ (Reulecke, S. 95) in Frage zu stellen, ja beanspruchte sogar, wie Arno Klönne in seinem Beitrag mit Blick auf Schirrmann schreibt, „Vorarbeiter für die ,nationale Erhebung`“ des Jahres 1933 gewesen zu sein und scheute dabei auch die plakative Ablehnung des angeblich „Fremdvölkischen“ nicht (S. 359). Auf der anderen Seite war die Grundidee, den Zugang zu den Jugendherbergen für alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht zu ermöglichen, ebenso progressiv wie die Ansätze zur internationalen Zusammenarbeit und das nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Verständnis der Jugendherbergen als Orte internationaler Jugendbegegnung.

Wer sich also einen Überblick über die Geschichte der Jugendherbergen, ihrem gesellschaftspolitischen Kontext und nicht zuletzt ihren pädagogischen Leitideen verschaffen möchte, ist mit dem Band gut beraten. Hervorzuheben ist hierbei auch eine umfangreiche, wenn auch mehr illustrierende als erklärende Bebilderung.

Sven Steinacker, Wuppertal


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