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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Lars T. Lih, Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context (Historical Materialism, 9), Brill Academic Publishers, Leiden 2006, XX + 868 S., geb., 141,00 €.

In einem Artikel in der „Zeit“ vom 24. April 1964 über die neu erschienene Ausgabe von Lenins Werken (herausgegeben von Hermann Weber beim Kindler-Verlag in München) wurde beanstandet, dass dies die erste westdeutsche Veröffentlichung sei, da sich seit 1945 kein Verleger mehr an Lenins Material herangetraut habe. Die von Weber besorgte Ausgabe enthielt auch „Was tun?“, eine Schrift, die Lenin 1902 verfasst hat. Jahrzehnte später hat sich der kanadische Publizist und Journalist Lars T. Lih dieser Schrift angenommen und 2006 ein 888 Seiten starkes Buch im Brill-Verlag publiziert. Seit 2008 ist es auch als Paperback bei Haymarket Books erhältlich.

Die Aufgabe, die sich Lih mit seinem voluminösen Buch gestellt hat, ist es, Lenins „Was tun?“ aus dem Spiegel des historischen Kontexts zu betrachten. So erklärt er auch gleich am Anfang, dass es Lenin in diesem Werk nicht, so wie in der Literatur seit 1945 behauptet, nur um die Organisationsfrage der russischen Sozialdemokratie gehe, sondern, unter anderem, auch um den Aspekt der politischen Freiheit und der Nähe zur deutschen Sozialdemokratie.

Schon in der Einführung bemerkt der Autor, dass die von ihm sogenannte „textbook interpretation“ (also die Behandlung von Lenins Schrift als „Bibel“ der Organisationsfrage der russischen Sozialdemokratie) ein Resultat der Nachkriegszeit sei und seither immer propagiert wurde, was schließlich zu einer „Mythisierung“ des Buchs geführt habe. Dabei sei es aber sehr wichtig, die Schrift selbst anhand eines präzisen Kommentars zu lesen, welcher dem Kontext ihrer Entstehung gerecht werde. Dazu sind laut Lih folgende drei wichtigen Aspekte zu zählen: erstens die damalige politische Situation in Russland und die Wirkungsmöglichkeiten der (sozialdemokratischen) Opposition, zweitens die Debatten innerhalb der russischen Sozialdemokratie, insbesondere um den sogenannten Ökonomismus, und schließlich drittens die Kenntnis um die Geschichte und Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und deren Einfluss auf die russische Bewegung.

Lih gliedert sein Buch in zwei große Teile: Teil 1 ist der Kommentar von „Was tun?“ (668 Seiten) und Teil 2 die Übersetzung. Angesichts der Tatsache, dass diese Arbeit nicht finanziert wurde und Lih eigenständig die Übersetzung besorgte, ist dies als große Leistung zu werten. Allerdings ist hier zu bemängeln, dass der Autor in seinen Ausführungen nur auf die vorhandene englischsprachige Literatur zum Thema zurückgreift. Hätte er auch einen nur kurzen Blick beispielsweise in Dietrich Geyers Buch von 1962 über Lenin in der russischen Sozialdemokratie geworfen, wäre seine Behauptung, dass „Was tun?“ lediglich auf die Organisationsfrage reduziert worden sei, zum Teil schon widerlegt gewesen.

Es spricht aber für seine These, dass seine Argumente sowohl in einem 1932 erschienenen Buch über die russische Sozialdemokratie erwähnt werden als auch in einem publizierten Interview im Rahmen des Projekts zur Geschichte der Men_eviki von Leopold Haimson unter anderem mit Lydia Dan, die die Aufnahme von und die Diskussionen über Lenins Buch um 1902/3 beschreibt.

Lihs Kommentar ist in neun Kapiteln gegliedert; alle Kapitel haben im Anhang Dokumente oder Teile von Dokumenten, die im jeweiligen Kapitel diskutiert wurden oder dafür von Belang sind.

Es ist das erklärte Ziel des ersten Kapitels, den sozialdemokratischen Kontext für die Schrift „Was tun?“ zu erläutern, wobei Lih der Meinung ist, dass die von ihm präsentierte Sichtweise dem heutigen Publikum nicht mehr bekannt sei. Er bringt jedoch hier nichts Neues oder Besonderes in die allgemeine Forschungsdiskussion ein; sowohl in älterer Literatur (bis 1945) als auch teilweise in neueren Forschungen sind seine Argumente wiederzufinden. Der Autor findet indessen eine andere Lesart des Begriffs „Arbeiterbewegung“ bei Lenin, und zwar wäre damit nicht das Proletariat gemeint und auch nicht die Sozialdemokratie, sondern „the militant or fighting proletariat - the section of the proletariat animated by a spirit of organized resistance“ (S. 76).

Im zweiten Kapitel werden Lenins Schriften bis 1902 kommentiert, mit besonderem Augenmerk auf dessen Auffassung zur Organisation der russischen Sozialdemokratie und dem deutschen Modell. Dabei versucht Lih, aus dem Kontext damaliger Artikel heraus Denkweisen und Handlungsstränge herauszuarbeiten, ohne aber biografische Details über Lenin zu berücksichtigen. Dabei stellt er fest, dass „Was tun?“ selbst eigentlich mehr eine praktische Anweisung als ein programmatisches Werk sei, „since it deals with specific issues that occupied the forefront at a particular time“ (S. 151).

Das dritte Kapitel beschreibt die „Iskra“-Periode Lenins und dessen Faszination für das deutsche sozialdemokratische Modell - insbesondere dafür, wie die Sozialdemokratie in der Zeit ihrer Illegalität Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Exil zurechtkam und ihre Netzwerke und Verbindungskanäle aufrecht erhalten und sogar erweitern konnte. Darauf folgt eine Zusammenfassung der ersten drei Kapitel.

Das vierte Kapitel behandelt den sogenannten „Anti-Erfurtianismus“ innerhalb der russischen Sozialdemokratie sowie die maßgeblichen Publikationen der Zeit, die der „Iskra“ gegenüberstanden („Rabočee delo“, „Rabočaja Mysl“).

Das nächste Kapitel zeigt die Schwierigkeiten und Risse innerhalb der russischen Sozialdemokratie auf, mit besonderem Augenmerk auf die Spaltung zwischen der Gruppe um die „Iskra“ und den anderen Gruppen, vor allem im Hinblick auf die Opportunismus-Frage. Auch werden die verschiedenen Vermittlungs- und Versöhnungsversuche in der Zeit um 1901/2 dargestellt, um den Kontext von „Was tun?“ verständlicher zu machen. Der Autor geht dabei verstärkt auch auf das Konzept der „Spontaneität“ und dessen Begriffsgeschichte ein und argumentiert, dass dieses Konzept für Lenin gerade wegen der Auseinandersetzungen mit dem „Rabočee delo“ eine große Bedeutung gewonnen habe. Es ist Lihs Standpunkt, dass „Was tun?“ nur in Zusammenhang mit Lenins anderen Schriften und Artikeln betrachtet werden kann. So gewinnt die Information, dass laut dem „Rabočee delo“ die „Iskra“ nur sagt, was man nicht tun soll, einen ganz anderen Wert, wenn man bedenkt, dass Lenin in seiner Schrift die Antwort darauf zu geben versuchte, was getan werden sollte.

Auch das sechste Kapitel beschäftigt sich mit damaliger zeitgenössischer, wenn auch nicht so prominenter Kritik, die Lihs Ansicht nach dennoch für Inhalt und Erscheinen von „Was tun?“ von Bedeutung gewesen sein soll. Lih dokumentiert auch die Rolle von und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Parteigenossen.

Das nächste Kapitel präsentiert den Aufbau und den Inhalt der Schrift „Was tun?“, wobei Lih hier nicht auf die Größe der Bewegung oder auf die Möglichkeit der Erfüllung von Lenins Visionen eingeht, sondern alles allein aus Lenins Sicht diskutiert, was ihm gut gelingt. Sein Ziel ist es hier, die Kontinuität von Lenins Visionen aufzuzeigen, da „Was tun?“ keinen Bruch darstellt - wie es die „textbook interpretation“ sieht -, sondern lediglich eine Weiterführung schon vorhandener und bis dahin ausgearbeiteter Gedanken darstellt.

Das achte Kapitel handelt von der Problematik des Untergrunds und der damit verbundenen populären Lesart von „Was tun?“ als Fundament der sowjetischen Politik nach 1917. Lih steht dem kritisch gegenüber und argumentiert, dass Normen für die sozialdemokratische Organisationsform schon existiert hätten und von Lenin nur schriftlich festgehalten und nicht neu erzeugt worden seien. Ferner geht Lih auf einige problematische Aspekte ein, wie das Verhältnis von Arbeitern und Intelligenz in den Reihen der Partei und die „Originalbedeutung“ von Begriffen wie konspiratsija (Konspiration, von Lih aber eher als notwendige Geheimhaltung denn als Verschwörung verstanden) oder revoljutsjoner po profesij (Berufsrevolutionär), wobei er Letzteres eher als eine Metapher denn als ein Konzept versteht (S. 462f.). Auch weist er darauf hin, dass die von Lenin benutzten Wörter keineswegs neu waren, sondern auch von seinen Anhängern und Gegnern gebraucht worden und in Artikeln, die dem Buch vorher gehen, anzutreffen seien. Schließlich widmet Lih eine Passage dieses Kapitels der wichtigen Frage der politischen Freiheit in Zusammenhang mit Lenins Zielen und argumentiert, der eigentliche Mittelpunkt von Lenins Programm sei das Erreichen ebendieser gewesen: „As Lenin said it again and again, the most urgent priority in his political programme was achieving political freedom in Russia“ (S. 470). Dies war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass, wie es Lenin sah, die Sozialdemokratie selbst nur mithilfe politischer Freiheit überlebensfähig war, was zu der Zeit Konsens innerhalb der Sozialdemokratie war. Unter den Bedingungen in Russland, wie sie sich vor dem Erreichen dieser Freiheit darstellten, seien aber letztlich nur die Arbeit im Untergrund und daher keine Demokratie und keine Transparenz möglich gewesen (S. 473).

Im neunten und letzten Kapitel wird die Zeit nach dem II. Kongress der russischen Sozialdemokraten behandelt. Lih zeigt auf, dass die Schrift „Was tun?“ in dem Disput zwischen Men_eviki und Bol_eviki keine Rolle spielte, anders als später in der Forschung angenommen. So merkt er an, dass sogar in der Debatte zum III. Kongress der RSDAP Lenins Buch nicht erwähnt wurde. Es sei eher Lenins Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ von 1904, die die Gemüter erregt und Kritik auf sich gezogen habe. Erst spätere Kritik und die Interpretation der Schrift gaben ihr rückblickend ein größeres Gewicht, als sie es 1903 aus dem Augenblick heraus hatte.

Es folgen, in einer separaten Sektion („Section Analysis“), weitere Anmerkungen: erstens die Analyse verschiedener Begriffe wie Kritizismus, Agitation, Dogmatismus und deren Einbettung in den Gesamtkontext der Zeit sowie zweitens ein Kommentar der Passagen, die beim Erscheinen der Schrift die meisten Diskussionen auf sich gezogen haben. Diese Passagen (so zum Beispiel die Erklärung der „Spontaneität“ oder Lenins Kritik gegenüber seinen Gegnern im zweiten Kapitel von „Was tun?“) hatte Lih schon vorher im Verlauf seiner Darstellungen erwähnt, war aber nicht darauf eingegangen, da er die Meinung vertritt, dass diese zwar wichtig sind, aber vom Gesamtkontext und dessen Bedeutung ablenken würden. Schließlich endet das Buch, wie erwähnt, mit Lihs Übersetzung von „Was tun?“.

Lars T. Lih hat sich mit seinem voluminösen Buch die Aufgabe gestellt, der Entstehung und dem Kontext von Lenins Schrift gerecht zu werden und die gängige Meinung, darin gehe es nur um die Organisationsfrage in der russischen Sozialdemokratie, zu widerlegen. „Owing to the fatal fascination with `spontaneity vs. Consciousness', the creators of the textbook interpretation looked in the wrong places [...], at Tkachev, Chernyshevsky and Bakunin instead of Kautsky and Bebel, Lafargue and Guesde. They did not uncover the shared assumptions and the empirical clashes that inform Lenin's polemics with fellow Social Democrats. They did not look at the extensive range of Lenin's writings produced in the Iskra period“ (S. 555). Diese Unstimmigkeit versucht Lih durch sein Werk zu korrigieren, was ihm auch gelungen ist. Es ist sein Verdienst, auf die Mängel gängiger Interpretationen hingewiesen und Lenins Schrift in den Zusammenhang ihrer Zeit gestellt zu haben. Wie er selbst zugibt, hat er auch versucht, dem Leser etwas von der revolutionären Aufbruchsstimmung der Zeit mitzugeben. Zwar sind einige von Lihs Argumenten nicht unbedingt neu, aber die Art und Weise, wie er sie präsentiert und kontextualisiert, ist das Neue - außerdem lässt sich sein Buch leicht und angenehm lesen.

Laura Polexe, Basel


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